15. Juni 2016

Demokratisch fragwürdig

Der Lehrer Jürg Wiedemann kämpft an vorderster Front gegen den Lehrplan 21. Verhindern kann er ihn zwar nicht, aber zurechtstutzen.
Wiedemann traut den vielen Versprechungen nicht, Bild: Dan Kitwood
Das ist erst der Anfang, Zeit, 13.6. von Sarah Jäggi

Am Tag des Triumphs macht er blau. Es kümmert ihn nicht, dass sich Journalisten über ihn ärgern. Über ihn, den Störenfried, Querschläger, das Enfant terrible aus dem Baselbiet, das sich wieder einmal nicht vorschreiben lässt, was es zu tun hat.

Dabei hat der Bildungspolitiker Jürg Wiedemann allen Grund zum Feiern an diesem Sonntag: Seine Volksinitiative wurde angenommen. Sie verlangt, dass die Fächer Geschichte, Geografie, Biologie, Physik und Chemie an den Sekundarschulen auch in Zukunft als Einzelfach unterrichtet werden – und nicht in sogenannten Sammelfächern. So wie es der neue Lehrplan 21 vorsieht. Das heißt: Im Kanton Baselland wird ein zentraler Teil davon nicht umgesetzt.

In den Medien liest man tags darauf: "Der Auftakt zum schweizweiten Feldzug gegen den Lehrplan 21 ist nicht wunschgemäß geglückt." Dabei zeigt die erste wichtige Lehrplan-Abstimmung vor allem, wie holprig die größte Bildungsreform der Schweiz vorankommt. Sie lässt sich zwar nicht verhindern, aber zurechtstutzen. Stück für Stück.

Fast überall regt sich Widerstand gegen das Harmonisierungswerk. Mal kommt er von links, mal aus der religiösen Fundi-Ecke – und überall hat er den Support von rechts.
Einen gemeinsamen Plan? Gibt es nicht. Was die Lehrplan-Gegner eint, ist das Personal: Überall kämpfen Lehrer an vorderster Front. Leute wie Jürg Wiedemann, Kopf des Vereins "Starke Schule Basel". Was bringt ihn dazu, die kantonale Politik mit Volksbegehren zu fluten – am Sonntag wurde gleichzeitig über eine zweite Wiedemann-Initiative abgestimmt. Sie verlangte, dass das Kantonsparlament den Lehrplan der Volksschule genehmigt, scheiterte aber knapp.

Was treibt ihn zu seinen Interventionen? Eine jede dazu da, Sand ins Getriebe der Bildungsreform zu streuen. Eine, die noch hängig ist, will: den Austritt aus dem Harmos-Konkordat.

Jürg Wiedemann, 56, empfängt in seinem Haus in Birsfelden. Er unterrichtet ein volles Pensum Mathematik, Geografie und Physik und lebt daneben für die Politik, sitzt im Gemeinderat von Birsfelden und für die Grün-Unabhängigen im Kantonsparlament. Unter dem Dach wohnt er, im Parterre seine Mutter. Im Geschoss dazwischen findet seit dreißig Jahren sein politisches Leben statt. Der Bildungspolitiker organisiert seine Rebellion mit professionellen Strukturen. Das Sekretariat und die Geschäftsleitung besorgen zwei ehemalige Schülerinnen. "Ich habe eine Handvoll Leute um mich, die mich auf hohem Niveau briefen. Zusammen sind wir ein eingeschworenes Team." Neben dem langen Holztisch ragt eine Bücherwand bis unter die Decke. Darin liegen Erinnerungsstücke an das zweite große Thema, das ihn politisch geprägt hat: Gläser mit dem Aufdruck "Stop F/A-18". Flyer der Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSoA), für die er jahrelang gearbeitet, Geld aufgetrieben hat – und die ihn lehrte, wie man Unterschriften sammelt.
Systemwechsel im stillen Kämmerlein
In der Region ist Wiedemann, der freiheitsliebende Basisdemokrat, berühmt für zwei Dinge: für seine perfekt gebügelten Hemden; heute in einer schwarzen Kurzarmvariante. Und für sein permanentes Lächeln. Es öffnet ihm Türen – und schafft ihm Ärger. "Dass ich nie hässig bin, treibt die Leute manchmal zur Weißglut", sagt er und lächelt. "Aber ich bin so." Weil er seine Freundlichkeit nicht einmal dann ablegte, als man ihn aus der grünen Partei schmiss, hieß es, er betreibe Politik nur als Spiel. Dabei hatte er die Freisinnige Monica Gschwind im Regierungsratswahlkampf aus Überzeugung unterstützt. Sie ist wie er eine Lehrplan-Gegnerin.

