20. Dezember 2015

Keine Klassenvergrösserungen

Jürg Brühlmann, Leiter der Pädagogischen Arbeitsstelle des LCH, warnt vor einer Vergrösserung der Klassen aus Spargründen.
Wer weiter gute Schulen will, darf die Klassen nicht vergrössern, NZZaS, 20.12. von Jürg Brühlmann


Im Arbeitsalltag von Lehrerinnen und Lehrern führt jedes zusätzliche Kind in einer Klasse zu deutlich mehr Aufwand, etwa für Korrekturen, Lernberatungen, Elterngespräche, Zeugnisse oder Absprachen im Team. Weil die zur Verfügung stehende Zeit für diese Tätigkeiten aber limitiert ist, müssen die Zeitressourcen auf mehr Kinder verteilt werden. Die Konsequenz ist einfach: Es gibt dann weniger Aufmerksamkeit, Beziehungsangebote und persönliche Betreuungszeit pro Kind. Die Jahresarbeitszeiten für Lehrerinnen und Lehrer liegen heute bei 2000 Stunden und in vielen Fällen weit darüber. Davon sind etwa 85?Prozent für Unterricht und Vorbereitung reserviert. Wenn Klassengrössen erhöht werden, wird auch die bereits knappe Zeit für Elterngespräche oder Teamabsprachen zur Förderung von Kindern weiter geschmälert.

Nicht umsonst stellt die Klassengrösse für?Lehrpersonen einen der stärksten Belastungsfaktoren dar. Mit jedem Kind und jedem Jugendlichen mehr steigt die Interaktionsdichte und die Komplexität der Klassenführung. Das Potenzial an Krisen und Konflikten mit hohen zeitlichen und emotionalen Aufwänden nimmt zu. Und gerade mit schwierig zu führenden Kindern und Jugendlichen sowie mit der Integration von Kindern mit besonderem Förderungsbedarf macht es einen Unterschied, ob 20 oder 25 Kinder in der Klasse sitzen. Nach oben ausgereizte, grosse Klassen sind in Städten und an grossen Schulen häufiger. Kleine oder sehr unterschiedlich grosse Klassen kennen wir vor allem an abgelegenen Orten, wo Schulen ein Standortfaktor sind. Sie drücken den Schweizer Durchschnitt auf knapp 20?Schülerinnen und Schüler pro Klasse.

Nichts ist unbefriedigender als eine Arbeit, bei der man das Gefühl hat, man könne bei bester Motivation und Leistung nicht das bringen, was erforderlich wäre. Dieses Gefühl des Ungenügens fördert Stresssymptome und inneren Rückzug sowie langwierige Krankheiten mit hohen Kosten. Kinder und Jugendliche brauchen aber belastbare und motivierte Menschen.

Dies führt zum zweiten Punkt: Berufe mit voraussehbaren strukturellen Überbelastungen, relativ gesehen sinkenden Löhnen und unzureichenden Aussichten auf berufliche Entwicklungsmöglichkeiten haben ein Problem, gute Fachpersonen zu gewinnen und zu halten. Der Lehrerberuf ist heute, wie viele Beziehungsberufe, ein Frauenberuf geworden, dies hat kürzlich auch das Bundesgericht festgestellt. Die Ausbeutung der psychischen Gesundheit wird bis ans Limit getrieben. Man steigt rasch wieder aus, macht unbezahlte Urlaube oder reduziert das Pensum. Viele Lehrpersonen arbeiten teilzeitlich, um sich zu schützen. Dies führt zu einem frühen Verlust von teuer ausgebildeten Berufspersonen.
Die Erwartungen an die Schulen sind mit den Leistungstests extrem hoch geworden: Die FDP forderte 2014 für unser Land «das beste Bildungssystem der Welt». Und die Bildungsforschung ist sich da einig: Entscheidend für die Qualität des Unterrichts sind gute Lehrerinnen und Lehrer. Wenn die Arbeitsbedingungen verschlechtert werden - und dazu gehören nebst den Löhnen klar auch die Klassengrössen -, dann nimmt man in Kauf, dass die Schulqualität abnimmt. Davor warnt unterdessen sogar die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Und wenn, so wie jüngst im «Schweizer Bauern», die hohen Lehrerlöhne im Vergleich zum Ausland moniert werden, geht der Schuss ins Leere: Auch die Schweizer Bauern haben im Ländervergleich hohe Löhne.

Unterdessen sind die Schülerzahlen vielerorts wieder am Steigen. Flüchtlinge werden an den Schulen placiert. Die Integration von Kindern und Jugendlichen mit geistigen, psychischen und körperlichen Behinderungen oder mit Verhaltensauffälligkeiten ist bald umgesetzt. Trotzdem wird der Aufwand für die Schulen heruntergefahren: Kantone, Gemeinden und Bund wollen über eine Milliarde Franken pro Jahr weniger ausgeben. Für Volksschulen wird pro Kind bereits heute real vielerorts weniger ausgegeben als vor einigen Jahren. Der Steuerwettbewerb fordert seinen Tribut: Es gibt weniger Geld für Lager und Exkursionen, Halbklassenunterricht in Sprachfächern und Werken wird gestrichen, Deutsch für Zweitsprachige wird reduziert, die Klassengrösse wird erhöht, vermeintlich ohne Folgen.
Das Argument, in den neunziger Jahren sei es auch gegangen und nicht schlechter gewesen, ist falsch: Auch an Schulen wird heute - wie an anderen Arbeitsplätzen - immer mehr verlangt. Die separativen Kleinklassen wurden vielerorts geschlossen. Lehrerinnen und Lehrer haben heute anspruchsvolle, heterogene Lerngruppen zu führen. Die zur Verfügung stehende Zeit wurde nicht erhöht. Da kommt es dann darauf an, ob ein Kind mehr oder weniger da ist. Wer die Qualität der Schweizer Schulen halten will, darf die Klassen nicht vergrössern.


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