25. November 2015

Lehrplan bevormundet Lehrpersonen

Wie viel musste er bis anhin über sich ergehen lassen? Kritik von allen Seiten. Man mag ihn nicht, zumindest mehrheitlich nicht. Als Hauptargument hört man in Bildungskreisen gegenwärtig die Kritik, der Lehrplan sei «unrealistisch», demnach nicht umsetzbar. Die Mehrheit der Schüler würden diesen Berg an Lernzielen nicht erreichen.
Diese Kritik ist falsch, denn auf diese Weise suggerieren die Kritiker, dass es richtig sei, überhaupt einen solchen kataloghaften Lehrplan zu haben, der sämtliche Lernziele - seien sie kognitiver, emotionaler oder sozialer Natur - umfasst, welche sich Schülerinnen und Schüler während der Volksschulzeit aneignen müssen. Ein Lehrplan ist ein bürokratisches Planungs- und Orientierungsinstrument, keine technische Anleitung durch die Schulzeit, kein Katalog von Lernzielen, keine Bedienungsanleitung für noch ungebildete menschliche Wesen.
Der Lehrplan ist bildungsfern, NZZ, 25.11. Gastkommentar von Laura Saia


Nicht in der unrealistischen Umsetzung der Lernziele liegt das besorgniserregende Problem des Lehrplans 21, sondern vielmehr in der Idee von Bildung und Erziehung, die nun plötzlich derart technisch und katalogisiert, nahezu seriell elaboriert daherkommt, ähnlich einem humanmedizinischen Handbuch, in dem der Arzt Symptome des erkrankten Patienten nachschlagen kann. Es ist diese mechanische und indexhafte Art und Weise, wie sich Ideen von Bildung und Schule in diesem neuen Lehrplan manifestieren, die derart falsch und beängstigend sind. Mit dem Lehrplan 21 verkommt der Begriff der Bildung zu einem technischen Konzept von Sich-Bilden und Gebildet-Sein. Er ist die Negierung von humanistischen Bildungsidealen, wie jenen der Aufklärung, in der es darum ging und nach wie vor geht, den Menschen in seinen geistigen Zügen ganzheitlich zu formen. Er vermittelt eine Idee von Bildung, die darauf ausgerichtet ist, Menschen zu für den Markt kompetenten Wesen heranzubilden, welche sich dann darin optimal bewegen können.
In Bildungskreisen hat man teilweise den Eindruck, der neue Lehrplan sei modern, fortschrittlich, eine pädagogische Innovation, weil er derart aufwendig und kompliziert erarbeitet wurde. Er umfasst viel Text, er gleicht einer Mini-Bibliothek. Man gestaltet aufwendige Powerpoint-Präsentationen, um in Seminaren und Weiterbildungen über ihn zu reden, ihn anderen zu erklären. Sogenannte Bildungsexperten machen Werbung für ihn, ähnlich einem Verkäufer von neuen Gemüserüst-Geräten an einer Messe.
Doch nur wenn wir vergessen oder verkennen, welche Bedeutung Bildung in ihrem Ursprung hat, greifen wir zu Mitteln wie der technokratischen Elaboration eines neuen Lehrplanes mit über 400 Kompetenzen. Eine kataloghafte Auflistung von über zehn Kompetenzen im Bereich der Literatur im Deutschunterricht zum Beispiel ist Beweis dafür, dass wir im Grunde genommen vergessen haben, was Literatur ist und welche wunderbare Bedeutung sie für Schule und Unterricht, ja für die Bildung eines jungen Menschen im humanistischen Sinne hat.
Wir kompensieren diesen Verlust, indem wir minuziös auflisten, was im Literaturunterricht gelehrt und gelernt werden muss. Der Lehrplan 21 ist ein Hilferuf! In ihm manifestiert sich die Unfähigkeit, nicht mehr in Worte zu fassen, was Bildung denn tatsächlich ist. Wir füllen Seiten mit vermeintlich gescheiten Überlegungen, dabei fehlt uns die Sprache.
Der Lehrplan leidet - um in den Worten von modernen Pädagogen zu sprechen - in erbärmlichster Art und Weise unter «Bildungsferne»! Nur wer die Orientierung verliert, muss derartige Listen verfassen. Er zweifelt zudem in massivster Art und Weise an der Fähigkeit der Lehrpersonen, guten Unterricht zu leisten und Kindern und Jugendlichen die Welt zu erklären und sie zu mündigen Menschen heranwachsen zu lassen. Eine Gesellschaft, welche überzeugt ist, gute, intelligente Lehrpersonen auszubilden, muss diesen keinen Katalog an Bildungszielen vor die Nase halten, damit sie ja nicht vergessen, was sie den Schülern noch beibringen müssen. Wir Lehrpersonen brauchen kein Handbuch, in dem geschrieben steht, dass der Schüler in einem schwierig zu verstehenden Text Wichtiges anstreichen können muss, damit ihm das Lesen erleichtert wird.
Der Lehrplan 21 hat die Bildung in technischster Weise determiniert und sich so fast gänzlich von ihrem Ursprung entfernt. Wo bleibt denn zwischen all den Kompetenzen noch Zeit und Raum, sich von seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit zu befreien? Es ist Zeit, Kant wieder einmal auf die Schulter zu klopfen, bevor wir noch glauben, es sei richtig, dass im Lehrplan irgendwann Dinge stehen wie: «Der Schüler kann sich mit eigener Muskelkraft ins Schulzimmer begeben, seinen Platz einnehmen und allenfalls Schreibmaterial hervornehmen.»

Wir müssen wieder Licht ins Dunkle bringen, und dies nicht mit dem grellen Licht aufwendiger Powerpoint-Präsentationen in einem dunklen Seminarraum.

Laura Saia ist Sekundarlehrerin in Winterthur

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