Wer mit ihm spricht, merkt, wie ernst es ihm ist. Und wie pickelhart, ja penetrant er agiert, wenn es um seine Sache geht.

Dem Lehrplan 21 hat er den Kampf angesagt, "weil er eine neue Ideologie ins Bildungswesen implantiert: die Kompetenzorientierung". Damit werde das Volk "für blöd verkauft". Man habe ihm mit dem Bildungsartikel eine Harmonisierung der Schulen in Aussicht gestellt: "nicht einen fundamentalen Systemwechsel". Die Befürworter können noch so lange beteuern, dass auch mit dem neuen Lehrplan vieles beim Alten bleibe. Dass er keine Bibel, sondern ein Kompass sei. Und dass von Systemwechsel keine Rede sein könne. Wiedemann und seine Mitstreiter glauben ihnen nicht.

Sie sind enttäuscht, gekränkt. Darüber, dass sie nicht gefragt wurden. Sie, die seit Jahrzehnten mit Herzblut unterrichten und wissen, was es heißt, ein guter Lehrer zu sein. Wiedemann sagt: "Den besten Draht zu den Schülern habe ich, wenn ich traditionell unterrichte. Also nur wenige sogenannte erweiterte Lernformen anbiete, nur ausnahmsweise mit Wochenplänen arbeite und anderen Formen der Selbstorganisation." Er ist überzeugt, dass er diese Methodenfreiheit verlieren würde. Allen Beteuerungen der Befürworter zum Trotz.

Der Kampf, den er heute führe, sei im Grunde derselbe wie vor bald 30 Jahren, als er für die Abschaffung der Armee kämpfte. Es sei demokratisch fragwürdig, wenn eine Handvoll Experten und die Erziehungsdirektorenkonferenz im stillen Kämmerlein einen fundamentalen Systemwechsel beschlössen. "Diese Top-down-Hierarchie ging mir schon früher auf den Wecker." Dass es eine groß angelegte Vernehmlassung gab, lässt er nicht gelten: "Die Weichen waren gestellt."

Der Kampf gegen Obrigkeiten begleitet ihn schon sein ganzes Leben. Als Siebenjähriger hörte er auf, ein Pfadfinder zu sein, als er ein braunes Hemd hätte anziehen sollen. Er hätte lieber ein grünes getragen. Dasselbe in der Politik. Seit er nicht mehr bei den Grünen ist, fühlt er sich pudelwohl. Weil es in der Fraktionsgemeinschaft mit den Grünliberalen nur eine Regel gibt: "Es gibt keine Regel."

Sein Kampf gegen den Lehrplan 21 hat aber auch eine ironische Note. Vor Jahren war es just der Kanton Baselland, der mit einer Standesinitiative die große Bildungsreform angestoßen hatte. Die Aufbruchstimmung von damals ist verflogen. Ausgerechnet dort, wo alles begann, wächst nun der Widerstand. Er ist inzwischen so groß, dass Wiedemann überzeugt ist: "Der Lehrplan 21 kommt in Baselland nicht. Wir werden eine adaptierte Version einführen."

Seine "Starke Schule Baselland" hat weitere Initiativen im Köcher. Sie fordern wahlweise: nur eine Fremdsprache an der Primarschule; die Ausbildung der Sekundarlehrer an den Universitäten statt an den Pädagogischen Hochschulen; niveaugetrennter Unterricht auch in Wahlpflichtfächern wie Musik oder textilem Gestalten.

Droht dem Kanton Baselland die Isolation in der Schweizer Bildungslandschaft? Jürg Wiedemann lächelt sein Wiedemann-Lächeln. Er hofft auf das Gegenteil. Darauf, dass der widerständige Geist aus dem Baselbiet die Nachbarkantone ansteckt. Den Aargau hat er bereits erfasst. Dort wird im nächsten Februar über den Lehrplan 21 abgestimmt. Und ennet dem Jura, im Kanton Solothurn, wird Ende Juni ein Bündel an Anti-Reform-Initiativen eingereicht. Eine trägt den Titel: "Keine Birchermüesli-Fächer an der Sekundarschule".


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