Wie viel musste er bis anhin über sich
ergehen lassen? Kritik von allen Seiten. Man mag ihn nicht, zumindest
mehrheitlich nicht. Als Hauptargument hört man in Bildungskreisen gegenwärtig
die Kritik, der Lehrplan sei «unrealistisch», demnach nicht umsetzbar. Die
Mehrheit der Schüler würden diesen Berg an Lernzielen nicht erreichen.
Diese Kritik ist falsch, denn auf diese Weise suggerieren die
Kritiker, dass es richtig sei, überhaupt einen solchen kataloghaften Lehrplan
zu haben, der sämtliche Lernziele - seien sie kognitiver, emotionaler oder
sozialer Natur - umfasst, welche sich Schülerinnen und Schüler während der
Volksschulzeit aneignen müssen. Ein Lehrplan ist ein bürokratisches Planungs-
und Orientierungsinstrument, keine technische Anleitung durch die Schulzeit,
kein Katalog von Lernzielen, keine Bedienungsanleitung für noch ungebildete
menschliche Wesen.
Der Lehrplan ist bildungsfern, NZZ, 25.11. Gastkommentar von Laura Saia
Nicht in der unrealistischen Umsetzung der Lernziele liegt das
besorgniserregende Problem des Lehrplans 21, sondern vielmehr in der Idee von
Bildung und Erziehung, die nun plötzlich derart technisch und katalogisiert,
nahezu seriell elaboriert daherkommt, ähnlich einem humanmedizinischen
Handbuch, in dem der Arzt Symptome des erkrankten Patienten nachschlagen kann.
Es ist diese mechanische und indexhafte Art und Weise, wie sich Ideen von
Bildung und Schule in diesem neuen Lehrplan manifestieren, die derart falsch
und beängstigend sind. Mit dem Lehrplan 21 verkommt der Begriff der Bildung zu
einem technischen Konzept von Sich-Bilden und Gebildet-Sein. Er ist die
Negierung von humanistischen Bildungsidealen, wie jenen der Aufklärung, in der
es darum ging und nach wie vor geht, den Menschen in seinen geistigen Zügen
ganzheitlich zu formen. Er vermittelt eine Idee von Bildung, die darauf ausgerichtet
ist, Menschen zu für den Markt kompetenten Wesen heranzubilden, welche sich
dann darin optimal bewegen können.
In Bildungskreisen hat man teilweise den Eindruck, der neue
Lehrplan sei modern, fortschrittlich, eine pädagogische Innovation, weil er derart
aufwendig und kompliziert erarbeitet wurde. Er umfasst viel Text, er gleicht
einer Mini-Bibliothek. Man gestaltet aufwendige Powerpoint-Präsentationen, um
in Seminaren und Weiterbildungen über ihn zu reden, ihn anderen zu erklären.
Sogenannte Bildungsexperten machen Werbung für ihn, ähnlich einem Verkäufer von
neuen Gemüserüst-Geräten an einer Messe.
Doch nur wenn wir vergessen oder verkennen, welche Bedeutung
Bildung in ihrem Ursprung hat, greifen wir zu Mitteln wie der technokratischen
Elaboration eines neuen Lehrplanes mit über 400 Kompetenzen. Eine kataloghafte
Auflistung von über zehn Kompetenzen im Bereich der Literatur im
Deutschunterricht zum Beispiel ist Beweis dafür, dass wir im Grunde genommen
vergessen haben, was Literatur ist und welche wunderbare Bedeutung sie für
Schule und Unterricht, ja für die Bildung eines jungen Menschen im
humanistischen Sinne hat.
Wir kompensieren diesen Verlust, indem wir minuziös auflisten, was
im Literaturunterricht gelehrt und gelernt werden muss. Der Lehrplan 21 ist ein
Hilferuf! In ihm manifestiert sich die Unfähigkeit, nicht mehr in Worte zu
fassen, was Bildung denn tatsächlich ist. Wir füllen Seiten mit vermeintlich
gescheiten Überlegungen, dabei fehlt uns die Sprache.
Der Lehrplan leidet - um in den Worten von modernen Pädagogen zu
sprechen - in erbärmlichster Art und Weise unter «Bildungsferne»! Nur wer die
Orientierung verliert, muss derartige Listen verfassen. Er zweifelt zudem in
massivster Art und Weise an der Fähigkeit der Lehrpersonen, guten Unterricht zu
leisten und Kindern und Jugendlichen die Welt zu erklären und sie zu mündigen
Menschen heranwachsen zu lassen. Eine Gesellschaft, welche überzeugt ist, gute,
intelligente Lehrpersonen auszubilden, muss diesen keinen Katalog an
Bildungszielen vor die Nase halten, damit sie ja nicht vergessen, was sie den
Schülern noch beibringen müssen. Wir Lehrpersonen brauchen kein Handbuch, in
dem geschrieben steht, dass der Schüler in einem schwierig zu verstehenden Text
Wichtiges anstreichen können muss, damit ihm das Lesen erleichtert wird.
Der Lehrplan 21 hat die Bildung in technischster Weise
determiniert und sich so fast gänzlich von ihrem Ursprung entfernt. Wo bleibt
denn zwischen all den Kompetenzen noch Zeit und Raum, sich von seiner
selbstverschuldeten Unmündigkeit zu befreien? Es ist Zeit, Kant wieder einmal
auf die Schulter zu klopfen, bevor wir noch glauben, es sei richtig, dass im
Lehrplan irgendwann Dinge stehen wie: «Der Schüler kann sich mit eigener
Muskelkraft ins Schulzimmer begeben, seinen Platz einnehmen und allenfalls
Schreibmaterial hervornehmen.»
Wir müssen wieder Licht ins Dunkle bringen, und dies nicht mit dem
grellen Licht aufwendiger Powerpoint-Präsentationen in einem dunklen
Seminarraum.
Laura Saia ist Sekundarlehrerin in Winterthur
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