Vor
den Winterferien fragte mein Schulleiter unser Kollegium an einer Konferenz, wer
interessiert wäre, an einem Hearing zur neuen Beurteilung teilzunehmen. Man
könne sich bei ihm melden, was ich denn auch tat. Und so kam ich zu einer Einladung von Erwin Sommer, dem Vorsteher des Amtes für
Kindergarten, Volksschule und Beratung,
für ein Hearing in der Aula des Gymers Lerbermatt. Zur Vorbereitung erhielt
ich die Entwürfe der neuen Beurteilung zugesandt.
Der "demokratische Einbezug" der Lehrer mittels Pulver-Hearings, von Lars Burgunder, 23.2.
Ich
muss bekennen, dass ich als eher junger Lehrer die Zeiten, in denen man die
Schüler mit Fleiss- und Betragensnoten beurteilt hatte, glücklicherweise nicht
mitbekommen habe. Als ich aber beim Studieren der Dokumente erfasste, dass es wieder
Beurteilungen von Ordnungssinn, Höflichkeit und Pünktlichkeit geben sollte,
musste ich leer schlucken. Die Rhetorik war ja bis anhin, dass es sich bei
diesem Lehrplan und all den mit ihm verbundenen Neuerungen um etwas
Fortschrittliches handeln sollte. So etwas empfand ich aber als einen
Rückschritt tief in die 50er-Jahre.
Ich konnte
nicht mitapplaudieren
Was
jetzt kommt, ist meine persönliche Wahrnehmung der Dinge und des Hearingabends,
und trifft natürlich nicht auf jeden der geladenen Gäste zu. Denn am Schluss
bekam Herr Pulver einen lauten Applaus, dem ich mich leider nicht anschliessen
konnte, und auch das üppige Apéro danach habe ich ignoriert. Nein Danke.
Vorne
standen die Herren Pulver und Sommer, plus zwei Protokollschreiber an
Papierboards. Sie hielten die
"Rückmeldungen" aus dem Publikum fest. Zwei junge Damen gingen mit
Mikrofonen im Saal herum, um Meinungen oder Äusserungen einzuholen.
Pulver
hatte ein Mikrofon am Jackett, war Hauptreferent, Showmaster, Leiter dieses
Hearings. Jedes Formular der Beurteilung wurde einzeln durchgegangen und man
konnte sich melden, und sagen, was man gut findet oder eher nicht, was man
geändert haben möchte oder nicht, oder ganz einfach seine Meinung sagen.
Pulver
hat "Arena-like" die Sachen aufgenommen und schon war der Nächste
dran. Ihn zu konfrontieren lag nicht
drin. Eine wirklich kritische
Auseinandersetzung fand selbstredend
nicht statt. Ich war
konsterniert: War das jetzt die demokratische Einbindung der Basis? Aber das
war bei weitem noch nicht alles. Zu jedem Formular gab's danach eine Art
"Abstimmung", ob die geladenen Gäste nun mehr FÜR oder eher GEGEN den
Vorschlag des entsprechenden Formulars waren. Aber dies sei nur "um zu
sehen, wie so die allgemeine Stimmung
ist". 4/5 der Besucher hatten nie
etwas gesagt oder sich kritisch geäussert. . Aber "um zu sehen, wie die
Stimmung ist", haben sie gern die Hand gehoben, oder sich im Nachhinein
privat unterhalten.
Das
Hearing dauerte von 17.00 bis 19.00. Der Event wirkte unglaublich gestresst,
ich selbst hatte das Gefühl, dass manche Wortmeldungen nicht ernstgenommen
wurden. Zwei Stunden um ALLE Formulare
durchzugehen. Die Kompetenzeinschätzung 7.-9.Klasse kam um 18.58 dran!! Um
19.12 war Schluss. Es gab keine Möglichkeit das Ganze richtig kritisch zu
hinterfragen und auseinanderzunehmen. Meine im Vorfeld ausgedruckten Bögen
waren voll mit Bemerkungen, am Schluss konnte ich genau ein einziges Mal etwas
fragen und sagen.
