Wie im echten Nationalrat werden die Debatten der Schüler simultan übersetzt. Bild: Simon Tanner
Nationalrat für einen halben Tag, NZZ, 7.11. von Jan Flückiger
«Eine Lenkungsabgabe auf Treibstoffe ist ein wichtiger Beitrag zur
Energiewende und schafft Arbeitsplätze.» - «Benzin zu verteuern, schadet der
Wirtschaft.» - «Verkehrsabgaben sollen schwergewichtig in den Strassenbau
fliessen.» - «Der Vorschlag greift zu sehr in die Kompetenz der Kantone ein.»
Die Argumente, welche am Donnerstag im Nationalratssaal ausgetauscht wurden,
könnten von amtierenden Parlamentariern stammen. Die Debatte haben jedoch nicht
gewählte Volksvertreter geführt, sondern 130 Sekundarschülerinnen und -schüler
im Alter von 14 und 15 Jahren aus fünf Deutschschweizer und welschen Kantonen.
Im Rahmen des Projektes «Schulen nach Bern» haben sie eine Woche in der
Bundesstadt verbracht. Den Höhepunkt bildete die vierstündige Debatte vor
realer Kulisse.
Plädoyer des Ex-Bundesrats
Initiativen,
Gegenentwürfe, Kommissionssprecher, Fraktionsvoten, Einzelsprecher, alles ist
dabei - sogar ein Bundesrat. Alt Bundesrat Samuel Schmid ist für einen
Nachmittag noch einmal in die Rolle des Magistraten geschlüpft. Und
argumentiert so, wie er wohl auch als echter Bundesrat argumentiert hätte: Eine
Lenkungsabgabe mit fixer Höhe gehöre nicht in die Verfassung. Der wertvollste
Beitrag für die Energiewende sei die Effizienz. Und überhaupt: Man solle
Gesetze und Verfassungsänderungen nicht voreilig beschliessen und dabei stetig
den Kurs ändern. Sein Plädoyer für eine «träge Politik» nimmt man ihm ab,
immerhin ist Schmids Behäbigkeit so etwas wie sein Markenzeichen.
Doch
nicht nur die Argumente gleichen der Realität in der grossen Kammer, der ganze
Ablauf der Debatte ist originalgetreu nachgestellt. So hat die Arbeit schon
lange vor diesem Donnerstag begonnen. Die Vorlagen wurden im Vorfeld von den
einzelnen Fraktionen (Schulklassen) ausgearbeitet, diejenigen der anderen
Fraktionen vorbesprochen. Die Fraktionen heissen etwa «Schweizerische
Energiepartei» oder «Kinderschutzpartei». Auf der Traktandenliste stehen, neben
einer Lenkungsabgabe auf Treibstoffe, ein Widerspruchsrecht bei Organspenden,
härtere Strafen für Gewaltverbrecher, grüne Städte, unentgeltlicher
öffentlicher Verkehr für Jugendliche und eine obligatorische
Hausaufgaben-Stunde in der Schule. Bundesrat, Kommission und Fraktionen konnten
jeweils Gegenentwürfe einbringen.
Bevor
die Schüler für eine Woche nach Bern gereist sind, haben sie sich bereits
intensiv mit den Inhalten und Abläufen der Politik befasst. «Ich habe etwa 35
Lektionen für das Projekt eingesetzt», sagt der Luzerner Geschichtslehrer David
Mugglin. Ein entsprechendes Lehrmittel stellt der Verein «Schulen nach Bern»
zur Verfügung. Die Schülerinnen und Schüler befassten sich intensiv mit den
institutionellen Abläufen, lernten, wie eine Debatte abläuft, was eine Fraktion
ist, was eine Kommission, was ein Gegenvorschlag. Und sie lernten, politisch zu
argumentieren.
