13. November 2015

Schönfärberischer Umgang mit Störenfrieden

Sonja rennt durch das Zimmer und fällt hin, Jusuf lässt Papierflugzeuge durch den Raum segeln, Ramon versteckt sich hinter der Türe und mag nicht mehr hervorkommen. Seit in Basel die Kleinklassen abgeschafft wurden und die Integration von behinderten wie auch von verhaltensauffälligen Kindern vorangetrieben wird, geht es in den Schulzimmern immer unruhiger zu. Anstatt Wissen vermitteln zu können, müssen Lehrer den Animator spielen, damit ihnen die Störenfriede nur schon mal zuhören, und diejenigen Kinder, die gerne lernen, sind blockiert.













Lehrer und Schüler leiden unter verhaltensauffälligen Kindern, Bild: Keystone
Der Höhenflug der Störenfriede, Basler Zeitung, 13.11. von Franziska Laur

Mit dem Behindertengleichstellungsgesetz müssen Kinder wo immer möglich in Regelklassen geschult werden. Probleme bereiten jedoch nicht unbedingt die wirklich behinderten, sondern die verhaltensauffälligen Schüler. Kinder, die schon so viel erlebt haben, dass sie sich nicht mehr adäquat verhalten können. Kinder, die, wenn sie morgens zur Schule gehen, noch kein Essen bekommen haben, aber schon Prügel. Kinder, die kaum sprechen, jedoch umso besser schlagen können. Ein grosser Teil von ihnen stammt aus Familien, in denen nicht oder schlecht Deutsch gesprochen wird.

Regelwidrigkeiten nehmen zu
Verhaltensoriginelle Kinder nennt sie Gaby Hintermann, Präsidentin der Kantonalen Schulkonferenz und Geschäftsleitungsmitglied der Basler Schulsynode. Sie hat die Erfahrung gemacht, dass die Anzahl der Kinder, die sich nicht an Regeln halten können, zunimmt. Mit einem sehbehinderten oder autistischen Kind könne sie umgehen, weil sie spezifische Unterstützung erhalte, sagt die Sekundarlehrerin, die bei Schülern so beliebt ist, dass einige freiwillig einen Schulweg aus weit entfernten Quartieren auf sich nehmen, um bei ihr im Theobald-Baerwart-Schulhaus zur Schule zu gehen.

Das Problem sei die Fülle der Spezialitäten, die manchmal in einer Klasse zusammenkommen würden, Kinder mit verschiedensten Sonderbedürfnissen, Traumata, zusätzlich Störenfriede und solche, die kaum Deutsch sprechen, sagt die Vollblutlehrerin mit dem pfiffigen Kurzhaarschnitt und der dunkel umrandeten Brille. Doch sie steht hinter dem integrativen Basler Schulsystem: «Ich persönlich finde, dass man nicht stets extern eine Lösung suchen kann. Das Kästchen-Denken ist nicht meines. Diese Kinder gehören alle zu unserer Gesellschaft.» Zurück zum Kleinklassensystem sei momentan keine Lösung.

Andere sehen es als grossen Fehler an, dass in Basel-Stadt die Kleinklassen abgeschafft worden sind. So etwa der frühere SP-Kantonalpräsident Roland Stark, der selber vier Jahrzehnte lang Kleinklassenschüler unterrichtet hat. Die Integration von körperlich oder geistig behinderten Kindern in Regelklassen stelle auch er nicht infrage, sagt er. Für deren Betreuung stünden in der Regel genügend Ressourcen zur Verfügung. Doch bei den verhaltensauffälligen, konzentrations- und lernschwachen Kindern würden sich die Probleme kumulieren. «Diese sind darauf angewiesen, dass sie ein eng betreutes, langfristig stabiles, ruhiges Schulumfeld haben.» Heute seien sie in grossen Klassen integriert, mit teilweise bis zu neun verschiedenen Lehrkräften und zusätzlichen Heilpädagogen, welche sie stundenweise fördern. «Sie leiden, weil sie sich in diesen unruhebelasteten Grossklassen noch weniger konzentrieren können und den Schulstoff nicht mitbekommen. Die Mitschüler werden beim Lernen gestört und die Lehrer sind häufig überfordert.» Stark, der immer noch Kontakt mit Lehrpersonen hat, weiss, dass sehr viele Lehrkräfte, entgegen den Behauptungen des Erziehungsdepartements, mit dem schulischen Integrationsmodell unzufrieden sind.

Beim Thema Integration öffnet sich schnell das Sperrfeuer der Ideologie. Man stösst auf Frontlinien, wie sie nur Angst und Eifer ziehen können. Eltern fürchten um die Lernfortschritte ihrer Kinder, Lehrer wollen Wissen vermitteln und spüren, wie ihnen dieser Auftrag aus der Hand rutscht, und Bildungsbürokraten sind beseelt von ihrer Idee, allen Schülern die gleiche Schule zu ermöglichen. Zwischendrin stehen die Heilpädagogen, die durch ihre Anwesenheit häufig mehr Unruhe als Frieden in eine Klasse bringen.

