20. Dezember 2015

In die pädagogische Rumpelkammer!

Bald jedes Jahr werden neue „ultimative“ Lern- und Lehrmethoden ausgerufen. Und verschwinden bald wieder in der Versenkung. So wie bald das „jahrgangsübergreifende“ Lernen und das Arbeitsbogenunwesen.











Mit der Qualität und Aura der Lehrpersonen steht und fällt jedes Unterrichtskonzept, Bild: picture alliance
Warum Ihr Kind bald wieder Frontalunterricht hat, Die Welt, 17.12. von Alan Posener


In der Klasse sitzen Kinder verschiedener Altersgruppen: Schulanfänger und Kinder, die schon drei Jahre zur Schule gehen. Warum sie zusammen sitzen ist nicht klar, da jedes Kind einzeln lernt. Ab und zu steht ein Kind auf und läuft zu einem Fach, aus dem es einen Arbeitsbogen zieht, mit dem es zu seinem Platz zurückkehrt.

Die Lehrerinnen halten sich zurück; eine kümmert sich vielleicht um ein Kind, das mit seinem Arbeitsbogen nicht klarkommt; eine andere geht herum und kontrolliert, dass alle etwas tun.

Was hier verwirklicht wird, ist die gegenwärtig herrschende Didaktiktheorie. Inklusion und Individualisierung heißen die – einander widersprechenden – Stichworte. Selbstbestimmtes Lernen im eigenen Tempo statt "Lehrerzentrierung" ist angesagt. Wo das funktioniert, ist eine solche jahrgangsübergreifende Klasse eine imponierende, summende Lernmaschine. Wo es nicht funktioniert, ein Chaos.

Ob aber diese Art des Unterrichts funktioniert oder nicht – für die Lehrerinnen bedeuten die Vorgaben eine enorme Mehrarbeit: Für jedes Kind sollte idealerweise ein auf seine Fähigkeiten und Bedürfnisse abgestimmtes Lernprogramm zur Verfügung stehen. Die Ergebnisse müssen dann auch individuell ausgewertet werden und als Feedback zur Korrektur des Programms führen.

Und ob das jahrgangsübergreifende und individualisierte Lernen funktioniert oder nicht: Wenn die Kinder in Lerngruppen kommen, wo sie miteinander interagieren sollen, können sie es nicht. Zuhören, wenn ein anderes Kind etwas sagt; Eingehen auf dessen Beiträge; mit der Lehrerin und der Klasse zusammen ein Experiment auswerten oder eine Frage der Verhaltensmoral ausdiskutieren: geht nicht. Das haben die Kinder ja nicht gelernt. Sie sind Einzelkinder geblieben.

Experimenteller Beweis? Fehlanzeige!
Dabei ist es wichtig zu wissen, dass es keine experimentellen Belege gibt, die darauf hinweisen, dass Kinder in jahrgangsübergreifenden Gruppen oder in Eigenarbeit besser lernen. Im Gegenteil, wie wir gleich sehen werden. Die gegenwärtig herrschende Didaktikmode ist denn auch nicht Ergebnis experimenteller Arbeit, sie ist Ausfluss von Wunschdenken.

Selbstständigkeit gilt als Wert, zu Recht, also wird eigenbrötlerisch gelernt, zu Unrecht. Individualisierung – "jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen" – ist ein Ideal, zu Recht, also arbeitet jeder nach einem individualisierten Lernplan, zu Unrecht.
Inklusion ist ein Ziel der Gesellschaft, zu Recht, also werden die ohnehin divergierenden Begabungen und Interessen eines Jahrgangs, in dem vielleicht auch einige Kinder mit Lernschwierigkeiten – zu Recht – sitzen, noch potenziert durch jahrgangsübergreifendes Lernen, zu Unrecht.

Autoritäre Führungsstrukturen werden abgelehnt, zu Recht, also wird die Führung des Unterrichts durch den Lehrer abgelehnt, zu Unrecht. Wie Goethes Mephisto sagte: Sinn wird Unsinn, Wohltat Plage.

