In
Scharen pilgerten Pädagogen ins verheissene Land der besten Schulen. Finnlands
Unterrichtssystem wirkte wie der Morgenstern. Doch es hat seinen Nimbus
eingebüsst.
Der Glanz des gelobten Pädagogen-Landes bröckelt, Journal 21, 1.2. von Carl Bossard
Die PISA-Rankings machten sie möglich, die
Bildungs-Wallfahrten in den Hohen Norden. Das Akronym PISA steht für „Programme
for International Student Assessment“. Die Studie der Organisation für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung OECD vergleicht das Können
15-jähriger Schüler in den Fächern Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften.
Anhand einer Punkteskala werden die Ergebnisse erfasst und in Kompetenzstufen
aufgegliedert.
Die erste Bildungsstudie im Jahr 2000 sah Finnland
auf dem europäischen Spitzenplatz. Wie seine Langläufer erreichten auch Suomis
Schüler Weltruhm – und schufen so einen Mythos. Der PISA-Primus galt danach als
Vorbild in Sachen Bildung und – mehr noch – der Bildungspolitik. In der Schweiz
dagegen lösten die Resultate einen eigentlichen Schock aus. Das Land
Pestalozzis konnte und wollte es nicht glauben: Die Schweizer Jugendlichen
schnitten in der Lesefähigkeit relativ schlecht ab. Einer von fünf Jugendlichen
verstand kaum einen einfachen Text. Wie war das möglich?
Keine Korrelation zwischen Bildungserfolg und
Schulstruktur
Die Erklärungen waren schnell zur Hand: Das
Bildungsmusterland habe eine Gesamtschule. Von der ersten bis zur neunten
Klasse gingen alle Kinder in eine selektionsfreie Schule. Länger gemeinsam lernen,
heisse das Prinzip. Es elektrisierte die Bildungswelt. Was liegt da näher, als
den Erfolgsfaktor in der integrierten Gesamtschule zu sehen? Doch auch Norwegen
hat – wie andere Länder – die gleiche Schulstruktur; allerdings resultierten
aus den PISA-Tests wesentlich schlechtere Resultate. Am System konnte es nicht
liegen.
Bei der Suche nach Finnlands pädagogischem
Erfolgsgeheimnis stiess man auf die finnische Lesetradition, die geringen
Klassengrössen oder die gesellschaftliche Homogenität des Landes. Eine
detaillierte Analyse nannte auch die individuellen Fördermassnahmen sowie die
Personaldotation und die Autonomie der einzelnen Schulen. Sichtbares Merkmal
sei zudem das hohe Sozialprestige der Lehrerinnen und Lehrer. Unterrichten
gehört zu Finnlands populärsten Professionen. Die Zahl der Studienplätze reicht
nicht aus für die grosse Schar interessierter Bewerber. Nur die Besten eines
Maturandenjahrgangs können diesen Beruf ergreifen.
„Kann man finnische Schulen kaufen?“
Die Grundlagen der finnischen PISA-Erfolge weckten
das internationale Interesse. Der Bildungstourismus boomte. Heerscharen von
Fachleuten und Politikern wollten diese schöne neue Schulwelt kennenlernen. Die
Copy & Paste-Hoffnung gipfelte in der Frage eines Bildungsexperten aus dem
Nahen Osten, „ob man finnische Schulen kaufen könne“. Die Antwort ist klar:
Schulsysteme kann man nicht importieren wie eine erfolgreiche Trainerin oder
einen famosen Fussballspieler. Der schulische Erfolg gründet in spezifischen
soziokulturellen Grundlagen und hängt von besonderen Umgebungsfaktoren ab. Ein
Systemtransfer funktioniert nicht. Übertragen lassen sich allerhöchstens
einzelne Reformelemente.
Das ist allerdings nicht unproblematisch. Die Teile
und das Ganze stehen in einem subtilen Verhältnis. Einfach ein Rädchen ersetzen
geht nicht, einfach eine zeit(geist)gemässe Methode einführen wirkt nicht oder
mindestens nicht in der gewünschten Zielrichtung. Zu kompliziert ist die
Vielfalt wechselseitiger Abhängigkeiten innerhalb des Ganzen und zwischen den
Teilen, die das Ganze eines Bildungssystems ausmachen.
Eine andere Wirklichkeit
Auch den Schreibenden zog Finnlands Mythos wie ein
Magnet an. 2003 reiste er ins Mekka des Bildungserfolges. Doch er sah im hohen
Norden nicht, was er in der Schweiz hörte und las, was Bildungsexperten
predigten und postulierten: Lehrer, die sich als Lerncoach verstehen und
nicht referieren, Lehrerinnen, die Gruppenarbeiten moderieren und nicht
unterrichten, Lehrkräfte, die selbstorientiertes Lernen organisieren und nicht
kollektiv ins Thema einführen. Kein Deut von Lernen ohne Lehrer LOL, keine Spur
von konsequent individualisiertem Unterricht.
Der aufmerksame Beobachter erlebte in allen
besuchten Schulen geleiteten Frontalunterricht – konzentriert und prägnant
vorgetragen, mit Rückfragen und Diskursteilen aufgelockert, aber stringent
geführt. Daran schlossen sich Übungsteile an – mit präzisen Aufgaben.
Lehrerassistenten unterstützen die Kinder und trainierten mit ihnen. Entspannt
im Ton, intensiv im Tun, in einigen Teilen fast drillmässig. Keine Schülerin,
kein Schüler wurde sich selbst überlassen.
Ob darin Finnlands Geheimnis lag und sein
Spitzenrang in der ersten OECD-Bildungsstudie? Das fragte sich der Schreibende
auf dem Rückweg von der Pilgerstätte. Er sah vieles von dem, was der
renommierte neuseeländische Bildungsforscher John Hattie einige Jahre später in
seiner Studie „Visible Learning – Lernen sichtbar machen“ als lernwirksame
Unterrichtsfaktoren herauskristallisierte.
Der Erfolg liegt in der Vergangenheit
Doch das finnische Wunder war nicht von langer
Dauer. Zwischen 2003 und 2012 verlor das Land insgesamt 25 PISA-Punkte. „Das
entspricht dem Lernerfolg eines ganzen Schuljahres“, schreibt Christine Sälzer,
nationale Pisa-Koordinatorin an der TU München. Noch immer liege es in
Mathematik zwar über dem OECD-Durschnitt, doch die Fallhöhe sei bemerkenswert,
fügt die Wissenschafterin bei.
Auch die London School of Economics and Political
Science LSE interessierte sich für diesen Rückgang im PISA-Ranking. Der
schwedische Bildungsforscher Gabriel Heller Sahlgren erklärt Finnlands Erfolge
mit dem alten Schulsystem: starke Lehrerpersönlichkeiten, die Einfluss nehmen
und führen, geleiteter und klar strukturierter Unterricht, eher traditionelle
Methodik. Dann änderte das Land sein Credo. Das System setzte auf einen
Pädagogen, der die Rolle des Lerncoachs übernimmt und als „Lehrkoordinator“ den
Fokus auf den einzelnen Schüler statt die Klasse legt. Nun greifen die
Reformen. Dazu braucht es 10 bis 15 Jahre, sagt die Bildungsforschung. Entsprechend
schwächer schnitt Finnland in den Tests ab. „Die [PISA-]Noten werden genau dort
schlechter, wo die Reformen anfangen zu wirken“, schreibt Gabriel Heller
Sahlgren.
Ausbildung ist etwas Ganzheitliches
Sahlgrens Analyse provozierte Widerspruch. Auch von
Andreas Schleicher, dem OECD-Koordinator und Schöpfer der PISA-Test. Doch er
konnte Sahlgrens Resultate weder entkräften noch widerlegen. Der schwedische
Bildungsforscher weist aber darauf hin, dass Schulen immer in einem
Zielkonflikt stünden, sozusagen im Dilemma zwischen dem Fördern von Kreativität
und dem Erlernen von kognitivem Wissen und Können. Ein gutes Schulsystem müsse
beides stärken. Denn Ausbildung sei etwas Ganzheitliches. Europa, so sein
Schluss, habe sich in den letzten 15 Jahren „etwas zu sehr für die Kreativität
und zu wenig für die Leistung interessiert“. Er verweist auf die geistige Elite
des Silicon Valley. „Ihre Vertreter waren sehr gut in der Schule – und sie sind
ausgesprochen kreativ in dem, was sie erschaffen.“
Finnlands Reformen schwächten die Lernleistung,
förderten aber die Freude an der Schule, lautet ein weiterer Befund der Studie.
„Mit mehr Spass kam weniger Leistung“, titelte darum der Tages-Anzeiger (3.
Jan. 2016). Trendwende hin zur Spasspädagogik? Gar nichts dagegen. Nur, der
Spass steht nicht am Anfang, er kommt erst danach oder mit der Zeit. Wer einer
jungen Geigerin zusieht, weiss das. Jahrelang muss sie üben und das Violinspiel
über ihre akuten Launen und Interessen stellen. Sie hat sich der Logik dieses
schwierigen Instruments zu unterwerfen. Nur so wird aus dem Gekratze dereinst
Musik. Üben heisst das Zauberwort. Das gilt für alle Bereiche.
Bildung zielt auf das Sowohl-als-auch
Schule und Unterricht sind darum keine
Entweder-oder-Institution. Ein solches Polaritätsdenken gibt es nur bei einem
martialischen 0815-Typ, beim preussischen Pauker oder bei chinesischen Müttern
wie der Yale-Professorin und Buchautorin Amy Chua. Bildung ist auf das
Sowohl-als-auch ausgerichtet. Das ruft nach Lehrerinnen und Lehrern, die
zielgerichtetes Unterrichten mit mitmenschlichem Einfühlungsvermögen oder
humanistische Grundverpflichtung mit unnachgiebigem Fördern verbinden können.
Kinder und Jugendliche wollen ein menschliches Gegenüber, eine charmante
Autorität, die sie weiterbringt und ihnen wichtige Inhalte und Werte
vermittelt.
John Hatties empirische Befunde zeigen es
überdeutlich: Eine wirksame Bildungspolitik müsste mehr an den Menschen glauben
und weniger an Systeme und Strukturen. Gute Lehrerinnen, gute Lehrer mit
humaner Energie und fachlicher Leidenschaft sind der Kern der Schule. Sie zu
finden muss man nicht nach Finnland pilgern. Es gibt sie in jedem helvetischen
Schulhaus.
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