Vor allem Berufseinsteiger unter den
Lehrkräften lassen ihr Urteilsvermögen trüben vom Geschlecht des Schülers.
Mädchen erhalten schlechtere Noten, auch wenn sie die gleiche Antwort geben wie
Buben. Dies zeigt eine ETH-Studie.
Schlechtere Noten für die Mädchen, NZZ, 12.1.
Trotz
allen Bemühungen um Chancengleichheit zieht es auch heute noch wenige Mädchen
in naturwissenschaftliche Berufsfelder. Sarah Hofer, Dozentin für empirische
Lehr- und Lernforschung an der ETH Zürich, wollte herausfinden, ob das
teilweise auf Rollenklischees der Lehrerschaft zurückzuführen ist. Im Rahmen
einer Studie legte sie 780 Physiklehrerinnen und Physiklehrern auf der
Sekundarstufe die gleiche halbrichtige Antwort auf eine Prüfungsfrage zur
Benotung vor. Diese lautete kurz zusammengefasst: Ein schwereres und ein leichteres
Kind halten das gleiche Seil, während jedes auf seinem Skateboard steht. Was
geschieht, wenn das schwerere Kind zu ziehen beginnt? Die fiktive Schülerin
oder der fiktive Schüler hatte die Frage in einem kurzen Text beantwortet. Im
Erläuterungstext zur Lehrerbefragung wurde das Geschlecht des Prüflings
erwähnt, dann aber vorgegeben, in der Studie gehe es lediglich um den Vergleich
verschiedener Methoden zum Korrigieren von Prüfungen. Die Lehrerinnen und
Lehrer, die an der Studie teilnahmen, stammten aus der Schweiz, aus Österreich
und aus Deutschland.
Das
Resultat fiel ernüchternd aus. In der Schweiz und in Österreich benoteten jene
Lehrer und Lehrerinnen, welche seit weniger als zehn Jahren unterrichten, die
Mädchen signifikant schlechter als die Buben. Wie Hofer im «International
Journal of Science Education» schreibt, betrug der Unterschied in der Schweiz
durchschnittlich 0,7 Noten, in Österreich gar 0,9. Die Lernforscherin ist nicht
allzu überrascht vom Befund, da frühere Untersuchungen im Fach Mathematik
ähnliche Ergebnisse zeigten. Immerhin: Die erfahrenen Lehrpersonen tappten
nicht in die Geschlechterfalle. Bei Physiklehrerinnen und -lehrern mit über
zehnjähriger Berufserfahrung hatte das Geschlecht der Schüler keinen Einfluss
auf die Noten. Dies stimme sie optimistisch, sagt Hofer. Die erfahrenen
Lehrpersonen verfielen offenbar nicht mehr in solche Stereotype. Möglicherweise
habe sie ihre Unterrichtspraxis dazu gebracht, allfällige Vorurteile zu
revidieren. Oder ihre Lehrerfahrung helfe ihnen dabei, die Bewertung besser zu
strukturieren, so dass sie sich nicht von zusätzlichen Informationen ablenken
liessen.
Nicht
restlos erklären kann sich Hofer die Resultate aus Deutschland: Hier benoteten
die unerfahrenen männlichen Lehrpersonen unabhängig vom Geschlecht des
Schülers; die Lehrerinnen hingegen bewerteten die Antworten der Mädchen
durchschnittlich um 0,9 Noten schlechter. Möglicherweise waren die Junglehrer
dort speziell im Fokus von sogenannten Mint-Programmen, rätselt Hofer. Damit
sollen Schülerinnen, aber auch Schüler vermehrt an Fächer wie Mathematik,
Informatik, Naturwissenschaften und Technik herangeführt werden. Denkbar wäre
auch, dass die deutschen Lehrerinnen glauben, als Frauen liessen sie sich von
Geschlechterstereotypen nicht beeinflussen. Mint-Programme gibt es in allen
drei untersuchten Ländern.
Die
Noten wirkten sich stark auf das Selbstverständnis der Schülerinnen aus, sagt
Hofer. Bewerte man sie schlechter, so leide ihre Motivation. Die Lehrpersonen
sollten daher bei jeder Prüfung ein klares Bewertungsschema verwenden, das
festlege, für welche Teilantworten welche Punkte vergeben würden. Idealerweise
decke man beim Korrigieren die Namen ab.
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