Meine Mutter, eine
gelernte und begeisterte Kindergärtnerin, hielt nicht viel von vorschulischer
Elitenbildung. Ihr lag es also fern, mich schon vor dem Kindergarten das Lesen
und Schreiben zu lehren, sodass ich, als ich in die erste Klasse der
Primarschule eintrat, gar nichts konnte ausser Legosteine zusammenzubauen und
begehrte Spezialteile vor dem Zugriff der Konkurrenz zu bunkern. Mein Schulbeginn
verlief traumatisch, die Überforderung war erdrückend, meine Handschrift, die
es nicht gab, ein Desaster. Besonders schwer fiel mir das «S» – ich weiss
nicht, warum. Spuren dieser frühen motorischen Störung könnten meinen
Psychiater beschäftigen, sofern es ihn gäbe, denn das Ausmass des Versagens ist
doch bestürzend. Noch heute besitze ich mein erstes Schönschreibheft. Selten
wage ich es anzuschauen; es muss mir gut gehen. Vielleicht habe ich es
unbewusst aufbewahrt, um meine Kinder zu Tode zu erschrecken und davor zu
warnen, was ihnen widerfahren könnte, wenn sie dem Beispiel des Vaters
folgten: Es sind keine Buchstaben, sondern Hilferufe. Exemplare einer modernen
Keilschrift, verschriftlichte Krächzlaute, Beleidigungen für jeden
Schulmeister, der etwas auf sich hält. So begann meine Zeit des jahrelangen
Leidens.
Durch Üben zum Erfolg: Thurgauer Schulklasse 1934, Bild: Fotostiftung Schweiz
Unsere Kinder sollen die Schnürlischrift nicht mehr lernen. Warum? Darum. Basler Zeitung, 16.1. Kommentar von Markus Somm
Was Frau Kessler, meine
erste Lehrerin, dagegen tat: Es ist mir nicht mehr bewusst. Doch Fräulein
Nicolini, eine junge, energische Lehrerin, die uns als zweite Klasse übernahm,
ist mir präsent, als müsste ich morgen zu ihr in den Unterricht. Ich liebte
sie, ich hasste sie. Wir nannten sie «Fräulein», wie es sich in den
Siebzigerjahren noch gehörte, doch sie war alles andere als ein Fräulein. Sie
war wohl der beste Lehrer, den ich je hatte, auch wenn ich unter ihr litt.
Frisch vom Lehrerseminar gekommen, mit dem Enthusiasmus und der
Siegesgewissheit der jungen Berufsfrau ausgestattet, setzte sie alles daran,
mir die Errungenschaften der westlich-eidgenössischen Zivilisation in Form der
Schnürlischrift beizubringen. Ich musste Stunden nachsitzen – und ich
erinnere mich, wie ich einsam im Klassenzimmer sass und mich bemühte, die
Formen zu bändigen, das «S» im Besonderen, das in meiner Schrift nie zwei Mal
gleich aussah. Zu allem Elend – und das provozierte Fräulein Nicolini am
meisten – hielt ich auch den Fülli falsch. Mag sein, dass die Angst mich
dazu verleitete, den Fülli zu umkrallen, als wollte ich ihn erwürgen: Wer mir
beim Schreiben zusah, musste meinen, ich stünde kurz vor dem Zusammenbruch. So
verbissen, so verkrampft klammerte ich mich an den Fülli, als liefe er mir
davon – was ja im Grunde genommen zutraf. Der Fülli machte, was er wollte,
nicht einmal Fräulein Nicolini vermochte ihn zu beherrschen, was sie umso
gnadenloser machte. Es waren harte Zeiten, weil Fräulein Nicolini nicht locker
liess – und ich lernte es nie. Die Überstunden häuften sich, was meine
Mutter – so waren damals die Eltern – aber nie dazu veranlasste,
einmal nachzufragen, warum denn ihr Sohn dermassen versagte. Man liess die
junge Lehrerin wüten, in der Meinung, es müsste am Sohn liegen. Heute riefe man
den Anwalt oder wendete sich an den Gerichtshof für Menschenrechte in
Strassburg.
Tage des Zorns
Angesichts dieses
Massakers im Klassenzimmer: Wer würde mich nicht verstehen, wenn ich jetzt mit
einer gewissen Genugtuung feststellte, dass die Schweizer Schulschrift, genannt
Schnürlischrift, endlich beseitigt wird? Stattdessen ergreift mich
Trauer – und Zorn.
Vom neuen Schuljahr
2016/2017 an möchte auch der Kanton Basel-Stadt die Schnürlischrift nicht mehr
lehren, sondern den Schülerinnen und Schülern die sogenannte Basisschrift
beibringen, die mehr oder weniger einer infantilen Blockschrift gleicht. Auch
Zürich hat das vor, Luzern ging vor zwei Jahren voraus, viele andere Kantone
ebenfalls. Die entsprechenden Erziehungs- (oder Bildungs-)departemente setzen
damit eine Empfehlung der Deutschschweizer Erziehungsdirektoren-Konferenz (EDK)
um, die sich ihrerseits auf einen Bericht der «Arbeitsgruppe Schrift» stützt,
einem Club, von dem wir Bürger, Steuerzahler und Eltern noch nie etwas gehört
haben, ein Gremium, das wohl weder demokratisch sonderlich legitimiert, noch
dass dessen Zusammensetzung je lange diskutiert worden wäre. Experten, denen
nichts mehr Neues einfällt, beraten Experten, die Probleme entdecken, von denen
wir nichts gewusst haben, und am Ende beenden ein paar Politiker in einem
Gremium (der EDK), das in unserer Verfassung eigentlich gar nicht vorkommt,
mehr als siebzig Jahre schweizerischer Kultur- und Bildungsgeschichte mit einem
Federstrich. Und Fräulein Nicolinis Bemühungen werden von einem Tag auf den
andern entwertet. Wer kann in ein paar Jahren die Briefe seiner Grosseltern
noch lesen? Eine Kulturrevolution frisst ihre Enkel.
