28. Juni 2016

Neue Sprachlernmethode sorgt für Unmut

Vokabeln büffeln und sich mit unregelmässigen Verben abmühen war einmal. Sechs Deutschschweizer Kantone setzen auf ein Konzept, bei dem die Schüler die Fremdsprache lernen sollen wie einst ihre Muttersprache.
Was bleibt nach der Schule vom Französischen hängen? Bild: Annick Ramp
Was heisst: "Percnoptère"? NZZ, 28.6. von Daniel Gerny

«Percnoptère» - so heisst die Vokabel, in der das Entsetzen über das Französisch-Lehrmittel «Mille Feuilles» kulminiert. «Le Percnoptère» heisst auf Deutsch «der Schmutzgeier» und gehört zu den Wörtern, die Primarschüler schon in ihrem ersten Französisch-Schuljahr lernen. Selbst vielen Französischsprechenden ist der Begriff nicht geläufig, denn vom Tier leben in Südeuropa höchstes ein paar Tausend Exemplare. Weshalb, fragen sich viele Eltern, lernen Kinder im Frühfranzösisch solche Fachbegriffe, sind aber nicht in der Lage, eine Pizza zu bestellen oder regelmässige Verben zu konjugieren.

Sechs Kantone Basel-Stadt, Baselland, Solothurn, Bern, Freiburg und Wallis, in denen Französisch die erste Fremdsprache ist, setzen «Mille Feuilles» seit 2011 als Lehrmittel ein. Französisch-Lehrbücher sind selten sonderlich beliebt, doch bei «Mille Feuilles» setzte die Kritik von Beginn an ein und ist seither nicht abgerissen. Es ist Teil desFremdsprachenkonzeptes «Passepartout», auf das sich die sechs Kantone entlang der Sprachgrenze geeinigt haben.
Kritisch äussern sich nicht nur Schüler und Eltern, sondern auch Lehrerpersonen. In verschiedenen Kantonen ist der Streit in Form von politischen Vorstössen zu «Mille Feuilles» in den Parlamentengelandet. Das Lehrmittel überfordere die Kinder und sei für einen Französisch-Unterricht mit bloss drei Wochenstunden ungeeignet. Als Folge seien die Französisch-Kenntnisse der Kinder ungenügend. Es fehlten wichtige Grundlagen, beispielsweise in der Grammatik.
Lehrmittel wie «Mille Feuilles», das darauf aufbauende «Clin d'Oeil» oder im Englisch-Unterricht «New World» basieren auf neuen didaktischen Konzepten, die sich stark von jenen unterscheiden, mit denen die heutige Lehrer- und Elterngeneration vertraut ist. Schülerinnen und Schüler sollen die Sprache auf natürliche Weise erlernen, so wie sie es mit ihrer Muttersprache getan haben.
Sie sollen nicht in erster Linie Vokabeln und Grammatik pauken, sondern die neue Sprache möglichst oft hören und so ein «Sprachbad nehmen», wie es in einer Broschüre zu «Mille Feuille» heisst. Irritierend wirkt für viele Eltern, dass eine anfänglich fehlerhafte Anwendung der Sprache zum didaktischen Konzept gehört: Fehler seien ein Hinweis, darauf, dass die neue Sprache mutig angewendet werde und dürften deshalb nicht systematisch korrigiert werden.
Inzwischen haben die sechs Kantone auf die Kritik reagiert. Zwar wird das umstrittene Lehrmittel beibehalten, wie die Bildungsdirektoren der sechs Kantone vergangene Woche vor den Medien erklärten. «Mille Feuilles» und «Clin d'oeil» sollen aber nachgebessert werden. So soll dem Aufbau des Vokabulars und von systematischen Grammatik-Kenntnissen mehr Gewicht beigemessen werden.
In einer Evaluationsstudie soll das Institut für Mehrsprachigkeit der Universität Freiburg überprüfen, ob die Lernziele mit dem neuen Lehrmittel erreicht werden. Die Diskussion über «Mille Feuilles» dürfte damit nicht abgeschlossen sein: Im Kanton Baselland entscheidet möglicherweise gar das Volk, denn dort hat die reformkritische Bewegung «Starke Schule» zwei Initiativen zum Ausstieg aus Passepartout eingereicht.


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