Meine Tochter ist sexistisch. Sie hält Buben für schulische
Memmen: «Das ist wieder einmal typisch», sagte sie am Mittwoch, schmiss ihren
Rucksack in die Ecke und fischte sich aus der Salatschüssel eine Cherrytomate,
«die Buben geben auf!» Damit meinte sie, dass zwei der drei Knaben, die seit
dem Herbst beim Lehrer Extrastunden zur Vorbereitung der Aufnahmeprüfung ans
Gymnasium besuchen, sich entschieden haben, die Prüfung nicht zu schreiben.
Mädchen sind halt zäh, NZZaS, 17.1. von Nicole Althaus
Es ist nicht so, dass
meine Tochter für diese Entscheidung nicht das allergrösste Verständnis hätte.
Schliesslich bedeutet der Kurs zweimal in der Woche um sechs Uhr früh aufstehen
und eine Extraportion Hausaufgaben am Wochenende lösen. Die Verlockung, den
Bettel einfach hinzuschmeissen, ist auch für sie an manchem dunkeln kalten
Wintermorgen gross. Aber «Mädchen sind halt tough», sagt meine Tochter. Ihr
Geschlechterstereotyp erklärt nicht nur die Realität, die sie in ihrer Klasse
vorfindet. Es schafft auch Realität: Die drei Mädchen werden in ihrem
Lernverhalten bestärkt. Der Bub aber, der noch übrig ist, muss sich etwa so
fühlen wie die paar Frauen, die an der ETH Maschinenbau studieren: als
Ausnahme, die die Regel bestätigt. Als Abweichung von der Norm. Als Exot, der
auffällt.
Man muss nicht
psychologisch geschult sein, um nachvollziehen zu können, dass Exoten, seien
sie nun männlich oder weiblich, eine Extraportion Mut brauchen, um
durchzuhalten. Immerhin darin ist Bildung gerecht: Mädchen und Buben, Frauen
und Männer sind mal Gewinner, mal Verlierer. Je nach dem, welche Schulstufe
oder welche Fächer untersucht werden: Eine OECD-Analyse der Pisa-Tests 2015 in
sechzig Ländern etwa zeigt, dass Mädchen die Buben beim Verstehen und
Verarbeiten von Texten übertreffen und mehr Hausaufgaben machen, aber in
Mathematik schlechter abschneiden.
Man hat dieses Resultat
vermutet, gar erwartet. Und vielleicht liegt das Problem gerade darin, dass die
Aufarbeitung von geschlechterspezifischen Leistungen zu einer sich selbst
erfüllenden Vorhersage wird. Wer dauernd belegt bekommt, dass Mädchen besser
lesen und Buben faul sind, beginnt die Realität nach diesem Wissen zu
strukturieren. Die OECD-Analyse zeigt da auch eine Beobachtung, von der leider
selten die Rede ist: Die Tatsache, dass Buben in anonymen Tests besser
abschneiden. Der Geschlechterunterschied beim Textverständnis ist um ein
Drittel kleiner, wenn die Lehrperson die Bewertung vornimmt, ohne zu wissen, ob
ein Bub oder ein Mädchen den Test geschrieben hat. Wie meine Tochter sind auch
Lehrerinnen und Lehrer nicht gegen Stereotype geimpft. Auch sie haben
Geschlechterbilder im Kopf, die ihre Arbeit beeinflussen. Das hat vergangeneWoche eine ETH-Studie erneut bewiesen. Sarah Hofer, Dozentin für empirischeLehr- und Lernforschung, legte 780 Lehrpersonen für Physik auf der Sekundarstufedie gleiche halbrichtige Antwort auf eine Prüfungsfrage zur Benotung vor.Mädchen wurden dafür um 0,7 Noten schlechter bewertet als Buben. In Österreichgar um beinahe eine ganze Note. Lediglich Lehrer und Lehrerinnen mit mindestenseinem Jahrzehnt Berufserfahrung benoteten geschlechterblind.
Dass gute Noten motivieren
und schlechte entmutigen, weiss jeder, der die Schulbank gedrückt hat. Und
damit schliesst sich der Kreis. Ein Stereotyp wird zur Realität. Die Realität
verstärkt das Stereotyp. Das beschneidet die Möglichkeiten von Mädchen und
Buben gleichermassen. Beide leisten in bestimmten Fächern nicht das, zu dem sie
eigentlich fähig wären. Auch mit einer Flut von Genderstudien lässt sich das
nicht ändern, mit einer Qualitätssteigerung an Schulen hingegen schon. Die
Leistungsunterschiede zwischen den Geschlechtern sind in den Ländern mit dem
besten Schulranking nämlich am kleinsten: In Singapur, Südkorea und Finnland
lesen Buben fast so gut wie Mädchen. Und Mädchen rechnen besser als Buben in
anderen Ländern.
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