Anna Kündig* war konsterniert, als sie das Schreiben der Pädagogischen
Hochschule Zürich (PHZH) durchlas. Die junge Frau hatte sich dort für ein
Studium angemeldet. Doch die Verantwortlichen schrieben ihr, es brauche noch
weitere Abklärungen zur Beurteilung ihrer gesundheitlichen Eignung als
Lehrerin. Erst danach könne über eine Aufnahme entschieden werden.
An der PHZH werden die Studenten genau unter die Lupe genommen, Bild: Karin Hofen
Striptease für die Lehrerkarriere, NZZ, 3.10. von Fabian Baumgartner
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Wer in Zürich die Lehrerausbildung beginnen will, muss einige sehr
intime Details über sein Leben und seine Gesundheit preisgeben. Neben
fachlichen Voraussetzungen und einer persönlichen Standortbestimmung verlangt
die PHZH nämlich auch ein ärztliches Zeugnis und einen Strafregisterauszug von
den angehenden Studenten. In dem Attest müssen die Kandidaten von ihrem
Hausarzt neben Fragen zu Gewicht, Grösse und Blutdruck auch solche zu
psychotherapeutischen Behandlungen, Problemen mit Suchtmitteln oder
Sprachstörungen beantworten lassen. Damit will die Hochschule die Eignung für
den Lehrberuf frühzeitig abklären.
«Absurdes Prozedere»
Während des Gesprächs einige Wochen später erklärte die
PHZH-Vertrauensärztin der verdutzten Anna Kündig, weshalb man aufgrund des
Arztzeugnisses Zweifel an ihrer Befähigung für den Lehrerberuf hegte. Sie habe
in den letzten fünf Jahren psychologische Beratung in Anspruch genommen,
ausserdem liege ihr Body-Mass-Index unter dem geforderten Grenzwert von 17,5,
beschied ihr die Frau. Kündig musste deshalb einen mehrseitigen Fragenkatalog
ausfüllen. Sie hatte anzukreuzen, inwiefern insgesamt 140 Aussagen zutreffen,
die wie folgt formuliert waren: «Wer mir schaden will, muss mit meiner
Vergeltung rechnen», «Es gibt übernatürliche Kräfte» oder «In der Partnerschaft
habe ich oft grosse Angst, verlassen zu werden». «Ich empfand das ganze
Prozedere als absurd und schikanös», sagt Kündig. Die Überprüfung hält sie
überdies für wenig aussagekräftig. «Ich bin körperlich und psychisch gesund,
mein Gewicht ist seit Jahren konstant.»
Eine Abweichung vom Normalgewicht sei kein Ausschlusskriterium, betont PHZH-Rektor Heinz Rhyn. «Sie kann aber ein
Hinweis auf Essstörungen oder andere psychische oder somatische Erkrankungen
sein.» Dies müsse durch die Vertrauensärztin genauer abgeklärt werden. Es gebe
auch keine allgemeinen Ausschlusskriterien für die Lehrerausbildung. «Die
gesundheitliche Eignung wird immer individuell aufgrund des eingereichten
Arztzeugnisses abgeklärt.»
Rhyn erklärt die Notwendigkeit des ärztlichen Zeugnisses mit der
physischen und der psychischen Belastbarkeit, die der Lehrberuf voraussetze.
Zudem sei die PHZH gesetzlich verpflichtet, den Leumund sowie die persönliche
und die gesundheitliche Eignung zu überprüfen.
Der Strafregisterauszug dient laut Rhyn in erster Linie dem Schutz der
zukünftigen Schüler. «Es geht aber auch um die Vorbildfunktion der angehenden
Lehrpersonen.» Letztlich entscheidet in diesem Fall die Aufnahmekommission, ob
die Zulassung zum Studium verantwortbar ist. Die Hochschule hat die Praxis im
letzten Jahr noch einmal verschärft. Seitdem wird auch bei
Personen, die bereits in einem anderen Kanton ein Lehrerpatent erworben haben,
der Leumund überprüft. Hintergrund ist ein Vorfall aus dem Jahr 2014, bei dem
ein Lehrerpraktikant, der an der PHZH in Ausbildung war, Mädchen beim Umziehen
filmte.
Ein einziger Fall in fünf Jahren
Die Zahl der Studenten, die für zusätzliche Abklärungen zu einem
Gespräch mit der Vertrauensärztin der Hochschule aufgeboten werden, schwankt
von Jahr zu Jahr. Es seien zwischen 35 und 60 Personen, heisst es bei der PHZH.