Zweisprachige Kommissionen
In
Bern treffen sie dann auf die anderen Klassen. Es werden klassenübergreifende
Kommissionen gebildet und Kommissionssitzungen abgehalten. Ein
Nationalratspräsident und ein Vizepräsident werden gewählt. Diesmal schaffen
zwei junge Frauen die Wahl. Sie sind es denn auch, die am fiktiven Sessionstag
die Debatte leiten - unterstützt vom ehemaligen Nationalrat und
Nationalratspräsidenten Yves Christen (fdp.). Da die Schulklassen aus der
Romandie und der Deutschschweiz kommen, werden die Debatten simultan übersetzt
- auch das ganz nach dem realen Vorbild. Einzig die Kopfhörer mit der
Übersetzung werden hier etwas häufiger aufgesetzt als in der Realität. Ob die
echten Parlamentarier der jeweils anderen Landessprache so viel mächtiger sind
oder ob sie teilweise einfach nicht zuhören, sei hier bewusst offengelassen.
Vier
Stunden wird lebhaft diskutiert, argumentiert, abgestimmt - leider ohne
elektronische Abstimmungsanlage. Immerhin bekommen so die Stimmenzähler etwas
zu tun. Wie in der Wirklichkeit haben es die Initiativen schwer. Lediglich die
Lenkungsabgabe setzt sich knapp durch. Überall sonst obsiegt einer der
Gegenvorschläge. Die Jugendlichen haben den gutschweizerischen Kompromiss
offenbar bereits im Blut.
Tschechische Botschaft
besucht
Für
Lehrer Mugglin ist das Projekt ein grosser Erfolg. Seine Schüler hätten sehr
viel arbeiten müssen, bis spät abends an Voten gefeilt und kontroverse
Diskussionen geführt. Doch die Freude und Motivation sei stets spürbar gewesen.
Zusätzlich zur Debatte hat seine Klasse aus dem Luzerner Schulhaus Tribschen
auch die amtierende Nationalrätin Yvette Estermann (svp.) getroffen sowie die
tschechische Botschaft besucht. «Der Besuch auf der Botschaft war sehr
eindrucksvoll», sagt die 14-jährige Sophia Benanti. Man könne sich diese von
aussen ja nur schwer vorstellen. Auch die Vorbereitung auf die
Parlamentsdebatte sei sehr spannend gewesen, ergänzt ihre 15-jährige
Klassenkameradin Chiara Peyer. Beide sind sich einig: Den Parlamentsbetrieb in
der Praxis zu erleben, sei viel spannender als die blanke Theorie. Selber
dereinst in die Politik einzusteigen, können sie sich zurzeit nicht vorstellen.
Das Stimm- und Wahlrecht wollen sie aber auf jeden Fall wahrnehmen, sobald sie
dürfen.
Seit
2009 lädt der über Stiftungen finanzierte Verein «Schulen nach Bern», der von
der ehemaligen Zürcher Bildungsdirektorin Regine Aeppli (sp.) präsidiert wird,
jährlich vier- bis fünfmal zu einer solchen fiktiven Session ein. Ins Leben
gerufen wurde der Verein von der ehemaligen Berner Regierungsrätin Dora Andres
(fdp.). Man achte darauf, dass die Klassen immer aus zwei Sprachregionen kämen,
sagt Vorstandsmitglied Peter Egger, dessen Verlag das dazugehörige Lehrmittel
vertreibt. Auch ehemalige Bundesräte seien stets mit dabei. Elisabeth Kopp
(fdp.) und Samuel Schmid (bdp.) etwa hätten beide schon mehrmals mitgemacht.
Letzterer
muss wohl innerlich ein wenig schmunzeln, als er hört, wie ein bundesrätlicher
Gegenentwurf im Plenum zerrissen wird. Er sei «zu wenig konkret», «unklar
formuliert» und «schwer umsetzbar». Auch diese Argumente hört er bestimmt nicht
zum ersten Mal. Und sollte der oder die eine oder andere der Jugendlichen
dereinst als gewählter Parlamentarier ins Bundeshaus kommen, kann er oder sie
sich Schmids Ratschlag zu Herzen nehmen: «Wenn sonst nichts mehr geht: Das
Föderalismus-Argument zieht immer.»
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