In der Sprachenfrage an den Schweizer Primarschulen herrscht
babylonische Sprachverwirrung. Nun greift der Bund ein. Das verschärft die
Risse im eidgenössischen Sprachgebälk. Ein Klärungsversuch.
Vielzüngig oder scharfzüngig, Journal 21, 22.7. von Carl Bossard
Englisch ist zur
modernen Lingua franca geworden. Wer in der wirtschaftlich globalisierten Welt
modernitätsfähig sein will, braucht darum als zwingende Bedingung eine
fremdsprachliche Qualifikation. In der Schweiz gehört dazu die Kenntnis einer
zweiten Landessprache. Mindestens doppelsprachig müssen die Kinder sein. Da
sind sich fast alle einig.
Darüber hinaus aber
zerbricht der Konsens. Wann soll mit dem Fremdsprachenlernen begonnen werden?
Wie viele Sprachen sind schulisch schwächeren Primarschulkindern zumutbar? Und
wie steht es um die Kenntnisse in der Hochsprache Deutsch – für viele ja auch
eine Art Fremdsprache?
Argumentenwirrwarr
im Fremdsprachenstreit
Frühfranzösisch
lässt sich nicht isoliert betrachten. Zu viele Positionen stehen sich diametral
gegenüber. Zwei Fremdsprachen bereits in der Primarschule, sagen die
Kosmopoliten und Modernisierer, jene mit dem idealistisch hohen
Bildungsanspruch für alle. Die pädagogische Erfahrung hält dagegen: Mit zwei
Fremdsprachen sind viele Kinder – vor allem auch solche mit
Migrationshintergrund – überfordert. So argumentieren viele Lehrerinnen und
Lehrer und verweisen auf die Fülle der Fächer und die Heterogenität heutiger
Klassen, das begrenzte Zeitbudget und die fehlenden Übungsphasen. Gleichzeitig
beklagen sie den Sprachverlust in der Muttersprache.
Ohne zweite
Landessprache bereits in der Primarschule geht es nicht, sagen die offizielle
Schulpolitik und der Lehrplan 21. Doch nicht alle Kantone ziehen mit. Nun droht
Bundesrat Alain Berset mit Intervention und gesetzlichem Zwang. Denn ohne
Frühfranzösisch bröckle der eidgenössische Konsens und zerbreche die
mehrsprachige Schweiz: Frühfranzösisch als kulturpolitisch-nationale
Kohäsionsfrage.
Möglichst früh eine
zweite Landessprache lernen
Fremdsprachenunterricht
in der Volksschule war lange Zeit eine Domäne der Sekundarstufe I (7. bis 9.
Schuljahr). Die Primarschule beschränkte sich auf die Kernfächer Deutsch und
Mathematik, Heimatkunde mit Geschichte und Geographie sowie die
musich-kreativen Fächer; dazu kamen Sport und Religionsunterricht.
Schweizer
Schulkinder müssen möglichst früh eine andere Landessprache lernen. Diese Idee
verfolgte die Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren EDK
mit ihrem Projekt "Reform und Vorverschiebung des
Fremdsprachenunterrichts". Bis in die 1990er-Jahre war
Französischunterricht auf der Primarstufe in fast allen Kantonen Realität. Die
Sprache sollte zum Kitt werden für den Zusammenhalt der föderalen Schweiz.
Ernst Buschors Fait
accompli
2000 überraschte
der Zürcher Bildungsdirektor und Reformturbo Ernst Buschor mit dem Entscheid:
English first. Frühenglisch vor Frühfranzösisch hiess seine Devise. Das
„moderne Esperanto“ war gefragt, und es lernt sich erst noch leicht, so seine
Argumentation. Die Bedürfnisse der Gesellschaft und der Wirtschaft hatten
Vorrang; sprachpolitische Befindlichkeiten rückten in den Hintergrund.
Mehrere Kantone
folgten Zürich; sie führten Englisch als erste Fremdsprache ein. Heute beginnen
14 Kantone mit Frühenglisch, die übrigen mit einer zweiten Landessprache. In 20
von 26 Kantonen wird die erste Fremdsprache spätestens ab dem dritten, die
zweite ab dem fünften Schuljahr unterrichtet. Im Modell 3/5 liegt seit 2004 die
Sprachstrategie der EDK begründet. Innerrhoden, der Aargau und Uri aber
unterrichten in der Primarschule kein Französisch. Ab Sommer 2017 verlegt auch
der Kanton Thurgau den Französischunterricht wieder auf die Oberstufe. In
mehreren Kantonen verlangen Volksinitiativen für die Primarstufe die Reduktion
auf eine Fremdsprache.
Allons-y oder let's
go?
Wie hältst du's mit
den Landessprachen? Fast eine Gretchenfrage. Sie erhitzt die Gemüter. Doch die
Alternative Französisch oder Englisch ist so verquer wie die Frage, ob die
Schule lesen oder rechnen lehren müsse. Beides ist wichtig – sowohl Englisch
wie eine zweite Landessprache –, und was wichtig ist, muss richtig getan
werden.
Hier beginnt der
Streit. Über den richtigen Zeitpunkt und die Intensität scheiden sich die
Geister – und über die Frage, ob eine zweite Fremdsprache für alle Kinder
obligatorisch sein müsse. Lange Zeit galt der Grundsatz als unbestritten: je
früher, desto besser. Davon war man an den Schweizer Primarschulen überzeugt.
