Bald jedes Jahr werden
neue „ultimative“ Lern- und Lehrmethoden ausgerufen. Und verschwinden bald
wieder in der Versenkung. So wie bald das „jahrgangsübergreifende“ Lernen und
das Arbeitsbogenunwesen.
Mit der Qualität und Aura der Lehrpersonen steht und fällt jedes Unterrichtskonzept, Bild: picture alliance
Warum Ihr Kind bald wieder Frontalunterricht hat, Die Welt, 17.12. von Alan Posener
In der Klasse sitzen Kinder verschiedener
Altersgruppen: Schulanfänger und Kinder, die schon drei Jahre zur Schule gehen.
Warum sie zusammen sitzen ist nicht klar, da jedes Kind einzeln lernt. Ab und
zu steht ein Kind auf und läuft zu einem Fach, aus dem es einen Arbeitsbogen
zieht, mit dem es zu seinem Platz zurückkehrt.
Die Lehrerinnen halten sich zurück; eine kümmert
sich vielleicht um ein Kind, das mit seinem Arbeitsbogen nicht klarkommt; eine
andere geht herum und kontrolliert, dass alle etwas tun.
Was hier verwirklicht wird, ist die gegenwärtig
herrschende Didaktiktheorie. Inklusion und Individualisierung heißen die –
einander widersprechenden – Stichworte. Selbstbestimmtes Lernen im eigenen
Tempo statt "Lehrerzentrierung" ist angesagt. Wo das funktioniert,
ist eine solche jahrgangsübergreifende Klasse eine imponierende, summende
Lernmaschine. Wo es nicht funktioniert, ein Chaos.
Ob aber
diese Art des Unterrichts funktioniert oder nicht – für die Lehrerinnen
bedeuten die Vorgaben eine enorme Mehrarbeit: Für jedes Kind sollte
idealerweise ein auf seine Fähigkeiten und Bedürfnisse abgestimmtes
Lernprogramm zur Verfügung stehen. Die Ergebnisse müssen dann auch individuell
ausgewertet werden und als Feedback zur Korrektur des Programms führen.
Und ob
das jahrgangsübergreifende und individualisierte Lernen funktioniert oder
nicht: Wenn die Kinder in Lerngruppen kommen, wo sie miteinander interagieren
sollen, können sie es nicht. Zuhören, wenn ein anderes Kind etwas sagt;
Eingehen auf dessen Beiträge; mit der Lehrerin und der Klasse zusammen ein Experiment
auswerten oder eine Frage der Verhaltensmoral ausdiskutieren: geht nicht. Das
haben die Kinder ja nicht gelernt. Sie sind Einzelkinder geblieben.
Experimenteller Beweis? Fehlanzeige!
Dabei ist
es wichtig zu wissen, dass es keine experimentellen Belege gibt, die darauf
hinweisen, dass Kinder in jahrgangsübergreifenden Gruppen oder in Eigenarbeit
besser lernen. Im Gegenteil, wie wir gleich sehen werden. Die gegenwärtig
herrschende Didaktikmode ist denn auch nicht Ergebnis experimenteller Arbeit,
sie ist Ausfluss von Wunschdenken.
Selbstständigkeit
gilt als Wert, zu Recht, also wird eigenbrötlerisch gelernt, zu Unrecht.
Individualisierung – "jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen
Bedürfnissen" – ist ein Ideal, zu Recht, also arbeitet jeder nach einem
individualisierten Lernplan, zu Unrecht.
Inklusion
ist ein Ziel der Gesellschaft, zu Recht, also werden die ohnehin divergierenden
Begabungen und Interessen eines Jahrgangs, in dem vielleicht auch einige Kinder
mit Lernschwierigkeiten – zu Recht – sitzen, noch potenziert durch jahrgangsübergreifendes
Lernen, zu Unrecht.
Autoritäre
Führungsstrukturen werden abgelehnt, zu Recht, also wird die Führung des
Unterrichts durch den Lehrer abgelehnt, zu Unrecht. Wie Goethes Mephisto sagte:
Sinn wird Unsinn, Wohltat Plage.
Aber mit
dieser Plage dürfte es bald ein Ende nehmen. Didaktische Moden gehorchen einer
Wellenbewegung; das, was einer Pädagogengeneration heilig war, gilt der
nächsten als Götzendienst. Klassengemeinschaft und Lehrercharisma,
Unterrichtsgespräch und Dialog werden nun wiederentdeckt. In der
angelsächsischen Welt, wo sonst. Womit gesichert ist, dass die neue alte
Didaktik bald zu uns herüberschwappen wird.