In Basel erhalten zurzeit 6,8 Prozent der Schüler eine Sonderschulung, integrativ oder separat. Nicht mitgezählt sind dabei all diejenigen Kinder, die eine Fördermassnahme, also Psychomotorik, DAZ (Deutsch als Zweitsprache)-Unterricht, schulische Heilpäda­gogik oder Logopädie bekommen. «Die Förderangebote werden den betreffenden Schülerinnen und Schülern niederschwellig nach einem Entscheid der Schulleitung zugewiesen», sagt Andreas Loh, Leiter Zusätzliche Unterstützung. Deshalb könne die Anzahl der Schülerinnen und Schüler, welche die Förderangebote erhalten, nicht exakt festgestellt werden.

Umfragen der BaZ unter Lehrern und Hochrechnungen zeigen jedoch, dass zusätzlich zu den sonderschulischen Massnahmen nochmals rund 40 Prozent der Kinder, also insgesamt gegen 7000 Schüler, über kürzere oder längere Zeit hinweg ein Förderangebot benötigen.

Schule soll sich Kind anpassen
Gaby Hintermann sieht allerdings keinen Veränderungsnotstand beim System, sondern bei der individuellen Betreuung, für die zu wenig Zeit bleibt. «Es gibt meist einen Grund, weshalb Kinder schwierig sind», sagt sie. «Ich kann mich nicht einfach hinstellen und Wissen vermitteln. Das sind Jugend­liche, die mehr wollen.» Ihr Gedanke: Nicht das Kind passt sich an die Schule an, sondern die Schule an das Kind. Aber das bräuchte Zeit. «Viel mehr Zeit, als jetzt mit dem ganzen Strukturumbau da ist», sagt sie.

Oft scheine es die einfachere Lösung, einen Schüler aus der Klasse zu nehmen und in eine Spezialklasse zu stecken, doch sie stellt die Nachhaltigkeit eines solchen Vorgehens infrage: «Häufig schlüpft dann einfach ein anderes Kind in die Rolle des Aufrührers.» Doch es gebe Ausnahmesituationen. «Wenn es wirklich nicht mehr geht, müsste man schneller und unbürokratischer Hilfe bekommen.» Ab wann es nicht mehr gehe, das sei eben sehr unterschiedlich. Und sie kritisiert, dass die Klassen für Fremdsprachige aufgelöst worden sind. «Viele Lehrpersonen sagen, dass Fremdsprachige in der Klasse ein Steinchen im Fächer zu viel sind.» Sie hofft, dass sich das Erziehungsdepartement in dieser Hinsicht um eine Umkehr bemüht.

«Fremdsprachenklassen liegen als Verbundlösungen vereinzelt noch drin. Als Standardlösung entsprechen Fremdsprachenklassen nicht der Idee der integrativen Schulung der Kinder in ihrem eigenen Wohnumfeld», sagt Dieter Baur, Leiter Volksschulen. Allerdings diskutiere man zurzeit darüber, welche Lösung man anbieten muss, falls durch die Flüchtlingswelle zusätzlich deutsch­unkundige Kinder in die Klassen gespült werden.

Bürokratie schafft Unruhe
Auch den Vorwurf, die schulische Integration würde die Lehrer zu sehr auslaugen, will das Erziehungsdepartement nicht auf sich sitzen lassen. Es gebe Spezialangebote für Schüler, die einen so hohen Bildungsbedarf haben, dass sie in einer Regelschule nicht angemessen geschult werden können. Dort stünden ausreichend Plätze für diese Zielgruppe zur Verfügung, sagt Andreas Loh: 32 Klassen mit insgesamt 260 Plätzen seien es insgesamt.

«Diese Darstellung ist reine Schönfärberei und hat mit der schulischen Realität wenig zu tun», sagt Roland Stark. Vielmehr werde die Unruhe in einer Klasse und das Hin und Her für die betroffenen Kinder noch erhöht. Er hat auch schon hautnah erlebt, wie schwierig es ist, schnell Hilfe zu bekommen, wenn es wegen schwieriger Schüler in einer Klasse brodelt. Das dauere Monate. «Eine grosse Quelle der Unruhe ist die Bürokratie selber», sagt er: die vielen Lehrer und Heilpädagogen im Klassenzimmer, die Schreiben, Mails, Sitzungskadenzen und der enorme Koordinationsaufwand, mit denen Lehrkräfte eingedeckt werden, die Lernberichte, die sie schreiben müssen, und vieles mehr. «Den Lehrern stehen weder der nötige Freiraum noch die Ressourcen für einen zusätzlichen Kraftakt zur Verfügung.»


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