Sonja rennt durch das Zimmer und fällt hin, Jusuf lässt
Papierflugzeuge durch den Raum segeln, Ramon versteckt sich hinter der Türe und
mag nicht mehr hervorkommen. Seit in Basel die Kleinklassen abgeschafft wurden
und die Integration von behinderten wie auch von verhaltensauffälligen Kindern
vorangetrieben wird, geht es in den Schulzimmern immer unruhiger zu. Anstatt
Wissen vermitteln zu können, müssen Lehrer den Animator spielen, damit ihnen
die Störenfriede nur schon mal zuhören, und diejenigen Kinder, die gerne
lernen, sind blockiert.
Lehrer und Schüler leiden unter verhaltensauffälligen Kindern, Bild: Keystone
Der Höhenflug der Störenfriede, Basler Zeitung, 13.11. von Franziska Laur
Mit
dem Behindertengleichstellungsgesetz müssen Kinder wo immer möglich in
Regelklassen geschult werden. Probleme bereiten jedoch nicht unbedingt die
wirklich behinderten, sondern die verhaltensauffälligen Schüler. Kinder, die
schon so viel erlebt haben, dass sie sich nicht mehr adäquat verhalten können.
Kinder, die, wenn sie morgens zur Schule gehen, noch kein Essen bekommen haben,
aber schon Prügel. Kinder, die kaum sprechen, jedoch umso besser schlagen
können. Ein grosser Teil von ihnen stammt aus Familien, in denen nicht oder
schlecht Deutsch gesprochen wird.
Regelwidrigkeiten
nehmen zu
Verhaltensoriginelle
Kinder nennt sie Gaby Hintermann, Präsidentin der Kantonalen Schulkonferenz und
Geschäftsleitungsmitglied der Basler Schulsynode. Sie hat die Erfahrung
gemacht, dass die Anzahl der Kinder, die sich nicht an Regeln halten können,
zunimmt. Mit einem sehbehinderten oder autistischen Kind könne sie umgehen,
weil sie spezifische Unterstützung erhalte, sagt die Sekundarlehrerin, die bei
Schülern so beliebt ist, dass einige freiwillig einen Schulweg aus weit
entfernten Quartieren auf sich nehmen, um bei ihr im
Theobald-Baerwart-Schulhaus zur Schule zu gehen.
Das
Problem sei die Fülle der Spezialitäten, die manchmal in einer Klasse
zusammenkommen würden, Kinder mit verschiedensten Sonderbedürfnissen, Traumata,
zusätzlich Störenfriede und solche, die kaum Deutsch sprechen, sagt die
Vollblutlehrerin mit dem pfiffigen Kurzhaarschnitt und der dunkel umrandeten
Brille. Doch sie steht hinter dem integrativen Basler Schulsystem: «Ich
persönlich finde, dass man nicht stets extern eine Lösung suchen kann. Das
Kästchen-Denken ist nicht meines. Diese Kinder gehören alle zu unserer
Gesellschaft.» Zurück zum Kleinklassensystem sei momentan keine Lösung.
Andere
sehen es als grossen Fehler an, dass in Basel-Stadt die Kleinklassen
abgeschafft worden sind. So etwa der frühere SP-Kantonalpräsident Roland Stark,
der selber vier Jahrzehnte lang Kleinklassenschüler unterrichtet hat. Die
Integration von körperlich oder geistig behinderten Kindern in Regelklassen
stelle auch er nicht infrage, sagt er. Für deren Betreuung stünden in der Regel
genügend Ressourcen zur Verfügung. Doch bei den verhaltensauffälligen,
konzentrations- und lernschwachen Kindern würden sich die Probleme kumulieren.
«Diese sind darauf angewiesen, dass sie ein eng betreutes, langfristig
stabiles, ruhiges Schulumfeld haben.» Heute seien sie in grossen Klassen
integriert, mit teilweise bis zu neun verschiedenen Lehrkräften und zusätzlichen
Heilpädagogen, welche sie stundenweise fördern. «Sie leiden, weil sie sich in
diesen unruhebelasteten Grossklassen noch weniger konzentrieren können und den
Schulstoff nicht mitbekommen. Die Mitschüler werden beim Lernen gestört und die
Lehrer sind häufig überfordert.» Stark, der immer noch Kontakt mit Lehrpersonen
hat, weiss, dass sehr viele Lehrkräfte, entgegen den Behauptungen des
Erziehungsdepartements, mit dem schulischen Integrationsmodell unzufrieden
sind.
Beim
Thema Integration öffnet sich schnell das Sperrfeuer der Ideologie. Man stösst
auf Frontlinien, wie sie nur Angst und Eifer ziehen können. Eltern fürchten um
die Lernfortschritte ihrer Kinder, Lehrer wollen Wissen vermitteln und spüren,
wie ihnen dieser Auftrag aus der Hand rutscht, und Bildungsbürokraten sind
beseelt von ihrer Idee, allen Schülern die gleiche Schule zu ermöglichen.
Zwischendrin stehen die Heilpädagogen, die durch ihre Anwesenheit häufig mehr
Unruhe als Frieden in eine Klasse bringen.
In
Basel erhalten zurzeit 6,8 Prozent der Schüler eine Sonderschulung, integrativ
oder separat. Nicht mitgezählt sind dabei all diejenigen Kinder, die eine
Fördermassnahme, also Psychomotorik, DAZ (Deutsch als Zweitsprache)-Unterricht,
schulische Heilpädagogik oder Logopädie bekommen. «Die Förderangebote werden
den betreffenden Schülerinnen und Schülern niederschwellig nach einem Entscheid
der Schulleitung zugewiesen», sagt Andreas Loh, Leiter Zusätzliche
Unterstützung. Deshalb könne die Anzahl der Schülerinnen und Schüler, welche
die Förderangebote erhalten, nicht exakt festgestellt werden.
Umfragen
der BaZ unter Lehrern und Hochrechnungen zeigen jedoch, dass zusätzlich zu den
sonderschulischen Massnahmen nochmals rund 40 Prozent der Kinder, also
insgesamt gegen 7000 Schüler, über kürzere oder längere Zeit hinweg ein
Förderangebot benötigen.
Schule
soll sich Kind anpassen
Gaby
Hintermann sieht allerdings keinen Veränderungsnotstand beim System, sondern
bei der individuellen Betreuung, für die zu wenig Zeit bleibt. «Es gibt meist
einen Grund, weshalb Kinder schwierig sind», sagt sie. «Ich kann mich nicht
einfach hinstellen und Wissen vermitteln. Das sind Jugendliche, die mehr
wollen.» Ihr Gedanke: Nicht das Kind passt sich an die Schule an, sondern die
Schule an das Kind. Aber das bräuchte Zeit. «Viel mehr Zeit, als jetzt mit dem
ganzen Strukturumbau da ist», sagt sie.
Oft
scheine es die einfachere Lösung, einen Schüler aus der Klasse zu nehmen und in
eine Spezialklasse zu stecken, doch sie stellt die Nachhaltigkeit eines solchen
Vorgehens infrage: «Häufig schlüpft dann einfach ein anderes Kind in die Rolle
des Aufrührers.» Doch es gebe Ausnahmesituationen. «Wenn es wirklich nicht mehr
geht, müsste man schneller und unbürokratischer Hilfe bekommen.» Ab wann es
nicht mehr gehe, das sei eben sehr unterschiedlich. Und sie kritisiert, dass
die Klassen für Fremdsprachige aufgelöst worden sind. «Viele Lehrpersonen
sagen, dass Fremdsprachige in der Klasse ein Steinchen im Fächer zu viel sind.»
Sie hofft, dass sich das Erziehungsdepartement in dieser Hinsicht um eine
Umkehr bemüht.
«Fremdsprachenklassen
liegen als Verbundlösungen vereinzelt noch drin. Als Standardlösung entsprechen
Fremdsprachenklassen nicht der Idee der integrativen Schulung der Kinder in
ihrem eigenen Wohnumfeld», sagt Dieter Baur, Leiter Volksschulen. Allerdings
diskutiere man zurzeit darüber, welche Lösung man anbieten muss, falls durch
die Flüchtlingswelle zusätzlich deutschunkundige Kinder in die Klassen gespült
werden.
Bürokratie
schafft Unruhe
Auch
den Vorwurf, die schulische Integration würde die Lehrer zu sehr auslaugen,
will das Erziehungsdepartement nicht auf sich sitzen lassen. Es gebe
Spezialangebote für Schüler, die einen so hohen Bildungsbedarf haben, dass sie
in einer Regelschule nicht angemessen geschult werden können. Dort stünden
ausreichend Plätze für diese Zielgruppe zur Verfügung, sagt Andreas Loh: 32
Klassen mit insgesamt 260 Plätzen seien es insgesamt.
«Diese
Darstellung ist reine Schönfärberei und hat mit der schulischen Realität wenig
zu tun», sagt Roland Stark. Vielmehr werde die Unruhe in einer Klasse und das
Hin und Her für die betroffenen Kinder noch erhöht. Er hat auch schon hautnah
erlebt, wie schwierig es ist, schnell Hilfe zu bekommen, wenn es wegen
schwieriger Schüler in einer Klasse brodelt. Das dauere Monate. «Eine grosse
Quelle der Unruhe ist die Bürokratie selber», sagt er: die vielen Lehrer und
Heilpädagogen im Klassenzimmer, die Schreiben, Mails, Sitzungskadenzen und der
enorme Koordinationsaufwand, mit denen Lehrkräfte eingedeckt werden, die Lernberichte,
die sie schreiben müssen, und vieles mehr. «Den Lehrern stehen weder der nötige
Freiraum noch die Ressourcen für einen zusätzlichen Kraftakt zur Verfügung.»
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