12. Januar 2016

Geschlecht beeinflusst Noten

Vor allem Berufseinsteiger unter den Lehrkräften lassen ihr Urteilsvermögen trüben vom Geschlecht des Schülers. Mädchen erhalten schlechtere Noten, auch wenn sie die gleiche Antwort geben wie Buben. Dies zeigt eine ETH-Studie.
Schlechtere Noten für die Mädchen, NZZ, 12.1.


Trotz allen Bemühungen um Chancengleichheit zieht es auch heute noch wenige Mädchen in naturwissenschaftliche Berufsfelder. Sarah Hofer, Dozentin für empirische Lehr- und Lernforschung an der ETH Zürich, wollte herausfinden, ob das teilweise auf Rollenklischees der Lehrerschaft zurückzuführen ist. Im Rahmen einer Studie legte sie 780 Physiklehrerinnen und Physiklehrern auf der Sekundarstufe die gleiche halbrichtige Antwort auf eine Prüfungsfrage zur Benotung vor. Diese lautete kurz zusammengefasst: Ein schwereres und ein leichteres Kind halten das gleiche Seil, während jedes auf seinem Skateboard steht. Was geschieht, wenn das schwerere Kind zu ziehen beginnt? Die fiktive Schülerin oder der fiktive Schüler hatte die Frage in einem kurzen Text beantwortet. Im Erläuterungstext zur Lehrerbefragung wurde das Geschlecht des Prüflings erwähnt, dann aber vorgegeben, in der Studie gehe es lediglich um den Vergleich verschiedener Methoden zum Korrigieren von Prüfungen. Die Lehrerinnen und Lehrer, die an der Studie teilnahmen, stammten aus der Schweiz, aus Österreich und aus Deutschland.
Das Resultat fiel ernüchternd aus. In der Schweiz und in Österreich benoteten jene Lehrer und Lehrerinnen, welche seit weniger als zehn Jahren unterrichten, die Mädchen signifikant schlechter als die Buben. Wie Hofer im «International Journal of Science Education» schreibt, betrug der Unterschied in der Schweiz durchschnittlich 0,7 Noten, in Österreich gar 0,9. Die Lernforscherin ist nicht allzu überrascht vom Befund, da frühere Untersuchungen im Fach Mathematik ähnliche Ergebnisse zeigten. Immerhin: Die erfahrenen Lehrpersonen tappten nicht in die Geschlechterfalle. Bei Physiklehrerinnen und -lehrern mit über zehnjähriger Berufserfahrung hatte das Geschlecht der Schüler keinen Einfluss auf die Noten. Dies stimme sie optimistisch, sagt Hofer. Die erfahrenen Lehrpersonen verfielen offenbar nicht mehr in solche Stereotype. Möglicherweise habe sie ihre Unterrichtspraxis dazu gebracht, allfällige Vorurteile zu revidieren. Oder ihre Lehrerfahrung helfe ihnen dabei, die Bewertung besser zu strukturieren, so dass sie sich nicht von zusätzlichen Informationen ablenken liessen.
Nicht restlos erklären kann sich Hofer die Resultate aus Deutschland: Hier benoteten die unerfahrenen männlichen Lehrpersonen unabhängig vom Geschlecht des Schülers; die Lehrerinnen hingegen bewerteten die Antworten der Mädchen durchschnittlich um 0,9 Noten schlechter. Möglicherweise waren die Junglehrer dort speziell im Fokus von sogenannten Mint-Programmen, rätselt Hofer. Damit sollen Schülerinnen, aber auch Schüler vermehrt an Fächer wie Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik herangeführt werden. Denkbar wäre auch, dass die deutschen Lehrerinnen glauben, als Frauen liessen sie sich von Geschlechterstereotypen nicht beeinflussen. Mint-Programme gibt es in allen drei untersuchten Ländern.

Die Noten wirkten sich stark auf das Selbstverständnis der Schülerinnen aus, sagt Hofer. Bewerte man sie schlechter, so leide ihre Motivation. Die Lehrpersonen sollten daher bei jeder Prüfung ein klares Bewertungsschema verwenden, das festlege, für welche Teilantworten welche Punkte vergeben würden. Idealerweise decke man beim Korrigieren die Namen ab.

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