Lieber Herr Lehrer, sehr geehrter Herr Schulten,
dass ich überhaupt hier sitze und diese Zeilen schreibe: Ohne Sie wäre
ich nie so weit gekommen.
Erinnern Sie sich noch an das kleine Mädchen mit den langen dunklen
Zöpfen? Das sich empörte, weil Sie beim Beruf des Vaters "ungelernter
Arbeiter" ins Klassenbuch eintrugen. Ungelernt? Der Vater konnte doch so
vieles: Bäume propfen, Kartoffeln ziehen, Schuhe besohlen... Aber konnte er
auch lesen und schreiben?
Liebesbrief an ihren Lehrer: Ulla Hahn, Bild: Literaturhaus Hamburg
"Steh auf!, sagten Sie", Zeit, 30.11.2015
Wissen Sie noch, wie ich mich am ersten Schultag gleich freiwillig in
die erste Bank setzte, direkt vor Ihr Pult? Ich hatte den Tag kaum erwarten
können. Endlich lesen lernen! Wirklich lesen. Aus Büchern. Nicht nur so wie der
Großvater aus Steinen am Rhein. Den Buchsteinen. Aus den Steinen lesen konnte
ich längst. Ich hatte immer einen Buchstein bei mir. Auch an unserem ersten
Schultag. Aus dem ich Ihnen und der Klasse vorlas.
Dass Sie damals bei meiner Geschichte vom Pückelschen keine Miene
verzogen, im Gegenteil, immer wieder nickten und mich für mein schönes Vorlesen
sogar noch lobten: Das erstürmte mein Kinderherz wie Liebe auf den ersten
Blick. Liebe als ein grenzenloses Vertrauen in Ihr Wissen, Ihr Urteil, Ihre
Güte. Ich spürte: Sie würden gut zu mir sein. Gut für mich sein. Ich fühlte
mich bei Ihnen geborgen. Geliebt im Sinne von Dostojewski: Einen Menschen
lieben heißt, ihn zu sehen, wie Gott ihn gemeint hat.
Wie mich das anspornte! Zu wissen, zu lernen gefiel mir. Und, genauso
wichtig: Ich wollte Ihnen gefallen. Ich lernte für zwei. Und so wurde ich, was
man gemeinhin ein "braves Mädchen" nennt. Nur gut, dass Sie mich nie
zu Hause erlebt haben. Da war ich dä Düwelsbroode, der Teufelsbraten.
Und dann sprachen Sie am Ende unseres vierten gemeinsamen Jahres die
magischen Worte. Alle, die auf weiterführende Schulen gehen wollten, sollten
aufstehen. Ich blieb sitzen. Ihre Augen schauten in meine und durch mich
hindurch. In mein Herz. So ähnlich, aber das erlebte ich natürlich erst viel
später, schauen sich Liebende an, bevor sie ihr Gefühl in Worte fassen.
Steh auf!, sagten Sie. Steh auf! Bis heute wohl die zwei wichtigsten
Wörter in meinem Leben. Für alles, was darauf folgte, für alle wunderbaren Worte
und Ereignisse waren Sie der Schlüssel. Schlüssel-Worte zu meinem jetzigen
Leben, hier in der Geborgenheit meines Schreibtischs mit dem geliebten Menschen
unter einem Dach.
Nie verlasse ich Monheim am Rhein, ohne Ihnen ein Steinchen aufs Grab zu
legen. Das nächste Mal wird es ein weißer Kiesel sein mit vielen roten Linien,
mit diesem Liebesbrief.
Ulla Hahn lebt in Hamburg und ist eine der wichtigsten deutschen
Lyrikerinnen.
Welch wunderschöner Text! Ich bin gerührt! Das Schönste, was ich bisher auf den Blog stellte.
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