Plädoyer für das Humane in der Schule, Journal.21, 17.12. von Carl Bossard
Anfang Dezember 2015 erhielt die Gesamtschule
Unterstrass den Klaus J. Jacobs Best Practice Price 2015. Anlass war das
Projekt „Selbstführung und soziales Handeln in Schule und Unterricht“. Die
kleine Schule für 3- bis 15-Jährige geht einen etwas anderen Weg, als ihn auch
der Lehrplan 21 mit der Dominanz des selbstorientierten Lernens aufzeichnet.
Darüber nachzudenken lohnt sich, vor allem über die zentrale Frage, welche
Rolle die Lehrerin spielt, welche Aufgabe dem Lehrer zukommt.
Die Welt ist anders geworden
Der Computer, das Internet, die Sozialen Medien
lassen sich aus unserer Welt nicht mehr wegdenken; sie bestimmen unseren
Alltag. Ohne Wenn und Aber. Wir alle benutzen und schätzen sie. Ein Zurück gibt
es nicht.
Das digitale Panoptikum von Internet, Smartphone
und Google Glass verändert auch das Unterrichten, der Schulalltag digitalisiert
sich. Das hat Folgen. Angesagt ist Laptop-Unterricht. Das iPad mit
individualisierter Lernsoftware bietet Zugang zur Welt der Information und des
Wissens.
Der digitale Imperativ
Das sei die Zukunft, schreibt Olaf-Axel Burow in
seinem neuen Buch „Digitale Dividende“. Von virtuellen Lehrern schwärmt auch
Salman Khan, Autor der Publikation „Die Khan Akademie“. Er plädiert für
Lehrvideos und interaktive Prüfungsfragen. Damit entfalle der „Beziehungsstress
zwischen Schülern und Lehrern“. So steht es auf dem Buchrücken. Gefordert
ist eine Totaldigitalisierung der Schulen. Die technisierte Berufswelt des 21.
Jahrhunderts verlange dies. Unbedingt. Nur so seien die Schüler auf die Zukunft
vorbereitet.
Wie hältst du mit dem Menschen?, ist man geneigt zu
fragen. Wo bleibt das Zwischenmenschliche, wo der Lehrer, welche Funktion
übernimmt die Lehrerin? Sprungbereit, sobald Schüler technische Probleme haben?
Und sonst im Hintergrund und notfalls abrufbar?
Soll die Schule mithalten oder gegenhalten?
In die Schule kommt heute eine Generation, die viel
Zeit mit dem Handy und am Computer verbringt. Sie kennt kaum etwas anderes. Und
wer Wirklichkeiten wahrnimmt, der erkennt schnell: Ein gewisser Narzissmus
beherrscht die digitale Kommunikation. Sie ist nur bedingt ein dialogisches
Medium. Im Gegenteil. Der Mausklick ersetzt den Diskurs. Jeder ist mit sich
selbst beschäftigt. Die Fähigkeit zum Dialog, die Fähigkeit zum Anderen, ja zum
Zuhören wird kleiner. Die dialogische Bindungsstärke schwindet, die
Selfie-Sucht nimmt zu, die Vereinzelung verstärkt sich. Socius weicht solus,
resümiert der Berliner Philosoph und Essayist Byung-Chul Han.
Man schaue sich nur die schulischen Pausen an.
Zwischenzeiten sind Handy-Zeiten. Dabei müssten sich alle Kinder und
Jugendlichen in ein soziales Ganzes integrieren können – unabhängig von ihren
Voraussetzungen. Aus den Egos ist ein Wir zu bilden. Das verlangt die
Berufswelt, das erfordert das soziale Miteinander, das gebietet der
gesellschaftliche Zusammenhalt.
Schulisches Lernen ist Beziehungsgeschehen
Gerade darum stellt sich die Frage: Braucht es in
Zeiten flinker Tastenklicks und schöner Oberflächen nicht eine gegenhaltende
Kraft, eine Form von Gegenwelt? Braucht die Generation WhatsApp nicht ein
lebendiges Vis-à-Vis, ein interessiertes Gegenüber, ein menschliches Du? So wie
es der Religionsphilosoph Martin Buber eindrücklich formuliert hat?
In diesem Sinne gehören Lehrerin und Schüler
zusammen, bilden Lehrer und Schülerinnen eine soziale Gemeinschaft. Aktuelle
methodische Trends gefährden dieses Bündnis; doch die Allianz muss bestehen
bleiben. Denn alles schulische Lehren und Lernen ist eingebettet in ein
interaktives und dialogisches Beziehungsgeschehen. Darauf verweist auch die
Hirnforschung. Die Lernpsychologie weiss es schon lange: Der Geist erwacht
angesichts des Anderen. Lernen vollzieht sich primär von Mensch zu Mensch, von
Auge zu Auge, von Ohr zu Ohr. Wer nur auf sich selbst bezogen ist, wer in sich
verharrt, dem geht diese zwischenmenschliche Erfahrung ab, dem fehlt, was
Bindung, Beziehung und Nähe ausmachen. Er bleibt ein isoliertes Individuum.