Natürlich
war ich kritisch eingestellt an dieses Hearing gegangen, und die Kritik zum
LP21 wird mir niemand nehmen. Zu dieser Haltung bekenne ich mich. Aber was ich
dann dort erlebte, verschlug mir den
Atem.
Jemand
fragte: "Was passiert mit Eltern, die ein Standortgesprächsprotokoll nicht
unterschreiben wollen?"
Daraufhin
brummelte jemand: "Die werden
ausgeschafft" und Pulver hörte dies
und sagte laut: "Ha, ha, ja die werden ausgeschafft" . Gelächter im
Saal, Herr Pulver kann ja so lustig sein.
Absolut unter der Gürtellinie.
Pulver
selbst wirkte durch den Abend hindurch gestresst, er verhaspelte sich, vergass
Sachen, wusste zum Teil banalste Dinge nicht, z.B. ob die SuS an Standortgesprächen dabei sind
oder nicht..
Dafür
wieder ein lockerer Spruch: "Bitte nicht zu viel Einwände, ich will keine
zweite Schübe". Zustimmendes Grinsen und Kopfnicken allerseits, man
versteht sich. Dann aber wieder ernsthafter: "Ich werde vielleicht nicht
gleich entscheiden wie ihr, aber eure Rückmeldungen sind mir wichtig". Und
um 18.30, beim Erklären einer Folie, bei der er sich zum x-ten Mal verhaspelt
hatte, wieder ironisch: "Ich bin am
Limit meiner Kompetenz". Da stellte ich seine Professionalität ernsthaft
in Frage, Satire hin oder her.
Du
entnimmst der zweitletzten Bemerkung, dass Pulver, und das erwähnte er mehrere Male, als Bildungsdirektor des
Kantons die letzten Entscheidungen treffen werde, was den LP21 und die neue
bernische Schülerbeurteilung angeht. Aber, aufgepasst! Er nähme unsere Rückmeldungen gerne entgegen und bespräche sie
dann mit seinem Team.... oder wie
auch immer.
Die
Beurteilung sei eine "Vereinfachung" der Schübe und somit
lehrerfreundlich. Nur noch Ende Jahr bekämen die Schüler Noten, genannt
Methodische Kompetenz, zusammengesetzt aus Produkt, Lernkontrolle und
Lernprozess.
Einmal
Mitte Jahr sollen mittels Standortgespräch die sozialen und personalen
Kompetenzen auf entsprechenden Formularen ausgewiesen werden. Acht soziale
Kompetenzen (Kooperationsfähigkeit, Konfliktfähigkeit, Umgang mit Vielfalt… ),
12 personale überfachliche Kompetenzen, alles auf einer Skala von 1 bis 10, mit
Lernzuwachs. Und ich frage mich, welche Anmassung da von mir erwartet wird. Bin
ich Lehrer, bin ich Psychologe oder ein psychiatrischer Rechtsgutachter?
Ich
sollte mit folgendem Satz beruhigt werden: "Der Schüler oder die Schülerin
DARF diese Beurteilungen einem Beurteilungsbericht (bei einer Bewerbung)
beilegen, MUSS aber nicht." Ja warum macht man denn den ganzen Zirkus?
Ich
habe AUSDRÜCKLICH nachgefragt: Die
Kompetenzen sind NICHT Teil der Beurteilung Ende Jahr, sie können aber in die
Gesamtnote pro Fach mit einfliessen -
somit wird eine Note meiner Meinung nach noch undurchsichtiger. Und was
soll denn das? Die braven, höflichen, pünktlichen SchülerInnen, werden die
Kompetenzbeurteilungen beilegen. Und wer nicht beilegt? Ja, der hat wohl was zu
verbergen.
Wieder
eine Beruhigungspille von Pulver: Die Kompetenzraster sollen aber noch
überarbeitet werden. Vor allem mit gewissen Formulierungen und Sätzen in den
Rastern sei man noch nicht ganz zufrieden und diese würden von der Arbeitsgruppe
noch verbessert.
Wieder
muss ich leer schlucken: "Schüler
können eigene Gefühle wahrnehmen oder situationsangemessen ausdrücken",
heisst es. Will man die Jugendsprache verbieten?
