Die Sonderschulen im Kanton Bern sind voll. Weil Eltern keinen geeigneten Platz finden, müssen Kinder zu Hause bleiben. Denn auch in der normalen Schule sind manche nicht willkommen.
Platznot in Sonderschulen - einzelne Kinder haben Zwangsferien, Berner Zeitung, 12.7. von Marius Aschwanden
Wie jeder 11-Jährige im
Kanton Bern müsste auch dieser Junge * zur Schule gehen. Aber er darf nicht.
Kurz vor den Herbstferien 2015 kam der Bescheid der Schulleitung. Er störe den
Unterricht, sei aggressiv, könne sich nicht konzentrieren, benötige Hilfe.
In
der normalen Schule jedenfalls könne das Kind nicht mehr bleiben, hiess es.
Eine Kleinklasse aber gibt es nicht. Also empfiehlt die Schulleitung eine
Sonderschule. Damals wussten die Eltern noch nicht, was für eine Odyssee ihnen
bevorstand.
«Dass
unser Sohn speziell ist, haben wir schon früh bemerkt. Bereits im Kindergarten
fiel er das erste Mal auf», sagt die Mutter. Trotzdem wurde er eingeschult,
erhielt Unterstützungslektionen. «Das ging bis in die dritte Klasse
einigermassen gut.»
Damals
aber kam der Junge zu einer neuen Lehrerin. Er gewöhnte sich nicht an die
Umstellung, die Noten wurden noch schlechter, er wurde gemobbt. Die Folge war
ein Teufelskreis – er verhielt sich noch auffälliger. Schliesslich zieht die
Schulleitung die Notbremse: Der 11-Jährige wird ausgeschult.
Die Eltern sind verantwortlich
Eine
Abklärung bei der kantonalen Erziehungsberatung ergibt die Diagnose ADHS. Der
Junge kann sich nicht konzentrieren und ist hyperaktiv. Damit hat er Anrecht
auf sonderpädagogische Unterstützung.
Für
die Eltern ist die Sache aber nicht ausgestanden. Was danach folgt, beleuchtet
einen Schandfleck der Berner Bildungs- und Gesundheitspolitik: Wegen der
fehlenden Sonderschulstrategie (siehe Kasten) fallen ausgeschulte Kinder aus
dem Schulsystem. Trotz Schulpflicht ist für sie nicht der Kanton zuständig,
sondern die Eltern.
Die
Mutter und der Vater klappern Privat- und Sonderschulen ab, um einen Platz für
ihren Sohn zu finden. Ohne Erfolg, denn es gibt keine Aufnahmepflicht. Der
Junge muss nach einer dreimonatigen Übergangslösung vorerst daheim bleiben.
«Seit
der Auflösung vieler Kleinklassen gibts für Kinder wie unseren Sohn innerhalb
der normalen Schule keine passende Lösung mehr, und die Sonderschulen sind
überfüllt. So etwas darf doch in der heutigen Zeit nicht sein», sagt der Vater.
Immer mehr Sonderschüler
Der
Junge ist im Kanton Bern kein Einzelfall. Erziehungsdirektor Bernhard Pulver
(Grüne) geht von «einigen Dutzend» Schülern aus, bei welchen die Suche nach
einem Sonderschulplatz erhebliche Probleme bereitet (siehe Interview).
Neben
der fehlenden Sonderschulstrategie gibt es einen weiteren Grund für die
unhaltbare Situation. Experten orten diesen bei der verfassungsmässig
geforderten Integration.
Seit
2008 werden im Kanton Bern lernschwache oder verhaltensauffällige Schüler
möglichst in der Regelschule unterrichtet. Seither hat die Anzahl Kleinklassen
von 411 auf 150 abgenommen. Gleichzeitig aber nahm die Anzahl Sonderschüler um
über die Hälfte zu – von 1533 auf 2475.
