Maya Mulle
ist Schulmediatorin. Sie kommt ins Spiel, wenn Konflikte zwischen Eltern und
Lehrern aus dem Ruder laufen. Im Gespräch zeigt sie jedoch auch das heikle
Verhalten einiger Eltern auf.
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Im Schulalltag kommt es oft zu einem Gezerre zwischen Eltern und Lehrer, Bild: iStockphoto
Lehrer, die sich schnell angegriffen fühlen, Migros Magazin, 8.8. von Monica Müller
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Maya Mulle, manche Eltern würden Sie gern zum Mond schicken. Welche?
Eltern, die nicht gesprächsbereit sind.
Eltern, die klare Vorstellungen davon haben, was die Schule leisten müsste –
und sich immer wieder darüber beklagen, was die Schule aus ihrer Sicht falsch
macht. Eltern, die nicht bereit sind, von ihrem alten Schulbild abzurücken.
Leute, die nicht schauen, wie die Schule heute ist und darin auch das Positive
sehen.
Sprechen Sie von überengagierten Eltern mit hoher Bildung?
Nein, von Eltern aus allen Schichten.
Das können wohlhabende Eltern mit sehr hohen Erwartungen sein, die viel an die
Schule delegieren. Aber auch Migranten, die kaum Kontakt mit der Schule
pflegen.
Verklären Eltern die Schule von damals und glauben: Früher war alles besser?
Es geht vor allem um die Erfahrungen
der Mütter und Väter. Vielleicht hatten sie eine Lehrperson, die sie toll
fanden, und nun wünschen sie sich genau so jemanden für ihr Kind. Oder die
Lehrerin oder der Lehrer ihres Kindes erinnert sie an jemanden aus ihrer
Schulzeit, den sie schwierig fanden. Ich begegne immer wieder Eltern, die einst
in der Schule blossgestellt oder gemobbt wurden und dies ihrem Kind ersparen
möchten.
Haben Sie selbst solches erlebt?
Ich erinnere mich an markige Sprüche
meines Mathematiklehrers wie etwa: «Die einen haben es im Kopf, die anderen in
den Beinen und Sie vielleicht nirgendwo.» Manche Kinder hatten andere Talente
und steckten solche Kommentare weg, andere erlebten Ähnliches in mehreren Fächern
und litten darunter.
Man empfahl mir als Mutter bei der Einschulung: Machen Sie Ihre Probleme
nicht zu den Problemen Ihres Kindes. Ein guter Tipp?
Absolut. Für mich heisst das, dass
Eltern einen Schritt zurückgehen und sich fragen können: Was sind meine Ängste,
was hat mich in meiner Schulzeit verletzt, was hat mich gestärkt? Und dann
sollten sie sich überlegen: Was braucht mein Kind, was brauchen meine Kinder?
Denn jedes Kind braucht etwas anderes. Das erfordert eine gute
Reflexionsfähigkeit der Eltern.
Und doch ist es nachvollziehbar, dass Eltern ihren Kindern schmerzhafte
Erfahrungen ersparen möchten. Wie sollten Eltern agieren?
Schwierige Situationen gehören zum
Leben. Kinder sollten schon früh lernen, dass es Stolpersteine gibt und dass
die Eltern sie bei der Lösung der Probleme begleiten. Das kann schon beim
Übertritt vom Kindergarten in die 1. Klasse geschehen. Für Kinder ist es
schmerzlich, wenn sie nicht in die gleiche Klasse eingeteilt werden wie ihre
Freundinnen und Freunde. Sie müssen Abschied nehmen, sich allein in der neuen
Gruppe behaupten. Dabei ist die verständnisvolle und motivierende Begleitung
der Eltern hilfreich. Räumen Eltern ihrem Kind alle Hindernisse aus dem Weg und
steht dieses dann mit 18 erstmals allein vor einem Problem, fehlen ihm
Lösungsansätze.
Bei welchen Konflikten zwischen Eltern und Schule werden Sie beigezogen?
Wenn ein Konflikt eskaliert ist und die
Fronten verhärtet sind. Vielfach geht es darum, dass Eltern glauben, ihre
Kinder würden unfair behandelt. Sie werden hellhörig und deuten alles, was die
Kinder zu Hause erzählen, entsprechend. In solchen Situationen haben Eltern
Mühe, die Lehrerin oder den Lehrer als Respektsperson zu akzeptieren.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Eine Gruppe von Müttern beobachtete,
wie ein Lehrer ein Kind während eines Spiels zurechtwies und das Kind zu weinen
begann. Etwas später erfuhren die Mütter, dass ihre Kinder der Klasse dieses
Lehrers zugeteilt worden waren. Sie wollten dies auf alle Fälle verhindern. Die
Vorgeschichte war ihnen nicht bekannt, und sie wussten auch nicht, ob der
Vorfall aufgearbeitet worden war. Der Austausch mit dem Lehrer gab den Müttern
dann das Vertrauen zurück.
Wie gehen Sie in solchen Fällen vor?
Ich führe Einzelgespräche: mit der
Lehrperson, den Eltern und wenn möglich auch mit dem Kind. In diesen
vertraulichen Gesprächen mache ich mir ein Bild der Situation aus Sicht der
jeweiligen Person. Ich weiss dann von allen, welches Ziel sie im gemeinsamen
Gespräch verfolgen und sorge dafür, dass alle ihre Anliegen äussern können. Im
Einzelgespräch ermuntere ich dazu, Erfahrungen und Befürchtungen anzusprechen
und nicht bloss Forderungen zu formulieren.
Verhaltensänderungen brauchen viel Zeit.
Wie erfolgreich verlaufen die Gespräche?
