Angenommen,
es herrscht Hungersnot. Wäre es dann sinnvoll, Hirnscanner einzufliegen und die
neurophysiologischen Prozesse zu untersuchen, die im Gehirn eines
unterernährten Menschen ablaufen? Schließlich wäre es ja vorstellbar, dass sich
Abweichungen gegenüber dem Hirn eines Satten finden, die mit erneuter
Nahrungsaufnahme wieder verschwinden. Man könnte so sauber nachweisen, dass
Essen hilft, Hunger zu bekämpfen. Bingo. Wozu braucht es da noch
Entwicklungsexperten, Agrarwissenschaftler, Ökonomen, Politologen?
Natürlich
vertritt niemand solchen Unfug. Umso erstaunlicher ist es, dass immer noch
einige Autoren und Forscher glauben, dass die Hirnforschung den
Lehrern auf die Sprünge helfen könnte. Dabei leidet diese sogenannte
Neuropädagogik unter genau dem gleichen Denkfehler: Sie glaubt, dass sich aus
der Beobachtung neuronaler Prozesse beim Lernen bereits pädagogische Einsichten
gewinnen lassen.
Wenn es ums Lernen geht, bringt Hirnforschung nichts, Bild: Getty Images
Mehr Hirn bitte, und weniger Forscher, Süddeutsche Zeitung, 12.3. Kommentar von Christian Weber
Wie sehr
dieses Vorhaben gescheitert ist, zeigt ein ausführlicher Review, die der
Psychologe Jeffrey Bowers von der University of Bristol für die aktuellen
Ausgabe des Fachmagazins Psychological
Review erstellt hat. Seine Bilanz ist vernichtend: "In
der Literatur finden sich bislang keine neuen und hilfreichen Ratschläge für
den Unterricht, die auf der Hirnforschung basieren."
Gehirn scannen - oder einfach Rechtschreibfehler
zählen
Bowers'
Analyse bestätigt jene Kritik, die der Neuropädagogik schon früher
entgegengeschlagen ist: Sie ist trivial, weil sie mit der Analyse von Synapsen
Dinge bestätigt, die der modernenPädagogik ohnehin
seit Langem bekannt ist, etwa, dass man mit positiven Emotionen besser lernt.
Oder, dass auch das erwachsene Hirn noch plastisch und lernfähig ist - welchen
Sinn hätten sonst Universitäten?
Sie ist
irrelevant, weil sie mit großem technischen Aufwand Diagnosen erstellt, die
sich auch mit einem Test unter Zuhilfenahme von Papier und Bleistift besser und
billiger erledigen lassen: Womöglich finden sich neuronale Korrelate für den
Lernfortschritt dyslexischer Kinder; man kann aber auch einfach ein Diktat
machen und die Rechtschreibfehler zählen.
Mit welchen Texten lehrt man sie die Liebe zur
Literatur?
Vor allem
aber zeigt sich mit der Analyse der Psychological Review erneut, dass die Hirnforschung
viel zu sehr in den Grundlagen steckt, um hilfreich bei der konkreten
Gestaltung des Unterrichts zu sein: Wie etwa baut man ein Experiment auf, damit
die Schüler die Physik dahinter verstehen? Mit welchen Texten lehrt man sie die
Liebe zur Literatur?
Das alles
ist kein Argument gegen die Hirnforscher an sich, nur eine Bitte, dass sie in
ihrem Revier bleiben. Es ist wie bei den Gastroenterologen, die furchtbar viel
von Verdauung verstehen. Dennoch würde man keinen Kochkurs bei
ihnen buchen.
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