9. Juli 2016

Le terrible simplificateur

Der Genfer Professor François Grin simplifiziert. Er spricht, als ob es bei der aktuellen Fremdsprachendebatte bezüglich des Französischen um "alles oder nichts" gehe. Aber niemand will das Französisch streichen. Niemand will, dass die Kinder am Ende der Schulzeit schlechter (ist das noch möglich?) Französisch sprechen. Die dauernden Manipulationen auch aus Kreisen der Hochschulen sind symptomatisch für die Panik, die angesichts der geforderten Mitsprache des Volkes beim Sprachunterricht herrscht. 
Für Grin ist offenbar Französisch zur Vermittlung der französischen Kultur und für den Zusammenhalt der Nation nur ab Primarschule vorstellbar. Kulturvermittlung und nationale Kohäsion sollen also ab der Sekundarstufe I nicht mehr möglich sein?
Schliesslich noch die Wahrnehmung der englischen Sprache. Wiederholt wird diese als Wirtschafts- und Geldsprache reduziert, ja diffamiert. Sind es Überbleibsel der einstigen Vormachtstellung der "Grande Nation", die Französischsprachige noch heute dazu verleiten, das Englische dermassen einseitig als Ausdruck von Macht und Business wahrzunehmen? Wieso sollen ausgerechnet Primarschüler die Vorzüge der französischen Küche, Kunst und Literatur kennenlernen, noch bevor sie eine Ahnung der kulturellen Leistungen ihrer eigenen Umgebung haben? (uk)
Grin: Auch Kassiererinnen und Maurer brauchen Französisch, Bild: www.tdg.ch
"Mit Englisch beeindruckt man niemanden", Basler Zeitung, 7.7. von Tina Huber

François Grin, viele Deutschschweizer sehen keinen Sinn darin, Französisch zu lernen. Englisch gilt als die Wirtschaftssprache schlechthin. Zu Recht?
Es ist ein völliger Irrtum zu sagen, dass Französisch beruflich nichts bringt. Englisch ist im Berufsleben zwar nützlich, aber zunehmend auch eine banale Kompetenz, weil es so viele beherrschen. Damit beeindruckt man niemanden. Französisch hingegen ist ein Pluspunkt. Eine Umfrage des Nationalfonds hat gezeigt, dass es in der Deutschschweiz in 77 Prozent der Unternehmen an Mitarbeitern mit Französischkenntnissen mangelt, aber lediglich in 51 Prozent an Angestellten mit Englischkenntnissen.

Für Romands und Tessiner, die in der Minderheit sind, mag Deutsch wichtig sein. Doch viele Deutschschweizer werden auch ohne Französisch- oder Italienischkenntnisse durchkommen.
Natürlich ist die Bedeutung asymmetrisch, Deutsch ist für Welsche tendenziell wichtiger als Französisch für Deutschschweizer. Doch Untersuchungen haben gezeigt, dass in Deutschschweizer Unternehmen bei Kontakten über die Sprachgrenzen hinweg ebenso häufig Französisch wie Englisch gesprochen wird.

Gelten diese Aussagen über die Bedeutung der Landessprachen auch für die Kassiererin im Supermarkt oder den Maurer? Wir bewegen uns hier in elitären Sphären.
Ja, gewissermassen schon. Aber ich spreche nicht davon, dass alle eine zweite Landessprache fliessend beherrschen, sondern von Grundkenntnissen, die alle besitzen sollten. Denn neben dem wirtschaftlichen Aspekt gibt es auch den politischen: Ein Mindestmass an Verständnis für die anderen Landesteile ist wichtig, um sich als Bestandteil dieser Gemeinschaft zu fühlen. Ohne Mehrsprachigkeit gibt es keine Schweiz.

Übertreibt Bundesrat Alain Berset also nicht, wenn er den nationalen Zusammenhalt in Gefahr sieht?
Nein, wir müssen uns bewusst werden, dass die Teilnahme am politischen Projekt Schweiz auch gewisse Verpflichtungen bedeutet. Die Schweiz ist das Ergebnis eines komplizierten Arrangements von mehreren Kantonen, Sprachen, Kulturen. Dieses System ist bewundernswert. Aber es braucht Arbeit. Dazu gehört es, die Landessprachen zu lernen oder uns wenigstens damit vertraut zu machen, die Regionen zu kennen, sich für die Geschichte der Schweiz zu interessieren. Das ist es, was das Land zusammenhält.

Was würde uns fehlen, bestünden wir nicht aus verschiedenen Landesteilen?
Eine einsprachige Deutschschweiz wäre vielleicht ein kleines Tirol – auch nicht schlecht. Doch unsere Vielfalt ist wertvoll. Die Deutschschweizer haben eine Vertrautheit mit der französischsprachigen Kultur, diese ist uns viel näher als den Deutschen und Österreichern. Französisch hat nicht nur mit der Romandie oder Frankreich zu tun, sondern mit der ganzen Frankophonie. Das geht in der Deutschschweiz gerne vergessen.

Die multikulturelle Schweiz in Ehren, doch eine Umfrage hat kürzlich ergeben, dass jeder vierte St. Galler und jeder vierte Bündner noch nie in der frankophonen Schweiz war - und vice versa.
Selbst wenn ich nur zweimal im Leben nach Basel oder Grindelwald gehe: Dank einer Vertrautheit mit der deutschen Sprache und der deutschsprachigen Welt habe ich als Romand einen viel direkteren Zugang zur lokalen Kultur und dem Alltagsleben, als sich dies ein Franzose je erhoffen könnte.

Ihre Untersuchung vergangenes Jahr hat ernüchternde Ergebnisse gezeigt: Ein Grossteil der Jungen findet den Landessprachenunterricht langweilig, zudem sind die Sprachkenntnisse ungenügend. Hier liegt doch das wahre Problem.
Die Resultate waren ziemlich katastrophal, das stimmt. Ein beträchtlicher Teil der Jungen sieht keinen Sinn im Sprachunterricht, wie er heute ist. Das hat natürlich mit der Globalisierung zu tun, die die Bedeutung des Englischen gestärkt hat. Aber der Begriff der schweizerischen Mehrsprachigkeit, der vor allem im 19. Jahrhundert entstanden ist, muss an die heutigen Zeiten angepasst werden, dies betrifft auch den Sprachenunterricht. Eine Möglichkeit wäre die – fakultative – Ausdehnung von zweisprachigem Unterricht auf Sekundarstufe 2, also nicht nur in Mittelschulen, sondern auch für Lehrlinge. Die Schüler hätten so die Möglichkeit, schon ab der Primarschule eine baldige praktische Anwendungsmöglichkeit zu erkennen. Denn kein Schüler will das Risiko eingehen, von einem Schulgang ausgeschlossen zu werden, den seine Klassenkameraden später vielleicht wählen werden.

Bundesrat Alain Berset argumentiert stets mit der Bedeutung der Landessprachen für den nationalen Zusammenhalt. Müsste man den wirtschaftlichen Nutzen von Französisch stärker betonen?
Natürlich, das sage ich schon lange – dasselbe gilt für den wirtschaftlichen Nutzen von Deutsch für die Romands und Tessiner. Wer eine Landessprache lernt, hat später mehr Jobmöglichkeiten und mehr Lohn. Das kapiert auch ein Teenager – und seine Eltern ganz bestimmt.


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