16. Januar 2016

Die Schule des Larifari

Meine Mutter, eine gelernte und begeisterte Kindergärtnerin, hielt nicht viel von vorschulischer Elitenbildung. Ihr lag es also fern, mich schon vor dem Kindergarten das Lesen und Schreiben zu lehren, sodass ich, als ich in die erste Klasse der Primarschule eintrat, gar nichts konnte ausser Legosteine zusammenzubauen und begehrte Spezialteile vor dem Zugriff der Konkurrenz zu bunkern. Mein Schulbeginn verlief traumatisch, die Überforderung war erdrückend, meine Handschrift, die es nicht gab, ein Desaster. Besonders schwer fiel mir das «S» – ich weiss nicht, warum. Spuren dieser frühen motorischen Störung könnten meinen Psychiater beschäftigen, sofern es ihn gäbe, denn das Ausmass des Versagens ist doch bestürzend. Noch heute besitze ich mein erstes Schönschreibheft. Selten wage ich es anzuschauen; es muss mir gut gehen. Vielleicht habe ich es unbewusst aufbewahrt, um meine Kinder zu Tode zu erschrecken und davor zu warnen, was ihnen wider­fahren könnte, wenn sie dem Beispiel des Vaters folgten: Es sind keine Buchstaben, sondern Hilferufe. Exemplare einer modernen Keilschrift, verschriftlichte Krächzlaute, Beleidigungen für jeden Schulmeister, der etwas auf sich hält. So begann meine Zeit des jahrelangen Leidens.



















Durch Üben zum Erfolg: Thurgauer Schulklasse 1934, Bild: Fotostiftung Schweiz
Unsere Kinder sollen die Schnürlischrift nicht mehr lernen. Warum? Darum. Basler Zeitung, 16.1. Kommentar von Markus Somm


Was Frau Kessler, meine erste Lehrerin, dagegen tat: Es ist mir nicht mehr bewusst. Doch ­Fräulein Nicolini, eine junge, energische Lehrerin, die uns als zweite Klasse übernahm, ist mir präsent, als müsste ich morgen zu ihr in den Unterricht. Ich liebte sie, ich hasste sie. Wir nannten sie «Fräulein», wie es sich in den Siebzigerjahren noch gehörte, doch sie war alles andere als ein Fräulein. Sie war wohl der beste Lehrer, den ich je hatte, auch wenn ich unter ihr litt. Frisch vom Lehrer­seminar gekommen, mit dem Enthusiasmus und der Siegesgewissheit der jungen Berufsfrau ausgestattet, setzte sie alles daran, mir die Errungenschaften der westlich-eidgenössischen Zivilisation in Form der Schnürlischrift beizu­bringen. Ich musste Stunden nachsitzen – und ich erinnere mich, wie ich einsam im Klassenzimmer sass und mich bemühte, die Formen zu bändigen, das «S» im Besonderen, das in meiner Schrift nie zwei Mal gleich aussah. Zu allem Elend – und das provozierte Fräulein Nicolini am meisten – hielt ich auch den Fülli falsch. Mag sein, dass die Angst mich dazu verleitete, den Fülli zu umkrallen, als wollte ich ihn erwürgen: Wer mir beim Schreiben zusah, musste meinen, ich stünde kurz vor dem Zusammenbruch. So verbissen, so verkrampft klammerte ich mich an den Fülli, als liefe er mir davon – was ja im Grunde genommen zutraf. Der Fülli machte, was er wollte, nicht einmal Fräulein Nicolini vermochte ihn zu beherrschen, was sie umso gnadenloser machte. Es waren harte Zeiten, weil Fräulein Nicolini nicht locker liess – und ich lernte es nie. Die Überstunden häuften sich, was meine Mutter – so waren damals die Eltern – aber nie dazu veranlasste, einmal nachzufragen, warum denn ihr Sohn dermassen versagte. Man liess die junge Lehrerin wüten, in der Meinung, es müsste am Sohn liegen. Heute riefe man den Anwalt oder wendete sich an den Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg.

Tage des Zorns
Angesichts dieses Massakers im Klassen­zimmer: Wer würde mich nicht verstehen, wenn ich jetzt mit einer gewissen Genugtuung feststellte, dass die Schweizer Schulschrift, genannt Schnürlischrift, endlich beseitigt wird? Statt­dessen ergreift mich Trauer – und Zorn.
Vom neuen Schuljahr 2016/2017 an möchte auch der Kanton Basel-Stadt die Schnürlischrift nicht mehr lehren, sondern den Schülerinnen und Schülern die sogenannte Basisschrift beibringen, die mehr oder weniger einer infantilen Blockschrift gleicht. Auch Zürich hat das vor, Luzern ging vor zwei Jahren voraus, viele andere Kantone ebenfalls. Die entsprechenden Erziehungs- (oder Bildungs-)departemente setzen damit eine Empfehlung der Deutschschweizer Erziehungsdirektoren-Konferenz (EDK) um, die sich ihrerseits auf einen Bericht der «Arbeitsgruppe Schrift» stützt, einem Club, von dem wir Bürger, Steuerzahler und Eltern noch nie etwas gehört haben, ein Gremium, das wohl weder demokratisch sonderlich legitimiert, noch dass dessen Zusammensetzung je lange diskutiert worden wäre. Experten, denen nichts mehr Neues einfällt, beraten Experten, die Probleme entdecken, von denen wir nichts gewusst haben, und am Ende beenden ein paar Politiker in einem Gremium (der EDK), das in unserer Verfassung eigentlich gar nicht vorkommt, mehr als siebzig Jahre schweizerischer Kultur- und Bildungsgeschichte mit einem Federstrich. Und Fräulein Nicolinis Bemühungen werden von einem Tag auf den andern entwertet. Wer kann in ein paar Jahren die Briefe seiner Grosseltern noch lesen? Eine Kulturrevolution frisst ihre Enkel.