Leben in Beziehungen
Wir erleben unser Leben als wertvoll in
Beziehungen, sei das im privaten Bereich, sei es im beruflichen Feld.
Beziehungen machen die Dinge erst wirklich. Sie sind aber nur lebendig, wo
Gefühle mitschwingen. Wo ich beziehungsmässig nicht dabei bin, spielt sich kein
Leben ab. Darum sind die menschlichen Beziehungen zwischen der Lehrerin und
ihren Kindern, zwischen dem Lehrer und seinen Schülern so grundlegend. Auch
fürs kognitive Lernen. Jedes Kind braucht das Interesse des Lehrers, die
Achtsamkeit der Lehrerin, die soziale Anerkennung und die persönliche
Wertschätzung eines vital präsenten Gegenübers – eines menschlichen Du, das
Widerstand aushält und auch herzlich streng sein kann.
Das pädagogische Profil einer Schule ist darum
beschreibbar: Ein hohes Bildungsniveau und tragenden Sozialformen bilden die
beiden Eckpfeiler. Lernraum und gleichzeitig auch Lebensraum, das muss eine
gute Schule sein: ein Mikrokosmos gemeinsamen und gemeinschaftlichen Handelns,
ein Ort des Diskurses, ein Raum, in dem vor allem jüngere Schüler vorrangig mit
Menschen zu tun haben und nicht prioritär mit Maschinen. Der Neurobiologe
Joachim Bauer drückt das so aus: „Die stärkste Motivationsdroge für junge
Menschen ist der andere Mensch!“ Das Gleiche unterstreicht der neuseeländische
Schulforscher John Hattie mit seinen Daten: „Lehrpersonen gehören zu den
wirkungsvollsten Einflüssen beim Lernen.“ Was der renommierte Autor normativ
einfordert, kann er dank seiner umfassenden Studien empirisch breit belegen.
Arbeitsblätter und Dossiers duften nicht
Die konkrete Schulwelt sieht mancherorts anders
aus. Lernarchitekturen sind das Zauberwort, Arbeitsblätter sollen es richten.
Angesagt ist selbstorientiertes Arbeiten. Drei reale Beispiele illustrieren es:
Die Kinder einer vierten Klasse kommen ins
Schulzimmer, sitzen an ihren Platz, fassen einen Stapel Papiere, lesen den
Auftrag und beginnen zu schreiben. Wenn sie fertig sind, gehen sie zur Lehrerin
und erhalten neue Unterlagen. „Ist das noch Unterricht?“ fragten mich kürzlich
Eltern. Und eine Primarschülerin beklagte sich. „Planarbeit stinkt mir. Den
ganzen Morgen an Arbeitsblättern sitzen. Das ist total langweilig!“ Selbst
Berufsschülern ergeht es ähnlich. Der Lehrer betritt morgens den Raum, schreibt
die Aufgabe an die Tafel, verweist auf die Lerndossiers und die Lernumgebung.
Dann zieht er sich zurück, um Pendenzen abzubauen, wie er sagt. Vor Mittag
taucht er wieder auf. In der Zwischenzeit lernen die Schüler selbstgesteuert,
das heisst, sie sind sich selbst überlassen.
Bildung kommt aus dem Tun
Diese einseitige Fixierung auf selbstorganisiertes
Lernen macht skeptisch, das Überhandnehmen von Lernateliers führt zu Fragen.
Geht es wirklich ohne den pädagogischen Bezug und die didaktische Kraft der
Lehrperson und somit ohne das, was die Hirnforschung fordert und John Hattie
empirisch belegt: den Lehrer als Kapitän und Lotse ins Fremde und Schwierige,
die Lehrerin als Brückenbauerin zu Neuem? Diese Kernaufgabe wird doch erst dann
wahrgenommen, wenn Lehrpersonen ihre Schülerinnen und Schüler zu Tätigkeiten
animieren, die herausfordern, die Selbstführung verlangen und im alten
Wortsinne der „formatio“ bilden, das heisst: formen. Es sind Aufgaben und
Situationen, die den Tätigkeitsdrang lenken, die Verantwortung nach sich
ziehen, die Aufmerksamkeit schärfen, das Interesse bilden und so den Charakter
entwickeln. Das geschieht nur im Austausch mit präsenten Lehrerinnen, im Dialog
mit achtsamen Lehrern.
Das Projekt „Selbstführung und soziales Handeln in
Schule und Unterricht“ der eingangs erwähnten Gesamtschule
Unterstrass lebt dem nach. Für ihren Pioniergeist wurde sie zu Recht
geehrt.
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