Wer weiter gute Schulen will, darf die Klassen nicht vergrössern, NZZaS, 20.12. von Jürg Brühlmann
Im Arbeitsalltag von Lehrerinnen und Lehrern führt jedes
zusätzliche Kind in einer Klasse zu deutlich mehr Aufwand, etwa für
Korrekturen, Lernberatungen, Elterngespräche, Zeugnisse oder Absprachen im
Team. Weil die zur Verfügung stehende Zeit für diese Tätigkeiten aber limitiert
ist, müssen die Zeitressourcen auf mehr Kinder verteilt werden. Die Konsequenz
ist einfach: Es gibt dann weniger Aufmerksamkeit, Beziehungsangebote und
persönliche Betreuungszeit pro Kind. Die Jahresarbeitszeiten für Lehrerinnen
und Lehrer liegen heute bei 2000 Stunden und in vielen Fällen weit darüber.
Davon sind etwa 85?Prozent für Unterricht und Vorbereitung reserviert. Wenn
Klassengrössen erhöht werden, wird auch die bereits knappe Zeit für
Elterngespräche oder Teamabsprachen zur Förderung von Kindern weiter
geschmälert.
Nicht umsonst stellt die
Klassengrösse für?Lehrpersonen einen der stärksten Belastungsfaktoren dar. Mit
jedem Kind und jedem Jugendlichen mehr steigt die Interaktionsdichte und die
Komplexität der Klassenführung. Das Potenzial an Krisen und Konflikten mit
hohen zeitlichen und emotionalen Aufwänden nimmt zu. Und gerade mit schwierig
zu führenden Kindern und Jugendlichen sowie mit der Integration von Kindern mit
besonderem Förderungsbedarf macht es einen Unterschied, ob 20 oder 25 Kinder in
der Klasse sitzen. Nach oben ausgereizte, grosse Klassen sind in Städten und an
grossen Schulen häufiger. Kleine oder sehr unterschiedlich grosse Klassen
kennen wir vor allem an abgelegenen Orten, wo Schulen ein Standortfaktor sind.
Sie drücken den Schweizer Durchschnitt auf knapp 20?Schülerinnen und Schüler
pro Klasse.
Nichts ist
unbefriedigender als eine Arbeit, bei der man das Gefühl hat, man könne bei
bester Motivation und Leistung nicht das bringen, was erforderlich wäre. Dieses
Gefühl des Ungenügens fördert Stresssymptome und inneren Rückzug sowie
langwierige Krankheiten mit hohen Kosten. Kinder und Jugendliche brauchen aber
belastbare und motivierte Menschen.
Dies führt zum zweiten
Punkt: Berufe mit voraussehbaren strukturellen Überbelastungen, relativ gesehen
sinkenden Löhnen und unzureichenden Aussichten auf berufliche
Entwicklungsmöglichkeiten haben ein Problem, gute Fachpersonen zu gewinnen und
zu halten. Der Lehrerberuf ist heute, wie viele Beziehungsberufe, ein
Frauenberuf geworden, dies hat kürzlich auch das Bundesgericht festgestellt.
Die Ausbeutung der psychischen Gesundheit wird bis ans Limit getrieben. Man
steigt rasch wieder aus, macht unbezahlte Urlaube oder reduziert das Pensum.
Viele Lehrpersonen arbeiten teilzeitlich, um sich zu schützen. Dies führt zu
einem frühen Verlust von teuer ausgebildeten Berufspersonen.
Die Erwartungen an die
Schulen sind mit den Leistungstests extrem hoch geworden: Die FDP forderte 2014
für unser Land «das beste Bildungssystem der Welt». Und die Bildungsforschung
ist sich da einig: Entscheidend für die Qualität des Unterrichts sind gute
Lehrerinnen und Lehrer. Wenn die Arbeitsbedingungen verschlechtert werden - und
dazu gehören nebst den Löhnen klar auch die Klassengrössen -, dann nimmt man in
Kauf, dass die Schulqualität abnimmt. Davor warnt unterdessen sogar die
Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Und
wenn, so wie jüngst im «Schweizer Bauern», die hohen Lehrerlöhne im Vergleich zum
Ausland moniert werden, geht der Schuss ins Leere: Auch die Schweizer Bauern
haben im Ländervergleich hohe Löhne.
Unterdessen sind die
Schülerzahlen vielerorts wieder am Steigen. Flüchtlinge werden an den Schulen
placiert. Die Integration von Kindern und Jugendlichen mit geistigen,
psychischen und körperlichen Behinderungen oder mit Verhaltensauffälligkeiten
ist bald umgesetzt. Trotzdem wird der Aufwand für die Schulen heruntergefahren:
Kantone, Gemeinden und Bund wollen über eine Milliarde Franken pro Jahr weniger
ausgeben. Für Volksschulen wird pro Kind bereits heute real vielerorts weniger
ausgegeben als vor einigen Jahren. Der Steuerwettbewerb fordert seinen Tribut:
Es gibt weniger Geld für Lager und Exkursionen, Halbklassenunterricht in
Sprachfächern und Werken wird gestrichen, Deutsch für Zweitsprachige wird
reduziert, die Klassengrösse wird erhöht, vermeintlich ohne Folgen.
Das Argument, in den
neunziger Jahren sei es auch gegangen und nicht schlechter gewesen, ist falsch:
Auch an Schulen wird heute - wie an anderen Arbeitsplätzen - immer mehr
verlangt. Die separativen Kleinklassen wurden vielerorts geschlossen.
Lehrerinnen und Lehrer haben heute anspruchsvolle, heterogene Lerngruppen zu
führen. Die zur Verfügung stehende Zeit wurde nicht erhöht. Da kommt es dann
darauf an, ob ein Kind mehr oder weniger da ist. Wer die Qualität der Schweizer
Schulen halten will, darf die Klassen nicht vergrössern.
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