Die Sache ist viel ernster, als sie auf den ersten Blick erscheint. Zum einen verstärkt diese unverhoffte Reform erneut den Eindruck, unsere Bildungspolitiker kämen aus dem Reformieren nicht mehr heraus. Als ob sie einem Neuerungszwang unterlägen, wird die Schule permanent umgewälzt, als müsste man Energie und Geld ver­brennen, weil wir zu viel davon besitzen. L’art pour l’art. Ich reformiere, also bin ich. Hat irgend­jemand einen Leserbrief geschrieben und sich über die Schnürlischrift beklagt? Haben wir echte Nachteile erkannt, leidet unsere Wettbewerbs­fähigkeit unter der Schnürlischrift oder verfallen unsere Kinder der Depression, weil sie verbunden schreiben müssen? Als Bürger möchte ich gerne wissen, was diese Umstellung am Ende kostet – und was sie bewirkt.

Vom Wert der Langeweile
Zum anderen atmet diese Reform einen Zeitgeist, den es längst zu überwinden gälte, weil er nicht mehr passt in eine Zukunft, die ungleich härter wird, als was diese Reform- und Reförmchen-Pädagogen (meiner Generation) selber in ihrer Jugend erlebt haben. Dieser veraltete Zeitgeist, für den symbolisch das Jahr 1968 stehen mag, bedeutete auf die Schule angewandt: Alles, was schwer und mühsam schien, sollte beseitigt werden. Jedes Hindernis, jede Gefahr, jede Anstrengung wollte man unseren Kindern ersparen, weil es doch nichts brachte. Diktat, Orthografie, korrektes Deutsch, Heftordnung, Drill, Repe­tition, Wörter büffeln, Gedichte auswendig ­lernen, pauken und schön schreiben: Waren das nicht die Sekundärtugenden der Reaktion? Alles, was repetitiv und langweilig wirkte, was nach Schweiss roch und nach Tränen aussah, galt als zwecklos, wenn nicht schädlich und moralisch zweifelhaft. Nichts verkörperte diese sinnlose ­Disziplinierung der unterdrückten Schülerschaft vielleicht besser als die Schnürlischrift, die nur nach stundenlangem, dumpfem Martyrium erlernt werden konnte. «Der hohe Verbindungsgrad und die vielen Drehrichtungswechsel», schreibt die «Arbeitsgruppe Schrift» in ihrem Bericht an die EDK besorgt, «sind anspruchsvoll und können zu Verspannungen führen.» Unsere armen Kinder.

Doch so sinnlos war es nicht. Disziplin ist eine Voraussetzung für Exzellenz. Wie kann ein Zweitklässler Disziplin lernen, wenn nicht durch scheinbar unnützes Wiederholen? Es sind diese ungeheuer öden, traurigen Stunden im Klassenzimmer, die einen auf Schlimmeres vorbereiten. Wer dies auszuhalten nicht lernt, wird auch im Leben als Erwachsener nichts Negatives ertragen können. Er wird aber auch nichts erreichen, weil es ihm an Härte und Ausdauer mangelt. In seinem brillanten Buch über aussergewöhnlich erfolgreiche Menschen oder auf Englisch besser: «Outliers», kam der kanadische Wissenschaftsjournalist Malcolm Gladwell zum Schluss, dass niemand etwas Ausserordentliches zu leisten imstande ist, der nicht gelernt hat, fast sklavisch zu üben, zu üben und noch einmal zu üben. Rund zehntausend Stunden davon sind nötig, um aus einem Talent ein Genie zu machen, wie Gladwell am Beispiel von Bill Gates oder den Beatles aufzeigt.

Im Trainingslager des Elends
Wer seine Schüler vor «Verspannungen» be­­wahren will, wie das unsere Pädagogen der Leichtigkeit des Seins offenbar für nötig halten, tut ihnen keinen Gefallen. Wie ewige Kinder werden unsere Kinder, wenn sie erwachsen sind, am Leben zer­brechen, weil sie niemand auf Rückschläge, Langeweile, ungerechte Chefs und schlechten Geschäftsgang eingeübt hat. Das Erlernen der Schnürlischrift war eine dieser, vergleichsweise harmlosen Tra­gödien im jungen Leben, die einen darauf gefasst machten, was an Miseren sonst noch droht.
Fräulein Nicolini behielt unser Klasse vier Jahre lang. Vier lange Jahre. Die Schnürlischrift erlernte ich zwar, wenn auch das Ergebnis jämmerlich blieb. Doch an meiner falschen Art und Weise, wie ich den Fülli hielt, scheiterte auch Fräulein Nicolini. Ich halte den Fülli noch heute so. Und ein Teil meiner Kinder ahmt mich nach.

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