18. August 2016

Integrative Förderung verschluckt Legasthenietherapeuten

Das Wichtigste ist, dass Kinder gerne schreiben. Doch die Rechtschreibregeln muss man dennoch beherrschen, sonst wirds im Alltag schwierig.
Monika Brunsting ist Mitglied des Vorstandes im Verband Dyslexie Schweiz, Bild: Alex Spichale
"Rechtschreibung ist im digitalen Zeitalter wichtig", bz Basel, 10.8. von Sabine Kuster
Ob nun schlechter als die Nachbarn oder nicht. Viele Kinder in der Schweiz fallen auch ohne Vergleichs-Test wegen ihrer vielen Fehler beim Schreiben auf und müssen gefördert werden.
Doch Monika Brunsting vom Verband Dyslexie Schweiz sagt: «In vielen Kantonen sind die finanziellen und personellen Ressourcen zur Förderung von Kindern mit Dyslexie heute nicht mehr vorhanden.» Die integrative Schulung verschlucke sozusagen die Förderlehrpersonen: Die früheren Legasthenietherapeuten wurden zu allgemein tätigen Heilpädagogen weitergebildet.
Die Legastheniker ihrerseits werden in den meisten Kantonen im Rahmen der integrativen Förderung aufgefangen. So will es das neue Schulmodell. Von zehn angefragten Deutschschweizer Kantonen haben bis auf den Kanton Aargau alle die Förderung von Rechtschreibschwäche hauptsächlich in den regulären Schulunterricht integriert. An manchen Orten wie in den Kantonen St.  Gallen, Baselland oder Basel-Stadt kann der Förderunterricht auch flexibel ausserhalb der Regelklasse stattfinden.
Im Kanton Graubünden wird die Rechtschreibschwäche gar nicht mehr standardmässig abgeklärt, sondern nur noch bei Unsicherheiten, wie Georges Steffen, Leiter des Schulpsychologischen Dienstes Graubünden, erklärt. «Wichtig ist, dass die Kinder einen individuellen Förderplan erhalten», sagt Steffen, «dass die Förderung in einer Einzelstunde pro Woche wirksamer ist als eingebettet im Unterricht, ist nicht bewiesen.»
Expertin Monika Brunsting hingegen ist eine Verfechterin der Einzeltherapie. Sie sagt: «Gezielte Förderung ist innerhalb einer Klasse nicht möglich. Die Politiker sollten mal in so einer Klasse sitzen und sehen, wie turbulent es zu- und hergeht, wenn jeder Schüler etwas anderes macht. Das ist ein Problem, weil viele der Schüler auch Aufmerksamkeitsprobleme haben.» Diese Diskussion läuft, seit ab der Jahrtausendwende in den Schweizer Schulen kontinuierlich auf integrativen Unterricht umgestellt wurde.
Meist wird der Begriff Legasthenie oder Dyslexie nicht mehr separat aufgeführt. Vielerorts findet immerhin die Logopädietherapie noch separat statt. Dort werden primär Kinder mit Spracherwerbsstörungen gefördert, aber auch Legastheniker finden heute dort manchmal Unterschlupf. Im Kanton Aargau findet unter dem Gesamtbegriff Sprachheilunterricht immer noch Legasthenie-Einzeltherapie statt.

Regeln besser erklären

Monika Brunsting gibt zu Bedenken: «Rechtschreibung ist im digitalen Zeitalter wichtig: Wenn man eine Fahrkarte am Automaten lösen will, muss der Zielort genau eingetippt werden.» Zum Glück seien die Rechtschreibregeln in den neuen Lehrbüchern wieder drin. Aber noch nicht alle Lehrpersonen würden sich genug damit befassen. «In vielen Schulzimmern findet kein strukturierter Rechtschreibunterricht statt», ist Brunsting überzeugt. Es fehlt also gerade das, was den schwachen Schülern nützen würde: Regeln, an denen sie sich orientieren können.
Für die Schüler mit einer Rechtschreibschwäche muss mehr gemacht werden. Das findet auch Afra Sturm, Professorin für Deutschdidaktik an der Fachhochschule Nordwestschweiz in Windisch. «Den schwachen Schülern müssten die Rechtschreibregeln genauer erklärt werden», sagt sie. Man verlasse sich zu sehr darauf, dass sie sich wie die starken Schüler die Wortschreibung einfach merken könnten.
Ein generelles Problem für alle Schüler sieht sie bezüglich Rechtschreibung in der Schweiz jedoch nicht. Es sei gut, dass die Primarlehrer zur Rechtschreibung ein entspannteres Verhältnis hätten. Erst wenn die Schüler alle Laute schreiben können, werden die Rechtschreibregeln eingeführt. «In Deutschland werden Doppelkonsonanten in der 2. Klasse eingeführt, in der Schweiz erst in der 4. Klasse. Das macht durchaus Sinn, denn viele Kinder sind in der 2. Klasse mit ihrer Entwicklung noch gar nicht so weit, dass die Regeln etwas bringen», sagt Sturm.
Sie findet es wichtig, dass der Schreibmotivation grosse Bedeutung beigemessen wird und die schwachen Schreiber nicht in den ersten Jahren schon vergrault werden. «Das Wichtige an einem Text ist die Botschaft. Rechtschreibung muss man gut können, damit man beim Schreiben nicht darüber nachdenken muss, sondern sich auf den Inhalt und Aufbau fokussieren kann.»


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