Lehrerpersönlichkeit zählt
Wer das
Glück hatte, eine gute Lehrerin oder einen guten Lehrer zu erleben, und sei es
nur für ein paar Schuljahre, weiß, wie wichtig die Lehrerpersönlichkeit ist.
Man lernt nach der Theorie für sich, obwohl man nicht weiß, wer man ist, und
für das Leben, obwohl man davon keine Vorstellung hat; in Wirklichkeit lernt
man für den Lehrer. Diese Erfahrungstatsache wurde in den Jahren 1967 bis 1995
im größten Erziehungsexperiment aller Zeiten bestätigt.
Es ging
um den "Krieg gegen die Armut", den US-Präsident Lyndon B. Johnson
ausgerufen hatte. Verschiedene Didaktiker wurden eingeladen, Erziehungsmethoden
vorzuschlagen, die besonders auf die Bedürfnisse ärmerer und bildungsferner
Kinder abgestimmt sein sollten. Die Ergebnisse der verschiedenen Methoden
wurden über fast 30 Jahre verfolgt.
Die
erfolgreichste war das sogenannte "Direct Instruction"-Modell von
Siegfried ("Zig") Engelmann: eine extrem lehrerzentrierte Methode,
die eine genaue Planung jeder Unterrichtsstunde verlangt und darauf abzielt,
die Lerngruppe insgesamt voranzubringen: das Gegenteil vom individualisierten
"entdeckenden Lernen", bei dem der Weg das Ziel und die Lehrkraft
eher Gehilfe als Meister ist. Die Ergebnisse passten allerdings nicht zum
herrschenden Ideal; Zig Engelmann wird im Lehrerseminar nicht erwähnt.
Nun mag
"Direkt Instruction", der verpönte "Frontalunterricht"
also, für junge Kinder und Kinder mit Lernschwierigkeiten gut sein; ganz gewiss
zum Beispiel für die Migranten, die zu uns kommen und schnell Deutsch lernen
müssen; aber übrigens auch für hoch motivierte Erwachsene, die schnell einen
bestimmten Stoff lernen wollen.
Für
ältere Kinder und junge Erwachsene sind eher dialogische Formen des Lernens
angemessen. Das – hierzulande als "Gängelung" verpönte –
"fragend-entwickelnde Unterrichtsgespräch" wird inzwischen von
amerikanischen Intelligenzforschern wie Christa Asterhan wiederentdeckt. Lernen
wird entindividualisiert; seine soziale und interaktive Dimension wird
wiederentdeckt.
Die hohe Kunst der Führung
Wie jede
erfahrene Lehrkraft weiß, verlangt auch diese Unterrichtsform, soll sie nicht
zu einer Farce verkommen, bei der die Schüler raten müssen, was der Lehrer
eigentlich hören will, die hohe Kunst der Führung, die Bereitschaft, ein
Lernziel auch auf Umwegen zu erreichen; den Respekt vor den Schülern und den
Respekt der Schüler für die Lehrkraft.
Ohne Charisma ist weder durch direktes
Unterrichten noch durch das Gespräch irgendetwas zu erreichen. An der Lehrerin
und ihrer Fähigkeit, mit einer Gruppe zu interagieren, ja aus einer Ansammlung
von Individuen eine Lerngruppe erst zu schaffen, hängt alles. Eine der wenigen
pädagogischen Erkenntnisse, die nie veralten.
Die
Klasse wird also wiederentdeckt, der Frontalunterricht und das soziale Lernen
im Gespräch, und mit ihm die zentrale Bedeutung der Lehrkraft.
Jahrgangsübergreifende
Gruppen, individualisiertes Lernen, das Arbeitsbogenunwesen und alles, was
damit zusammenhängt, dürften sich bald in der Rumpelkammer der dummen pädagogischen Ideen wiederfinden,
zusammen mit der Mengenlehre in der Mathematik, der Ganzheitsmethode des
Lesenlernens, dem Sprachlabor und der Arbeitslehre; zusammen auch mit dem
Rohrstock und dem ganzen Einschüchterungsarsenal der schwarzen Pädagogik.
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