Dies bei rund 900 geprüften Dossiers. Eine einzige Person wurde in den letzten
fünf Jahren aus gesundheitlichen Gründen nicht zugelassen, einer weiteren
wurden Auflagen gemacht. Mehrere Kandidaten zogen zudem ihre Anmeldung nach den
Abklärungen durch die Vertrauensärztin wieder zurück. Das geschah auch bei
mehreren Interessenten, die straffällig geworden waren.
Nicht alle gehen jedoch gleich rigide vor. Die Pädagogische Hochschule
Graubünden (PHGR) etwa verzichtet sowohl auf den Strafregisterauszug als auch
auf ein ärztliches Zeugnis. Eine medizinische Überprüfung sei nie zur Debatte
gestanden, sagt Rektor Gian-Paolo Curcio. Zudem fehle eine entsprechende
gesetzliche Grundlage im Kanton Graubünden. Eine Leumund-Abklärung habe man
wieder verworfen. «Wir sind eine ausbildende Institution und keine anstellende.»
Der administrative Aufwand, der bei einer solchen Überprüfung entstehe, sei
immens. Zudem stelle man die Studenten damit unter Generalverdacht. «Damit
würde die PHGR über das Ziel hinausschiessen», findet Curcio. Es könne ja auch
sein, dass jemand während des Studiums krank oder straffällig werde. In diesen
Fällen sei eine Kontrolle mit den erwähnten Massnahmen ohnehin nicht
sichergestellt.
Curcio hält deshalb die Standortgespräche, welche die Hochschule im
zweiten Semester mit jedem Studenten führt, sowie die begleiteten Praktika ab
Beginn des Studiums für sinnvoller. «Da kommen wir relativ nahe an die
Studenten heran und können in vielen Fällen herausfinden, ob jemand Probleme
hat.»
Einen Mittelweg beschreitet die Pädagogische Hochschule der Fachhochschule
Nordwestschweiz (FHNW). Das Institut verzichtet laut Sprecher Michael Hunziker
auf eine gesundheitliche Überprüfung, verlangt aber einen Strafregisterauszug.
Dieser wird nach der Immatrikulation jedoch wieder gelöscht. «Wir verweigern
den Zugang zu einem Studium im pädagogischen Bereich jedoch nur dann, wenn das
Delikt mit der Schule beziehungsweise mit dem späteren Berufsfeld zu tun
hatte.» Dann also, wenn der Täter für Kinder und Jugendliche eine potenzielle
Gefahr darstellt, er den Studienbetrieb stören oder dem Ansehen des
Lehrerberufs oder der Schule schaden könnte.
Ein Restrisiko bleibt
Einen Strafregisterauszug zu verlangen, hält auch
Beat W. Zemp, Präsident des Dachverbands Lehrerinnen und Lehrer Schweiz, für
richtig. Angesichts mehrerer Vorfälle mit pädophilen Lehrkräften in der
Vergangenheit sei die Gesellschaft für die Thematik sensibilisiert. «Die
Schulen sind deshalb heute verpflichtet, für die grösstmögliche Sicherheit zu
sorgen.» Auch wenn ein Restrisiko natürlich bleibe. Es sei richtig, dass man
keine Lehrpersonen mit pädophilen oder anderen problematischen Neigungen
ausbilden solle. «Lehrpersonen stehen im Schaufenster. Höhere Hürden in Bezug
auf einen tadellosen Umgang mit Kindern und Jugendlichen sind daher notwendig»,
findet Zemp. Den Nutzen eines ärztlichen Zeugnisses bezweifelt er dagegen:
«Angesichts der ‹Erfolgsquote› und der Datenschutzproblematik fragt sich, ob
dieser Aufwand gerechtfertigt ist.»
Zwei Wochen nach dem ersten Gespräch musste Anna Kündig nochmals bei der
Ärztin antraben. Die Auswertung des Fragebogens habe ergeben, dass man sie doch
zum Studium zulassen könne, beschied ihr die Frau. Zudem hatte ein Anruf bei Kündigs
Hausärztin ergeben, dass ihre Angaben zutrafen. Kündig sagt: «Nach dem ganzen
Ärger ist mir doch ein Stein vom Herzen gefallen.»
* Name der Redaktion bekannt.
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