Oft erfolgreich, aber nicht immer. Manchmal
habe ich den Eindruck, dass beide Seiten die gemeinsam getroffenen Lösungen
umsetzen können. Verhaltensänderungen brauchen aber viel Zeit. Gerade in
Stresssituationen fallen wir in alte Muster zurück. Meine Tochter sagte mir
einmal, ich solle mich einfach aus der Sache raushalten, sie würde selbst mit
der Lehrperson gut zurechtkommen. Überhaupt finde ich es hilfreich, wenn die
Kinder auch angehört werden und die Eltern die Situation aus der Sicht des
Kindes beschrieben bekommen. Fragen wie «Was wünscht du dir von deinen Eltern?»
oder «Was könnte dazu beitragen, dass du dich besser konzentrieren kannst?»
können zu guten Lösungen führen.
Sind die Lehrpersonen zu wenig sensibel oder die Eltern zu fordernd?
Lehrpersonen mangelt es manchmal an der
nötigen Sensibilität, und sie fühlen sich schnell angegriffen. Oft drücken sich
die Eltern auch ungeschickt aus. Würden sie von ihren Ängsten, Sorgen und
Wahrnehmungen sprechen und diese einfach in den Raum stellen, könnten sie den
Ball der Lehrperson zuspielen – ein Dialog könnte entstehen. Stattdessen
erheben viele Eltern Vorwürfe und stellen Forderungen. Das wiederum macht es
schwierig für die Lehrer, sich auf eine Diskussion einzulassen. Manche
Lehrpersonen sind sich auch nicht bewusst, wie sie wirken.
Wirklich? Das weiss doch meist das ganze Quartier …
Diese Zuschreibungen, die im Quartier
oder Dorf über Lehrer kursieren, sind problematisch. Oft sind Eltern gegenüber
gewissen Lehrern negativ eingestellt, obwohl sie diesen noch nie begegnet sind.
Dasselbe gilt auch umgekehrt. Hatten Lehrpersonen bereits ein schwieriges Kind
aus einer bestimmten Familie, sind sie dem Bruder oder der Schwester gegenüber
auch voreingenommen.
Fällt die Lehrerin oder die Schulpflege unliebsame Entscheide, empfinden
Eltern oft ein Gefühl der Machtlosigkeit.
Da muss die Schule noch viel
dazulernen. Vielen Lehrerinnen und Lehrern ist nicht bewusst, dass etwas, das
schriftlich formuliert noch so korrekt sein kann, die Eltern emotional nicht
abholt, sondern ganz viel Frust auslöst. Dann braucht es nur noch ein, zwei
Mütter oder Väter, die negativ darauf reagieren und mit anderen Eltern
diskutieren – und schon wird eine Negativspirale in Gang gesetzt.
Was Eltern emotional nicht abholt, löst ganz viel Frust aus.
… die dann wiederum das Bild der «schwierigen Eltern» zementiert.
Dass Lehrer Eltern oft als schwierig
wahrnehmen, hat auch mit den unterschiedlichen elterlichen Erwartungen an
Schule und Bildung zu tun. Die einen möchten, dass ihre Kinder möglichst lange
Kind sein können – ohne Leistungs- oder Notendruck. Den anderen ist es
wichtig, dass ihre Kinder gefordert und gefördert werden und ins Gymnasium
kommen. In anderen Kulturen wiederum hat Selbständigkeit keinen Wert. Eine
Lehrperson kann nie allen Erwartungen für alle 24 Kinder in einer Klasse
gerecht werden.
Lehrer beobachten, dass Eltern anspruchsvoller geworden sind. Worauf
führen Sie das zurück?
Die wirtschaftliche Lage verängstigt
Eltern, der Arbeitsmarkt ist hart geworden. Eltern möchten ihre Kinder
möglichst früh wappnen, damit sie ihren Lebensstandard halten können. Auch
negative Medienberichte über die Schule sorgen für Verunsicherung. Und mit
düsteren Szenarien zum Lehrplan 21 schüren Politiker die Ängste der Eltern.
Gegner kritisieren, dass die Vermittlung von Wissen durch den Lehrplan
21 in den Hintergrund rückt.
Viele Eltern können sich nicht
vorstellen, was es bedeutet, wenn Kompetenzen stärker gewichtet werden. Sie
befürchten, dass Wissen verloren geht. Das verunsichert. Doch ohne Wissen gibt
es keine Kompetenzen. Ich denke, unter dem Strich ist der Inhalt des Lehrplans
21 weniger wichtig als die Beziehung, die ein Kind mit seiner Lehrperson hat.
Ob diese gut ist, hängt auch stark davon ab, wie die Eltern zu Hause über
Schule und Lehrer sprechen. Horchen die Eltern bloss bei Negativem auf, hören
die Kinder die Unzufriedenheit aus der Reaktion heraus und bekommen Mühe, sich
auf die Lehrperson und das Lernen einzulassen.
Welche Tipps geben Sie Eltern mit für den Schulstart?
Eltern sollten offen sein für das, was
kommt. Es ist wichtig, dass sie ihrem Kind die Möglichkeit geben, selbst
Erfahrungen zu machen. Ein Vater kann den Schulweg unzumutbar finden, eine
Mutter den Pausenplatz zu gross, beide mögen denken, das kann nicht gut kommen,
wenn mein Kind mit diesem oder jenem Kameraden in die Klasse kommt. Dennoch
sollten sie dem Kind eine positive Grundhaltung mit auf den Weg geben: Es ist
ein Start, es beginnt etwas Neues – wir schaffen das gemeinsam.
Maya Mulle (63) ist Organisationsberaterin, Mediatorin und leitet die Fachstelle Elternmitwirkung seit 17 Jahren
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