Oder
„SchülerInnen können Menschen in ihrer Gemeinsamkeiten und Differenzen
wahrnehmen und verstehen, können respektvoll mit Menschen umgehen, die
unterschiedliche Lernvoraussetzungen mitbringen oder sich in Geschlecht,
Hautfarbe, sozialer Herkunft, Religion
oder Lebensform unterscheiden!"
Wie
soll ich das beurteilen auf einer Skala von 1 – 10? Ein Schüler regt sich über
einen Mitschüler auf, der per Zufall eine andere Nationalität hat! Gibt das
jetzt einen Punkteabzug? Eine Schülerin backt in einem Schulprojekt Kuchen für ein Flüchtlingsprojekt, gibt das
Pluspunkte? Das ist grotesk, das ist Vermessungswahn gepaart mit
Gesinnungsideologie, das ist bürgerlich elitäres Tugendgeschwafel in
Kompetenzrastern pseudowissenschaftlich getarnt, Raster, in welche man jetzt die Kinder reindrückt und
anpasst.
Jugendliche
anhand von charakterlichen Grundzügen zu beurteilen, gehört nicht in die
Schule. Beanstandungen seitens der Lehrer an Jugendlichen dürfen an einem
Elterngespräch besprochen werden, ohne Frage, aber sie gehören definitiv nicht
in eine Beurteilung! Ausserdem werden die meisten der genannten Kompetenzen von
anderen Faktoren beeinflusst: Das Klassenklima, das sich Wohlfühlen im
Klassenzimmer, in der Schule, das Lernklima,
und das Allerwichtigste: Die Beziehung zwischen Schüler und Lehrperson!
Denn oft sind gewisse Verhalten von Schülern nichts anderes als eine Antwort
auf das Verhalten oder die Persönlichkeit der Lehrperson. Es geht also auch um
Sympathie oder Antipathie. Ein einfaches Beispiel: Ein Schüler mag eine
Lehrperson nicht besonders, also wird sie diese auch nicht entsprechend
grüssen. Andere Lehrer werden im Schulhaus dauernd gegrüsst, vielleicht auf der
Treppe noch was gefragt oder erzählt.
Wie soll also Höflichkeit auf einer Skala von 1 -10 beurteilt werden?
Ist es dann eine 5 für „manchmal ist er höflich“? Und was ist denn der
Unterschied zu einer 6?
Am
Hearing selber gab's keine Chance dies vorzubringen! Wie auch, in 14 Minuten? Im Gegenteil, Applaus! Mit
demokratischer oder gar professioneller Entscheidungsfindung hat das gar nichts
zu tun. Ich fühle mich einsam und ich
bin enttäuscht, dass es nicht mehr kritische Lehrer gibt. Lehrerinnen mit Herz. Lehrer mit Realitätssinn.
Lehrerinnen, die Konfrontation zulassen um kommunizieren zu können. Lehrer, die
Beziehung vor Erziehung stellen. Lehrerinnen, nicht als Beurteilungsmaschinen
sondern mit Ideen. Lehrer, die aus der Reihe tanzen und alles anders machen.
Die Spinner eben.
Ich
habe mich deshalb entschieden auf Sommer einmal mehr zu künden, nach 6 Jahren
in Niederwangen, nach 14 Jahren Oberstufenlehramt. Es sind persönliche Gründe
sicher, die Beobachtungen in meinem Berufsfeld
aber auch. Ob ich die Schule ganz verlasse, weiss ich noch nicht, wohl
werde ich hie und da mal wieder als Stellvertretung unterrichten und den Jugendlichen
Gutes bringen. Ganz sicher werde ich
mich nie darauf einlassen, Kinder in Charakter, Meinung und Lebenshaltung beurteilen, ganz sicher nicht! Denn unsere
Arbeit, die machen wir primär nicht wegen der Kohle oder den Ferien. Nein! Wir
machen ihn der Kinder und Jugendlichen wegen. Und wer die Frage nach „warum
bist du Lehrer“ nicht mit letzterem Satz an erster Stelle beantworten kann, ist
aus meiner Sicht am falschen Ort. Aber dies ist eine andere Geschichte.
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