Das ist nicht prinzipiell falsch. Fraglos lernen Kinder vieles leichter und
schneller als Adoleszente und Erwachsene. Das zeigt sich bei Jugendlichen, die
zweisprachig aufwachsen. Sprach-Switchen ist für sie kein Problem. Sie tauchen
ja in die Sprache ein. Immersion heisst das magische Wort. Das "Bain de
français" ist Alltag.
Ernüchternde
Resultate
Wie ganz anders
verhält sich die Situation im Klassenverband mit bloss zwei, vielleicht drei
Einzellektionen pro Woche. Eine repräsentative Studie von 2016 in der
Zentralschweiz schockiert. Nur jeder 30. Achtklässler spricht lehrplangerecht
Französisch, nicht einmal jeder zehnte erreicht die Ziele im Hörverstehen.
Etwas besser, aber immer noch unbefriedigend, sehen die Resultate beim Lesen
und Schreiben aus. Untersucht wurden 3'700 Schüler der 6. und 8. Klasse.
Nicht
zufriedenstellend, wenn auch leicht günstiger, sehen die Ergebnisse im Kanton
Zug aus. Hier haben die Schüler bis zum achten Unterrichtsjahr insgesamt zwei Wochenlektionen
mehr Französisch als in Nachbarkantonen. Und doch erreicht eine deutliche
Mehrheit der Zuger Schülerinnen und Schüler die Lehrplanziele nicht.
Leider hat das
Institut für Mehrsprachigkeit IfM der Universität Freiburg i.Üe. die
Auswirkungen von zwei Fremdsprachen auf das Fach Deutsch nicht untersuchen
können. Das aber wäre entscheidend.
Deutsch als
Conditio sine qua non
Die wenigsten
wachsen bilingual auf. Darum ist eine gute Lese- und Schreibkompetenz in der
Erstsprache grundlegend fürs Fremdsprachenlernen. Zu dieser Einsicht gelangt
die Sprachwissenschafterin Simone Pfenniger, Universität Zürich, in ihrer
vielbeachteten Langzeitstudie zum Frühenglisch. Wer eine Sprache wirklich
lernen und nicht nur ein bisschen talken oder eben parlieren will, der muss sie
von ihrer Struktur her begreifen, er muss eine "innere Grammatik"
mitbringen. Darum, so Pfenningers Kurzfazit, lernt besser Englisch, wer gute
Deutschkenntnisse hat. Das gilt sicher auch fürs Französisch.
Eine präzise
Kenntnis der Muttersprache ist zwingend. Und hier hapert es. Wer ins Fach
Deutsch zoomt, stellt bedenkliche Lücken fest. Auf allen Stufen. Selbst bei
Hochschulabsolventen ortet man Symptome sprachlicher Verwahrlosung. Wie anders
ist es denn zu erklären, dass 15 Prozent der 15-jährigen Schweizer Schülerinnen
und Schüler die Schule als Analphabeten verlassen? Oder dass in Zürich die
Hälfte der Polizeianwärter beim Deutschtest durchfällt? Auch der ehemalige
ETHZ-Rektor Lino Guzzella konstatierte bei seinen Studierenden sprachliche
Defizite.
Zuerst
scharfzüngig, erst dann mehrzüngig
Seltsam: Kaum ein
Bildungsdirektor kümmert sich um die Muttersprache. Wie wenn sie Nebensache
wäre, sozusagen Quantité négligeable. Im Gegenteil: Die EDK fixiert sich auf
zwei Fremdsprachen in der Primarschule – mit einer Obsession, als wäre die
ganze Schule damit gerettet und alles im Lot. Dabei müssten jungen Menschen
zuerst klarzüngig sein und scharfzüngig, wie es der Philosoph und Publizist
Ludwig Hasler ausdrückt. In einer kommunikativ verdichteten, mediengeleiteten
Gesellschaft sowieso.
Denken vollzieht
sich sprachlich. Sprachliches Können aber ist weder geheimnisvoll, noch fällt
es vom Himmel. Sprechen und Schreiben sind ein Handwerk, und sie wollen wie
jedes Handwerk gelernt sein – und intensiv trainiert. Das braucht Zeit und Raum
und wäre das schulische Postulat der Stunde, konzentriert und intensiv das
didaktische Gebot. Alles ist bekanntlich der Feind von etwas.
Von den
Appenzellern lernen
Vielleicht machen
es die Appenzell Innerrhödler vor: Sie verlegten den Französischunterricht auf
die Sekundarstufe – und unterrichten hier mit hoher Kadenz: fünf Lektionen im
ersten Jahr und je vier in der zweiten und dritten Klasse. "Das Modell hat
sich bewährt", sagt der kantonale Bildungsdirektor und fügt bei:
"Unsere Jugendlichen erreichen zweifellos die Sprachkompetenzen, wie sie
das Sprachengesetz für das Ende der obligatorischen Schulzeit verlangt."
Entscheidend ist das gemeinsame Ziel, nicht der einheitliche Weg. Mit diesem
Modell bleibt in der Primarschule zudem mehr Zeit fürs Kernfach Muttersprache.
Wer scharfzüngig
ist und gut Deutsch kann, wird leichter vielzüngig und damit mehrsprachig.
Vielleicht etwas gar einfach. Doch im Einfachen liegt ein Stücklein Wahrheit.
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