Die Sache ist viel
ernster, als sie auf den ersten Blick erscheint. Zum einen verstärkt diese
unverhoffte Reform erneut den Eindruck, unsere Bildungspolitiker kämen aus dem
Reformieren nicht mehr heraus. Als ob sie einem Neuerungszwang unterlägen, wird
die Schule permanent umgewälzt, als müsste man Energie und Geld verbrennen,
weil wir zu viel davon besitzen. L’art pour l’art. Ich reformiere, also bin
ich. Hat irgendjemand einen Leserbrief geschrieben und sich über die
Schnürlischrift beklagt? Haben wir echte Nachteile erkannt, leidet unsere
Wettbewerbsfähigkeit unter der Schnürlischrift oder verfallen unsere Kinder
der Depression, weil sie verbunden schreiben müssen? Als Bürger möchte ich
gerne wissen, was diese Umstellung am Ende kostet – und was sie bewirkt.
Vom Wert der Langeweile
Zum anderen atmet diese
Reform einen Zeitgeist, den es längst zu überwinden gälte, weil er nicht mehr
passt in eine Zukunft, die ungleich härter wird, als was diese Reform- und
Reförmchen-Pädagogen (meiner Generation) selber in ihrer Jugend erlebt haben.
Dieser veraltete Zeitgeist, für den symbolisch das Jahr 1968 stehen mag,
bedeutete auf die Schule angewandt: Alles, was schwer und mühsam schien, sollte
beseitigt werden. Jedes Hindernis, jede Gefahr, jede Anstrengung wollte man
unseren Kindern ersparen, weil es doch nichts brachte. Diktat, Orthografie,
korrektes Deutsch, Heftordnung, Drill, Repetition, Wörter büffeln, Gedichte
auswendig lernen, pauken und schön schreiben: Waren das nicht die
Sekundärtugenden der Reaktion? Alles, was repetitiv und langweilig wirkte, was
nach Schweiss roch und nach Tränen aussah, galt als zwecklos, wenn nicht
schädlich und moralisch zweifelhaft. Nichts verkörperte diese sinnlose Disziplinierung
der unterdrückten Schülerschaft vielleicht besser als die Schnürlischrift, die
nur nach stundenlangem, dumpfem Martyrium erlernt werden konnte. «Der hohe
Verbindungsgrad und die vielen Drehrichtungswechsel», schreibt die
«Arbeitsgruppe Schrift» in ihrem Bericht an die EDK besorgt, «sind
anspruchsvoll und können zu Verspannungen führen.» Unsere armen Kinder.
Doch so sinnlos war es
nicht. Disziplin ist eine Voraussetzung für Exzellenz. Wie kann ein
Zweitklässler Disziplin lernen, wenn nicht durch scheinbar unnützes
Wiederholen? Es sind diese ungeheuer öden, traurigen Stunden im Klassenzimmer,
die einen auf Schlimmeres vorbereiten. Wer dies auszuhalten nicht lernt, wird
auch im Leben als Erwachsener nichts Negatives ertragen können. Er wird aber
auch nichts erreichen, weil es ihm an Härte und Ausdauer mangelt. In seinem
brillanten Buch über aussergewöhnlich erfolgreiche Menschen oder auf Englisch
besser: «Outliers», kam der kanadische Wissenschaftsjournalist Malcolm Gladwell
zum Schluss, dass niemand etwas Ausserordentliches zu leisten imstande ist, der
nicht gelernt hat, fast sklavisch zu üben, zu üben und noch einmal zu üben.
Rund zehntausend Stunden davon sind nötig, um aus einem Talent ein Genie zu
machen, wie Gladwell am Beispiel von Bill Gates oder den Beatles aufzeigt.
Im Trainingslager des
Elends
Wer seine Schüler vor
«Verspannungen» bewahren will, wie das unsere Pädagogen der Leichtigkeit des
Seins offenbar für nötig halten, tut ihnen keinen Gefallen. Wie ewige Kinder
werden unsere Kinder, wenn sie erwachsen sind, am Leben zerbrechen, weil sie
niemand auf Rückschläge, Langeweile, ungerechte Chefs und schlechten
Geschäftsgang eingeübt hat. Das Erlernen der Schnürlischrift war eine dieser,
vergleichsweise harmlosen Tragödien im jungen Leben, die einen darauf gefasst
machten, was an Miseren sonst noch droht.
Fräulein
Nicolini behielt unser Klasse vier Jahre lang. Vier lange Jahre. Die
Schnürlischrift erlernte ich zwar, wenn auch das Ergebnis jämmerlich blieb.
Doch an meiner falschen Art und Weise, wie ich den Fülli hielt, scheiterte auch
Fräulein Nicolini. Ich halte den Fülli noch heute so. Und ein Teil meiner
Kinder ahmt mich nach.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen