25. März 2016

Klugheit ist gefordert

Im Finanzwesen, in der Medizin und an Schulen werden immer mehr Standards eingeführt. Doch der Mensch ist einanarchisches Wesen. Wer als Lehrperson, Arzt oder Pfleger erfolgreich sein will, muss kreativ sein. Selbstständiges Denken führt zu besseren Lösungen. 
Vergessene Klugheit, Weltwoche 12/2016, von Allan Guggenbühl

Ein Schulhaus im Zürcher Oberland. Die Lehrerschaft versteht sich blendend untereinandert und ist geübt, schwierige Situationen zu bewältigen. Man diskutiert, wie man bei ­frechen Schülern vorgehen soll, Meinungsverschiedenheiten mit Eltern löst, bei Absenzen von Kollegen reagiert. Als eine Kindergärtnerin wegen ­eines Unfalls ausfiel, verteilte man die Kleinen auf diverse Primarschulklassen. Die Kindergärtler waren stolz, dass sie den Tag mit «Alten» verbringen durften. Vorfälle mit Kindern wurden individuell, gemäss Temperament des ­Lehrers und der jeweiligen Situation angepasst geregelt. Fast alles wurde durch ­kurze Gespräche während der Pausen bereinigt, bis das Team mit den Resultaten ­einer externen Qualitäts­evaluation konfrontiert wurde.

Diverse Schwachpunkte wurden identifiziert: fehlende Einheitlichkeit bei Interventionen auf dem Pausenplatz, kein Standard­vorgehen bei Elterngesprächen, zögerliche Umsetzung kooperativer Lernmethoden, fehlendes Spielmaterial für Kindergärtler in Schulzimmern, keine einheitlichen Prüfungen. Das Team wurde aufgefordert, die Best Practice des Unterrichts zu studieren und sich nach den evidenzbasierten Erkenntnissen der Erziehungswissenschaft zu richten. Weiterbildungen wurden verordnet. Es galt, die Abläufe zu definieren, die bei Vorfällen gültig sind, sich auf ein einheitliches Vorgehen bei Krankheitsausfällen zu einigen, Interventionen auf dem Pausenplatz zu verschriftlichen, klassenübergreifende Prüfungen einzuführen. Die Folge: Weiterbildungen, die unwillig absolviert wurden, stundenlange Sitzungen, Diskussionen über Details des Unterrichts und unwahrscheinliche Ereignisse und natürlich Formulare, die fortan ausgefüllt werden mussten. Verbessert sich dadurch die Qualität des Unterrichts?

Versteckte Ideologien
Nicht nur Schulen werden von einer Normierungswelle erfasst. Im Namen der Qualitäts­sicherung, der Gesundheit, der Sicherheit oder der Verhinderung von Missbräuchen werden im Gesundheitssektor, in der Finanzwelt, der Medizin und anderen Tätigkeitsfeldern Standards eingeführt. Diese sollen professionelle Arbeit gewährleisten. Oft sind detaillierte Vorschriften die Folge, wie man die Arbeit zu erledigen hat. Bankangestellte müssen sich durch Formulare absichern, dass sie nicht mit unversteuerten Geldern handeln, dass Sicherheiten vorhanden sind und alle internen Compliance-Regeln beachtet werden. In Spitälern muss jede zweite medizinische Handlung oder Pflegeleistung dokumentiert werden. Pfleger und Ärzte verbringen einen Grossteil ihrer Arbeitszeit mit dem Ausfüllen von Formularen.

Die Standardisierungswelle ergreift auch den Privatbereich: Wer einen Hund hat, muss einen Hundekurs belegen, selbst Tagesmütter müssen einen Kurs besuchen. Normen geben vor, wie man bei ­einem Problem vorgeht. Durch Standards werden relevantes Wissen und Erkenntnisse in die Praxis umgesetzt. Dass Stecker, Esswaren oder der Verkehr sich nach Standards richten sollen, leuchtet ein. Doch muss sich das Gespräch eines Lehrers mit den Eltern, die Arbeit eines Psychotherapeuten oder eine Pflegehandlung auch nach definitiven Normen richten?

Neue Standards werden eingeführt, wenn sich in einer Arbeitsleistung eine Schwachstelle offenbart. Das Problem wird zum Politikum. Massnahmen werden gefordert. Es folgen Diskussionen innerhalb der Standesorganisationen, und Kommissionen werden gebildet. Interkantonale Konferenzen nehmen sich der Sache an. Man ist sich einig: Gewalt auf dem Pausenplatz muss aufhören, Steuerhinterziehung gestoppt werden, Angriffe von Hunden müssen verhindert und Schulleistungen verbessert werden. Man debattiert im eigenen Zirkel und hält Ausschau nach Vorgaben. Je globaler, desto besser. Was internationale Experten sagen, die Wissenschaft feststellt oder der öffentliche Diskurs fordert, wird zur Richtschnur. Schulen sollen sich nach Kompetenzen ausrichten, Fallpauschalen oder ein modulares Bildungssystem müssen eingeführt werden.

Das Problem: Die Schlussfolgerungen erfolgen aufgrund der Dynamik der internen De­batten. Vergessen wird, dass diese auch durch Standesinteressen oder versteckte Ideologien beeinflusst sind. Fachpersonen lassen sich vom Mainstream und von eigenen Karriere-Interessen beeinflussen. Vor allem in den Sozialwissenschaften kann man sich nur über progres­sive Thesen profilieren und im eigenen Stand legitimieren. Es droht die Gefahr, dass man dem Leitkanon der eigenen wissenschaftlichen Disziplinen folgt und die Praxis vergisst. Wer als fortschrittlicher Pädagoge gelten will, plädiert für den «selbsttätigen Unterricht» oder «Kompetenzen», wer sich auf Pestalozzi beruft, gilt als Hinterwäldler. Dieser Mechanismus hat zur Folge, dass Standards formuliert werden, die wenig mit der Praxis zu tun haben.

Sobald man es direkt mit Menschen zu tun hat, sind zu detaillierte Standards problematisch. Die Arbeit von Menschen mit Menschen kann sich nicht nach fixen Normen richten. Menschen sind anarchische Wesen, tricksen Regeln aus, gehen immer wieder neue Wege. Es gibt immer wieder Faktoren, die man vorher nicht erkannt hat. Will man darum als Lehrperson, Arzt, Pfleger oder auch Dozent ­erfolgreich sein, dann sind Kreativität, psychologisches Geschick und originäres Denken ­gefordert. Arbeit mit Menschen braucht darum den Freiraum für eigene Überlegungen, Klugheit ist gefordert.
 

Allan Guggenbühl ist Psychologe, Psychotherapeutund Experte für Jugendgewalt. Demnächst erscheint sein neustes Buch «Die vergessene Klugheit. Wenn Normen uns am Denken hindern». Die Buchvernissage findet am 12. April im Buchparadies Seefeld in Zürich statt.

2 Kommentare:

  1. Allan Guggenbühl schreibt sich die Finger wund. Seine Präsenz in den Medien ist unübersehbar. Guggenbühl hat sich als einer der ersten Professoren getraut, bestimmte Entwicklungen in der Schule kritisch anzusprechen, Stellung zu beziehen und dafür auch den eigenen Kopf hinzuhalten. Ein Glücksfall für die Schweiz.

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  2. Ihrer Anmerkung stimme ich zu. Kürzlich habe ich Allan Guggenbühls neuestes Buch "Die vergessene Klugheit" gelesen, das allgemein auf Normen aufmerksam macht, die uns am Denken hindern. Das Kapitel IV enthält viele gute Denkansätze inbezug der Komplexität der Schule.

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