8. November 2015

Schulen nach Bern

Das Projekt "Schulen nach Bern" ermöglicht es Schulklassen eine Woche in der Bundesstadt zu verbringen und dabei Politik hautnah zu erleben. So stehen für einmal nicht Parlamentarier, sondern Sekundarschüler am Rednerpult im Nationalratssaal. 













Wie im echten Nationalrat werden die Debatten der Schüler simultan übersetzt. Bild: Simon Tanner
Nationalrat für einen halben Tag, NZZ, 7.11. von Jan Flückiger


«Eine Lenkungsabgabe auf Treibstoffe ist ein wichtiger Beitrag zur Energiewende und schafft Arbeitsplätze.» - «Benzin zu verteuern, schadet der Wirtschaft.» - «Verkehrsabgaben sollen schwergewichtig in den Strassenbau fliessen.» - «Der Vorschlag greift zu sehr in die Kompetenz der Kantone ein.» Die Argumente, welche am Donnerstag im Nationalratssaal ausgetauscht wurden, könnten von amtierenden Parlamentariern stammen. Die Debatte haben jedoch nicht gewählte Volksvertreter geführt, sondern 130 Sekundarschülerinnen und -schüler im Alter von 14 und 15 Jahren aus fünf Deutschschweizer und welschen Kantonen. Im Rahmen des Projektes «Schulen nach Bern» haben sie eine Woche in der Bundesstadt verbracht. Den Höhepunkt bildete die vierstündige Debatte vor realer Kulisse.

Plädoyer des Ex-Bundesrats
Initiativen, Gegenentwürfe, Kommissionssprecher, Fraktionsvoten, Einzelsprecher, alles ist dabei - sogar ein Bundesrat. Alt Bundesrat Samuel Schmid ist für einen Nachmittag noch einmal in die Rolle des Magistraten geschlüpft. Und argumentiert so, wie er wohl auch als echter Bundesrat argumentiert hätte: Eine Lenkungsabgabe mit fixer Höhe gehöre nicht in die Verfassung. Der wertvollste Beitrag für die Energiewende sei die Effizienz. Und überhaupt: Man solle Gesetze und Verfassungsänderungen nicht voreilig beschliessen und dabei stetig den Kurs ändern. Sein Plädoyer für eine «träge Politik» nimmt man ihm ab, immerhin ist Schmids Behäbigkeit so etwas wie sein Markenzeichen.

Doch nicht nur die Argumente gleichen der Realität in der grossen Kammer, der ganze Ablauf der Debatte ist originalgetreu nachgestellt. So hat die Arbeit schon lange vor diesem Donnerstag begonnen. Die Vorlagen wurden im Vorfeld von den einzelnen Fraktionen (Schulklassen) ausgearbeitet, diejenigen der anderen Fraktionen vorbesprochen. Die Fraktionen heissen etwa «Schweizerische Energiepartei» oder «Kinderschutzpartei». Auf der Traktandenliste stehen, neben einer Lenkungsabgabe auf Treibstoffe, ein Widerspruchsrecht bei Organspenden, härtere Strafen für Gewaltverbrecher, grüne Städte, unentgeltlicher öffentlicher Verkehr für Jugendliche und eine obligatorische Hausaufgaben-Stunde in der Schule. Bundesrat, Kommission und Fraktionen konnten jeweils Gegenentwürfe einbringen.

Bevor die Schüler für eine Woche nach Bern gereist sind, haben sie sich bereits intensiv mit den Inhalten und Abläufen der Politik befasst. «Ich habe etwa 35 Lektionen für das Projekt eingesetzt», sagt der Luzerner Geschichtslehrer David Mugglin. Ein entsprechendes Lehrmittel stellt der Verein «Schulen nach Bern» zur Verfügung. Die Schülerinnen und Schüler befassten sich intensiv mit den institutionellen Abläufen, lernten, wie eine Debatte abläuft, was eine Fraktion ist, was eine Kommission, was ein Gegenvorschlag. Und sie lernten, politisch zu argumentieren.

