6. November 2015

Hans Zbinden kritisiert Lehrplan 21

Kompetenz – das (Un-)Wort am bildungspolitischen Podiumsgespräch des Verbands der Dozierenden der PH FHNW. Oder zumindest das umstrittenste Wort des Abends. Ganz harmlos gab Georg Geiger, Gymnasiallehrer mit Lehrererfahrung im Volksschulbereich, vor der Diskussion im Bahnhofbuffet Olten ein Inputreferat und erzählte gleich an erlebten Beispielen, welchen Herausforderung sich Lehrer im Berufsalltag stellen müssen. Von desinteressierten Schülern beim liebevoll organisierten Ausflug bis zum fehlenden Verständnis vom Schulleiter für zu grosse Sonderklassen. Leichtes Kopfnicken der rund 30 anwesenden Publikumsgäste. Nichts Neues für sie.










Jürg Brühlmann (LCH): "Diskussion öffentlich führen statt abklemmen", Bild: LCH
Streitpunkt: Der Lehrplan 21, Solothurner Zeitung, 6.11. von Bruno Kissling


«Pädagogischer Rollator»
Das Inputreferat wurde hitziger. Entdemokratisierung, Standardisierung, Ökonomisierung – Geiger ging mit dem aktuellen Schulsystem hart ins Gericht. Dabei kritisierte er vor allem den Begriff «Kompetenz», Schlüsselwort im Lehrplan 21. In der Schule sei neuerdings nicht mehr Substanz gefragt, sondern lediglich Kompetenz. «Lesekompetenz, Sprechkompetenz, Lebenskompetenz und bald wohl noch Sterbekompetenz», sagt er. Das Ziel sei offenbar, die Individuen nur anpassungsfähig zu machen. «Zu abstrakt» bezeichnet er den neuen Lehrplan, «ein pädagogischer Rollator». Als Folge der Tausenden Anforderungen des Lehrplans würden Lehrer an ihre Grenzen stossen. Von der Politik scheint er sich nicht ernstgenommen zu fühlen. Die schwierige Anwendung würde verharmlost werden. «Es heisst, unsere Sorgen seien unnötig, weil Lehrpläne sowieso nicht gross beachtet würden.»
Aus der Wirtschaftsperspektive verteidigte Stefan Vannoni, stellvertretender Leiter allgemeine Wirtschaftspolitik und Bildung bei Economiesuisse, den neuen Lehrplan. Dieser bringe Vorteile mit sich, sei Orientierungshilfe und faktenbasiert – weniger ideologisch. Die Schüler können lernen, selbstbestimmt zu leben und Dinge kritisch zu hinterfragen. Anton Hügli, philosophisches Seminar Uni Basel und ehemaliger Direktor des pädagogischen Instituts Basel, kritisiert die neue Idee, den Output zu kontrollieren, und bezieht sich auf die Checks und Tests, die national und kantonal durchgeführt werden. «So kommen die Lehrkräfte unter Druck.»

«Was hätten Sie heute anders gemacht?», fragt Alfred Schlienger, Moderator sowie Co-Präsident des VDNW, Jürg Brühlmann. Der Leiter der pädagogischen Arbeitsstelle LCH war beim Entwerfen des neuen Lehrplans dabei. «Wir hätten die Diskussion öffentlich geführt und nicht abgeklemmt», räumt er ein. Inwiefern der Lehrplan etwas mit Politik zu tun hat, erklärte Hans Zbinden, ehemaliger SP-Nationalrat AG und Verfasser der Bildungsrahmenartikel in der Bundesverfassung: «Jeder Lehrplan ist politisch. Die Frage ist nur, ob man es implizit oder explizit zugibt.» Er stelle fest, dass der Lehrplan 21 die Grundidee der Bildungsverfassung nicht erfasst habe. Dieser müsste den Kantonen lediglich einen Rahmen liefern, das heisst zugeschnittene Lösungen ermöglichen. Die Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) habe aber leider den Top-Down-Ansatz gewählt. Sprich Werte vorgegeben und erst am Schluss die Details ausformuliert. «Ich hätte eher zusammen mit Lehrern nach dem Down-Up-Ansatz einen Plan entwickelt.»

Nicht zu lang
Übertrieben findet Vera Husfeldt, Leiterin der Abteilung Qualitätsentwicklung der EDK, die Aussage, dass der Lehrplan zu lang und zu kompliziert sei. «Warum muss der Lehrplan für die Eltern verständlich sein? Er ist ja für die Lehrer gedacht.» Die aktuellen Bedenken und Reklamationen sind laut Tina Hascher, Schul- und Unterrichtsforschung Uni Bern, quasi normal. «Bisher hat jede Lehrplan-Reform Widerstände ausgelöst.» Der Kompetenzbegriff sei leider negativ konnotiert. Er bedeute aber keinen Verlust von Fachlichkeit und Wissen: «Ohne solides Wissen kann man Kompetenz gar nicht entwickeln.»

«Handelt es sich hier nur um ein Definitionsproblem?», fragte Moderator Alfred Schlienger. Der umstrittene Begriff stammt aus dem Berufsfeld. Dort würden sich die Lernenden freiwillig entscheiden, sich die entsprechenden Kompetenzen anzueignen, sagte Brühlmann vom LCH. In einer öffentlichen, obligatorischen Schule dürfen die Schüler aber nicht wählen, ob sie die festgelegten Kompetenzen lernen möchten. Deshalb dürfe der Staat zum Beispiel bei sozialen Kompetenzen nicht zu viel vorgeben. Wir seien hier nicht in China. Aber fast, meinte er, sei die erste Version mit zu strengen Vorgaben gedruckt worden. «Ganz kurz davor habe ich noch einige Sätze geändert; abgeschwächt.»

Auf den Laptop fokussiert
Eine mögliche Tendenz im Bildungssystem widerspiegelt sich in der Lehrerausbildung selbst. Der Studierende Kaspar Lüthi: «An Vorlesungen zum Beispiel sind die Studierenden meistens auf den Laptop konzentriert.» Der Blick auf die Inhalte gehe aber durch den Leistungsdruck verloren. «Wenn wir uns daran gewöhnen, durch das System durchzurutschen, ohne auf die Inhalte zu fokussieren, werden wir schliesslich auch als Lehrpersonen so handeln.»


Ein anderes Risiko erklärt Brühlmann: Das System sei durch den Lehrplan 21 mit Modulen aufgebaut. Dies ermögliche Bildungsunternehmen, ins System einzudringen. «Darüber darf man laut der EDK aber ja gar nicht sprechen.» Aus dem Publikum meldete sich die FHNW-Dozentin Elke Hildebrandt und warnte vor einer Ökonomisierung: «Es herrscht ein Nutz-Denken. Alles muss effizient sein, wie in der Wirtschaft.» Um die Schüler zu mündigen Bürger zu machen –das sei auch das Ziel des neuen Lehrplans – müsste die Wertefrage mitberücksichtigt werden. Hans Zbinden: Heute lehrt das System, wie man sich als junger Mensch verkaufen könne. Aber nicht, wie man im Gemeinwesen Verantwortung übernimmt. «So verlieren wir ein zentrales Stück unserer Identität.» 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen