21. Februar 2016

Immer mehr schwierige Kinder

In den Kindergärten gibt es mehr und mehr schwierige Kinder. Kindergärtnerinnen machen sich Sorgen. Der Kanton Zürich hat darum eine Arbeitsgruppe eingesetzt. 



















Verhaltensauffälligkeiten bei den Kleinsten nehmen zu, Bild: Gaetan Bally
Kindergärtnerinnen am Anschlag, NZZaS, 21.2. von René Donzé

Sein Bein schnellt blitzschnell nach vorne, und schon stolpert das kleine Mädchen darüber, fällt hin, beginnt zu weinen. Immer wieder treibt der kleine Knabe sein Spielchen, wenn ein Gschpänli an ihm vorbeilaufen will. Das ist nur eines von vielen Beispielen, die Brigitte Fleuti erzählt, wenn man sie nach verhaltensauffälligen Kindern im Kindergarten fragt.

Die Präsidentin des Verbands Kindergarten Zürich (VKZ) spricht von einer «beträchtlichen Zunahme der Verhaltensauffälligkeiten» bei den Kindern auf ihrer Stufe. Das Spektrum ist breit und reicht vom absolut schweigsamen bis hin zum ständig aggressiven Kind. Aufgrund der Rückmeldungen, die sie von ihren Mitgliedern erhält, schätzt sie den Anteil der verhaltensauffälligen Kinder auf zwischen 20 und 80 Prozent. «Der Unterricht kann mitunter massiven Störungen ausgesetzt sein», sagt Fleuti.

Die Erziehung fehlt
Dabei handelt es sich nicht nur um ein Zürcher Problem. Gesicherte Zahlen dazu gibt es in der Schweiz zwar noch nicht. Das Bundesamt für Statistik ist im Moment erst daran, entsprechende Auswertungen vorzunehmen. In Deutschland ergab die Braunschweiger Kindergartenstudie für 18 Prozent der Buben und 16 Prozent der Mädchen Verhaltensstörungen, bei weiteren 15 Prozent der Buben und 23 Prozent der Mädchen stellte die Untersuchung eine grenzwertige Auffälligkeit fest. Für die Schweiz konstatiert Beatrice Kronenberg, Direktorin des Schweizer Zentrums für Heil- und Sonderpädagogik: «Es gibt immer mehr Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten bereits im Kindergarten.»

Die Gründe dafür seien vielfältig, sagt sie. Teilweise mangle es an der Erziehung. «Diesen Kindern fehlt dann die Erfahrung, sich in eine Gruppe einzuordnen, zu warten, nicht immer im Mittelpunkt zu stehen.» Schuld sei auch der häufige Einsatz elektronischer Medien, um die Kinder ruhigzustellen. Einfluss habe zudem eine falsche Ernährung. Vermehrt würden auch genetische Störungen auftreten.

Ruth Fritschi, Zuständige für Kindergarten und Eingangsstufe beim Schweizer Lehrerverband (LCH), sagt: «Es gibt generell eine Zunahme von verhaltensauffälligen Kindern, aber das betrifft alle Schulstufen, nicht nur den Kindergarten.» Sie führt das unter anderem auf gesellschaftliche Entwicklungen und den Einfluss anderer Kulturen zurück. Ein Problem stelle auch die Integration von Kindern mit besonderen Bedürfnissen dar. «Die Kindergärten spüren solche Veränderungen als Erste.» Dort würden sie sich besonders belastend auswirken, weil die Kinder noch recht unselbständig seien, sagt Fritschi.

Einen Hinweis dafür, dass die Zürcher Kindergärten ein Problem haben, liefert auch die Repetitionsquote. Während diese auf allen Schulstufen rückläufig ist, steigt sie bei den Kindergartenkindern weiter an. Von 2001 bis 2014 wuchs der Anteil der Buben, die ein drittes Kindergartenjahr anhängen mussten, von 1,6 auf 2,9 Prozent. Bei den Mädchen hat er sich nach einem ersten Anstieg wieder bei 1,5 Prozent eingependelt. Fachleute vermuten, dass dies mit dem Trend zur immer früheren Einschulung der Kinder zusammenhängt.

Kontroverse um Beurteilung
Das Volksschulamt des Kantons Zürich hat auf die Klagen aus den Kindergärten reagiert und eine Arbeitsgruppe eingesetzt. Diese hat Kindergärtnerinnen, Schulpsychologen und weitere Experten befragt und die Ergebnisse ausgewertet. Dabei zeigte es sich, dass das Problem unterschiedlich ausgeprägt wahrgenommen wird. Wie dem Schlussbericht zu entnehmen ist, konstatieren die Fachpersonen aus dem Vorschulbereich eine klare Zunahme. Und die Kinderstation Brüschhalde der Psychiatrischen Universitätsklinik beobachtet «vermehrt komplexe Störungsbilder bereits bei jungen Kindern».

Weniger dramatisch sehen dies indes die Schulpsychologischen Dienste (SPD). Wie im Schlussbericht steht, stellten drei der vier befragten Dienste eine leichte oder geringfügige Zunahme fest, einer meldet keine Veränderung. Nur gut ein Prozent der Kindergartenkinder wurde wegen des Verhaltens bei den SPD angemeldet. 35 Kinder in diesen vier Bezirken (0,45 Prozent) erhielten deswegen eine Sonderschulung. «Längst nicht alle Fälle werden dem SPD gemeldet», sagt dazu VKZ-Präsidentin Fleuti. «Das Thema wird kontrovers beurteilt», sagt Urs Meier, Verantwortlicher für Sonderpädagogisches auf dem Zürcher Volksschulamt. Er spricht von einer «leichten Zunahme» der Fälle.

Der Kanton verzichtet darum auch darauf, das Problem der Kindergärten separat weiterzuverfolgen. Er will es auf allen Schulstufen angehen. So hat das Volksschulamt eine Broschüre zum Umgang mit Verhaltensauffälligkeiten und eine über den Einsatz von Schulassistenzen im Rahmen des Unterrichts herausgegeben. Zudem werden Weiterbildungen zum Thema angeboten.


Für die Zürcher Kindergärtnerinnen ist das nicht genug. Brigitte Fleuti fordert eine Reduktion der Klassengrössen, vermehrt Halbklassenunterricht, einen Topf mit zusätzlichen Stellenprozenten für Notsituationen und die Möglichkeit von Time-outs für ganz schwierige Fälle. Und Ruth Fritschi vom LCH sagt: «Es ist wichtig, dass die Rahmenbedingungen stimmen und die Kindergärten genügend Ressourcen zugesprochen erhalten.»

1 Kommentar:

  1. "Vermehrt würden auch genetische Störungen auftreten". Was ist darunter zu verstehen?

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