Zweisprachige Kommissionen
In Bern treffen sie dann auf die anderen Klassen. Es werden klassenübergreifende Kommissionen gebildet und Kommissionssitzungen abgehalten. Ein Nationalratspräsident und ein Vizepräsident werden gewählt. Diesmal schaffen zwei junge Frauen die Wahl. Sie sind es denn auch, die am fiktiven Sessionstag die Debatte leiten - unterstützt vom ehemaligen Nationalrat und Nationalratspräsidenten Yves Christen (fdp.). Da die Schulklassen aus der Romandie und der Deutschschweiz kommen, werden die Debatten simultan übersetzt - auch das ganz nach dem realen Vorbild. Einzig die Kopfhörer mit der Übersetzung werden hier etwas häufiger aufgesetzt als in der Realität. Ob die echten Parlamentarier der jeweils anderen Landessprache so viel mächtiger sind oder ob sie teilweise einfach nicht zuhören, sei hier bewusst offengelassen.

Vier Stunden wird lebhaft diskutiert, argumentiert, abgestimmt - leider ohne elektronische Abstimmungsanlage. Immerhin bekommen so die Stimmenzähler etwas zu tun. Wie in der Wirklichkeit haben es die Initiativen schwer. Lediglich die Lenkungsabgabe setzt sich knapp durch. Überall sonst obsiegt einer der Gegenvorschläge. Die Jugendlichen haben den gutschweizerischen Kompromiss offenbar bereits im Blut.

Tschechische Botschaft besucht
Für Lehrer Mugglin ist das Projekt ein grosser Erfolg. Seine Schüler hätten sehr viel arbeiten müssen, bis spät abends an Voten gefeilt und kontroverse Diskussionen geführt. Doch die Freude und Motivation sei stets spürbar gewesen. Zusätzlich zur Debatte hat seine Klasse aus dem Luzerner Schulhaus Tribschen auch die amtierende Nationalrätin Yvette Estermann (svp.) getroffen sowie die tschechische Botschaft besucht. «Der Besuch auf der Botschaft war sehr eindrucksvoll», sagt die 14-jährige Sophia Benanti. Man könne sich diese von aussen ja nur schwer vorstellen. Auch die Vorbereitung auf die Parlamentsdebatte sei sehr spannend gewesen, ergänzt ihre 15-jährige Klassenkameradin Chiara Peyer. Beide sind sich einig: Den Parlamentsbetrieb in der Praxis zu erleben, sei viel spannender als die blanke Theorie. Selber dereinst in die Politik einzusteigen, können sie sich zurzeit nicht vorstellen. Das Stimm- und Wahlrecht wollen sie aber auf jeden Fall wahrnehmen, sobald sie dürfen.

Seit 2009 lädt der über Stiftungen finanzierte Verein «Schulen nach Bern», der von der ehemaligen Zürcher Bildungsdirektorin Regine Aeppli (sp.) präsidiert wird, jährlich vier- bis fünfmal zu einer solchen fiktiven Session ein. Ins Leben gerufen wurde der Verein von der ehemaligen Berner Regierungsrätin Dora Andres (fdp.). Man achte darauf, dass die Klassen immer aus zwei Sprachregionen kämen, sagt Vorstandsmitglied Peter Egger, dessen Verlag das dazugehörige Lehrmittel vertreibt. Auch ehemalige Bundesräte seien stets mit dabei. Elisabeth Kopp (fdp.) und Samuel Schmid (bdp.) etwa hätten beide schon mehrmals mitgemacht.


Letzterer muss wohl innerlich ein wenig schmunzeln, als er hört, wie ein bundesrätlicher Gegenentwurf im Plenum zerrissen wird. Er sei «zu wenig konkret», «unklar formuliert» und «schwer umsetzbar». Auch diese Argumente hört er bestimmt nicht zum ersten Mal. Und sollte der oder die eine oder andere der Jugendlichen dereinst als gewählter Parlamentarier ins Bundeshaus kommen, kann er oder sie sich Schmids Ratschlag zu Herzen nehmen: «Wenn sonst nichts mehr geht: Das Föderalismus-Argument zieht immer.»

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