Immer
mehr solcher Schüler werden zwar in die Regelschule integriert. Doch parallel
dazu ist auch die Anzahl Kinder in Sonderschulen gestiegen. Besonders markant
war die Zunahme zu Beginn der Integration, seither hat sich diese etwas
abgeschwächt. Besuchten 2008 demnach 1533 Kinder eine Sonderschule, so sind es
heute 2073.
Die
Folge: volle Schulen, Kinder, die zeitweise nicht gefördert werden, und eine
Kostenexplosion. Alleine in den letzten fünf Jahren sind die Ausgaben des
Kantons für Sonderschüler um 20 Prozent gestiegen – auf 110 Millionen Franken.
Mit 45 000 Franken pro Jahr kostet ein solcher dreimal so viel wie ein Kind in
einer normalen Klasse. Die gleichen Entwicklungen lassen sich auch in anderen
Kantonen beobachten.
«Ressourcen fehlen»
Alfred
Steinmann erstaunt das nicht. «Mit der Reduktion der Anzahl Kleinklassen ist
ein Auffangbecken weggefallen», sagt der SP-Stadtrat von Biel und Heilpädagoge.
Die Integration von lernschwachen oder verhaltensauffälligen Schülern bedeute
für die Lehrer trotz Stützunterricht eine grosse Belastung und viel
zusätzlichen Aufwand.
«Kommt
dann noch eine grosse Klasse dazu, stossen die Lehrer an ihre Grenzen.
Entsprechend werden Kinder heute schneller ausgeschult als früher», sagt
Steinmann. Dies führe dazu, dass in den Sonderschulen auch vermehrt Kinder
untergebracht seien, die eigentlich in einer Kleinklasse genauso gut aufgehoben
wären – etwa solche mit ADHS oder dem Asperger-Syndrom.
Berufsverband unzufrieden
Steinmann
stellt die Integration aber nicht grundsätzlich infrage. «Damit die Lehrer
jedoch den Kindern gerecht werden können, braucht es genügend Ressourcen.»
Insbesondere in kulturell sehr heterogenen Städten wie Biel würden aber vom
Kanton zu wenig Lektionen für Förderunterricht zur Verfügung stehen. Es
benötige mindestens 10 Prozent mehr. So sei es zwar theoretisch möglich, neue
Kleinklassen zu eröffnen. «In der Realität reicht das Geld aber nicht aus»,
sagt Steinmann.
Wie
eine Umfrage unter Lehrern und Schulleitern zeigt, ist der Heilpädagoge mit
seiner Ansicht nicht alleine. Auch der Berufsverband Bildung Bern spricht sich
für mehr Ressourcen aus. «Das Betreuungsverhältnis stimmt heute hinten und
vorne nicht», sagt Franziska Schwab, Leiterin Pädagogik.
Darunter
leiden würden sowohl die integrierten Kinder als auch der Rest der Klasse. «Wir
können nicht gleichzeitig jeden Schüler individuell fördern und einzelne Kinder
integrieren.»
Entsprechend
gebe es Kinder, die zwischen Stuhl und Bank fallen, wenn keine Kleinklasse mehr
angeboten werde. Eine mögliche Lösung für das Problem wären für Schwab
Lehrerteams. «So könnte man dem einzelnen Schüler eher gerecht werden. Aber das
kostet jedenfalls am Anfang wiederum mehr.»
Doch noch fündig geworden
Wenigstens
im Falle des 11-jährigen Jungen können die Eltern mittlerweile aufatmen. Die
Suche dauerte zwar mehrere Monate, jetzt haben sie aber doch noch einen Platz
gefunden. «Nach einigen Schnuppertagen in einer Sonderschule haben wir nun die
definitive Zusage erhalten.» Nach den Sommerferien darf der Knabe somit wieder
zur Schule gehen.
Für
die Eltern ist trotzdem klar, dass das System gravierende Mängel aufweist:
«Unser Sohn braucht eigentlich keine Sonderschule, sondern einfach eine engere
Betreuung.»
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