Aber mit dieser Plage dürfte es bald ein Ende nehmen. Didaktische Moden gehorchen einer Wellenbewegung; das, was einer Pädagogengeneration heilig war, gilt der nächsten als Götzendienst. Klassengemeinschaft und Lehrercharisma, Unterrichtsgespräch und Dialog werden nun wiederentdeckt. In der angelsächsischen Welt, wo sonst. Womit gesichert ist, dass die neue alte Didaktik bald zu uns herüberschwappen wird.

Lehrerpersönlichkeit zählt
Wer das Glück hatte, eine gute Lehrerin oder einen guten Lehrer zu erleben, und sei es nur für ein paar Schuljahre, weiß, wie wichtig die Lehrerpersönlichkeit ist. Man lernt nach der Theorie für sich, obwohl man nicht weiß, wer man ist, und für das Leben, obwohl man davon keine Vorstellung hat; in Wirklichkeit lernt man für den Lehrer. Diese Erfahrungstatsache wurde in den Jahren 1967 bis 1995 im größten Erziehungsexperiment aller Zeiten bestätigt.

Es ging um den "Krieg gegen die Armut", den US-Präsident Lyndon B. Johnson ausgerufen hatte. Verschiedene Didaktiker wurden eingeladen, Erziehungsmethoden vorzuschlagen, die besonders auf die Bedürfnisse ärmerer und bildungsferner Kinder abgestimmt sein sollten. Die Ergebnisse der verschiedenen Methoden wurden über fast 30 Jahre verfolgt.
Die erfolgreichste war das sogenannte "Direct Instruction"-Modell von Siegfried ("Zig") Engelmann: eine extrem lehrerzentrierte Methode, die eine genaue Planung jeder Unterrichtsstunde verlangt und darauf abzielt, die Lerngruppe insgesamt voranzubringen: das Gegenteil vom individualisierten "entdeckenden Lernen", bei dem der Weg das Ziel und die Lehrkraft eher Gehilfe als Meister ist. Die Ergebnisse passten allerdings nicht zum herrschenden Ideal; Zig Engelmann wird im Lehrerseminar nicht erwähnt.

Nun mag "Direkt Instruction", der verpönte "Frontalunterricht" also, für junge Kinder und Kinder mit Lernschwierigkeiten gut sein; ganz gewiss zum Beispiel für die Migranten, die zu uns kommen und schnell Deutsch lernen müssen; aber übrigens auch für hoch motivierte Erwachsene, die schnell einen bestimmten Stoff lernen wollen.
Für ältere Kinder und junge Erwachsene sind eher dialogische Formen des Lernens angemessen. Das – hierzulande als "Gängelung" verpönte – "fragend-entwickelnde Unterrichtsgespräch" wird inzwischen von amerikanischen Intelligenzforschern wie Christa Asterhan wiederentdeckt. Lernen wird entindividualisiert; seine soziale und interaktive Dimension wird wiederentdeckt.

Die hohe Kunst der Führung
Wie jede erfahrene Lehrkraft weiß, verlangt auch diese Unterrichtsform, soll sie nicht zu einer Farce verkommen, bei der die Schüler raten müssen, was der Lehrer eigentlich hören will, die hohe Kunst der Führung, die Bereitschaft, ein Lernziel auch auf Umwegen zu erreichen; den Respekt vor den Schülern und den Respekt der Schüler für die Lehrkraft.
Ohne Charisma ist weder durch direktes Unterrichten noch durch das Gespräch irgendetwas zu erreichen. An der Lehrerin und ihrer Fähigkeit, mit einer Gruppe zu interagieren, ja aus einer Ansammlung von Individuen eine Lerngruppe erst zu schaffen, hängt alles. Eine der wenigen pädagogischen Erkenntnisse, die nie veralten.
Die Klasse wird also wiederentdeckt, der Frontalunterricht und das soziale Lernen im Gespräch, und mit ihm die zentrale Bedeutung der Lehrkraft.

Jahrgangsübergreifende Gruppen, individualisiertes Lernen, das Arbeitsbogenunwesen und alles, was damit zusammenhängt, dürften sich bald in der Rumpelkammer der dummen pädagogischen Ideen wiederfinden, zusammen mit der Mengenlehre in der Mathematik, der Ganzheitsmethode des Lesenlernens, dem Sprachlabor und der Arbeitslehre; zusammen auch mit dem Rohrstock und dem ganzen Einschüchterungsarsenal der schwarzen Pädagogik.


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