Kompetenz
– das (Un-)Wort am bildungspolitischen Podiumsgespräch des Verbands der
Dozierenden der PH FHNW. Oder zumindest das umstrittenste Wort des Abends. Ganz
harmlos gab Georg Geiger, Gymnasiallehrer mit Lehrererfahrung im
Volksschulbereich, vor der Diskussion im Bahnhofbuffet Olten ein Inputreferat
und erzählte gleich an erlebten Beispielen, welchen Herausforderung sich Lehrer
im Berufsalltag stellen müssen. Von desinteressierten Schülern beim liebevoll
organisierten Ausflug bis zum fehlenden Verständnis vom Schulleiter für zu
grosse Sonderklassen. Leichtes Kopfnicken der rund 30 anwesenden
Publikumsgäste. Nichts Neues für sie.
Jürg Brühlmann (LCH): "Diskussion öffentlich führen statt abklemmen", Bild: LCH
Streitpunkt: Der Lehrplan 21, Solothurner Zeitung, 6.11. von Bruno Kissling
«Pädagogischer Rollator»
Das
Inputreferat wurde hitziger. Entdemokratisierung, Standardisierung,
Ökonomisierung – Geiger ging mit dem aktuellen Schulsystem hart ins Gericht.
Dabei kritisierte er vor allem den Begriff «Kompetenz», Schlüsselwort im
Lehrplan 21. In der Schule sei neuerdings nicht mehr Substanz gefragt, sondern
lediglich Kompetenz. «Lesekompetenz, Sprechkompetenz, Lebenskompetenz und bald
wohl noch Sterbekompetenz», sagt er. Das Ziel sei offenbar, die Individuen nur
anpassungsfähig zu machen. «Zu abstrakt» bezeichnet er den neuen Lehrplan, «ein
pädagogischer Rollator». Als Folge der Tausenden Anforderungen des Lehrplans
würden Lehrer an ihre Grenzen stossen. Von der Politik scheint er sich nicht
ernstgenommen zu fühlen. Die schwierige Anwendung würde verharmlost werden. «Es
heisst, unsere Sorgen seien unnötig, weil Lehrpläne sowieso nicht gross
beachtet würden.»
Aus der
Wirtschaftsperspektive verteidigte Stefan Vannoni, stellvertretender Leiter
allgemeine Wirtschaftspolitik und Bildung bei Economiesuisse, den neuen
Lehrplan. Dieser bringe Vorteile mit sich, sei Orientierungshilfe und
faktenbasiert – weniger ideologisch. Die Schüler können lernen, selbstbestimmt
zu leben und Dinge kritisch zu hinterfragen. Anton Hügli, philosophisches
Seminar Uni Basel und ehemaliger Direktor des pädagogischen Instituts Basel,
kritisiert die neue Idee, den Output zu kontrollieren, und bezieht sich auf die
Checks und Tests, die national und kantonal durchgeführt werden. «So kommen die
Lehrkräfte unter Druck.»
«Was
hätten Sie heute anders gemacht?», fragt Alfred Schlienger, Moderator sowie
Co-Präsident des VDNW, Jürg Brühlmann. Der Leiter der pädagogischen Arbeitsstelle
LCH war beim Entwerfen des neuen Lehrplans dabei. «Wir hätten die Diskussion
öffentlich geführt und nicht abgeklemmt», räumt er ein. Inwiefern der Lehrplan
etwas mit Politik zu tun hat, erklärte Hans Zbinden, ehemaliger SP-Nationalrat
AG und Verfasser der Bildungsrahmenartikel in der Bundesverfassung: «Jeder
Lehrplan ist politisch. Die Frage ist nur, ob man es implizit oder explizit
zugibt.» Er stelle fest, dass der Lehrplan 21 die Grundidee der
Bildungsverfassung nicht erfasst habe. Dieser müsste den Kantonen lediglich
einen Rahmen liefern, das heisst zugeschnittene Lösungen ermöglichen. Die
Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) habe aber
leider den Top-Down-Ansatz gewählt. Sprich Werte vorgegeben und erst am Schluss
die Details ausformuliert. «Ich hätte eher zusammen mit Lehrern nach dem
Down-Up-Ansatz einen Plan entwickelt.»
Nicht zu lang
Übertrieben
findet Vera Husfeldt, Leiterin der Abteilung Qualitätsentwicklung der EDK, die
Aussage, dass der Lehrplan zu lang und zu kompliziert sei. «Warum muss der
Lehrplan für die Eltern verständlich sein? Er ist ja für die Lehrer gedacht.»
Die aktuellen Bedenken und Reklamationen sind laut Tina Hascher, Schul- und
Unterrichtsforschung Uni Bern, quasi normal. «Bisher hat jede Lehrplan-Reform
Widerstände ausgelöst.» Der Kompetenzbegriff sei leider negativ konnotiert. Er
bedeute aber keinen Verlust von Fachlichkeit und Wissen: «Ohne solides Wissen
kann man Kompetenz gar nicht entwickeln.»
«Handelt
es sich hier nur um ein Definitionsproblem?», fragte Moderator Alfred
Schlienger. Der umstrittene Begriff stammt aus dem Berufsfeld. Dort würden sich
die Lernenden freiwillig entscheiden, sich die entsprechenden Kompetenzen
anzueignen, sagte Brühlmann vom LCH. In einer öffentlichen, obligatorischen
Schule dürfen die Schüler aber nicht wählen, ob sie die festgelegten
Kompetenzen lernen möchten. Deshalb dürfe der Staat zum Beispiel bei sozialen
Kompetenzen nicht zu viel vorgeben. Wir seien hier nicht in China. Aber fast,
meinte er, sei die erste Version mit zu strengen Vorgaben gedruckt worden.
«Ganz kurz davor habe ich noch einige Sätze geändert; abgeschwächt.»
Auf den Laptop fokussiert
Eine
mögliche Tendenz im Bildungssystem widerspiegelt sich in der Lehrerausbildung
selbst. Der Studierende Kaspar Lüthi: «An Vorlesungen zum Beispiel sind die
Studierenden meistens auf den Laptop konzentriert.» Der Blick auf die Inhalte
gehe aber durch den Leistungsdruck verloren. «Wenn wir uns daran gewöhnen,
durch das System durchzurutschen, ohne auf die Inhalte zu fokussieren, werden
wir schliesslich auch als Lehrpersonen so handeln.»
Ein
anderes Risiko erklärt Brühlmann: Das System sei durch den Lehrplan 21 mit
Modulen aufgebaut. Dies ermögliche Bildungsunternehmen, ins System
einzudringen. «Darüber darf man laut der EDK aber ja gar nicht sprechen.» Aus
dem Publikum meldete sich die FHNW-Dozentin Elke Hildebrandt und warnte vor
einer Ökonomisierung: «Es herrscht ein Nutz-Denken. Alles muss effizient sein,
wie in der Wirtschaft.» Um die Schüler zu mündigen Bürger zu machen –das sei
auch das Ziel des neuen Lehrplans – müsste die Wertefrage mitberücksichtigt
werden. Hans Zbinden: Heute lehrt das System, wie man sich als junger Mensch
verkaufen könne. Aber nicht, wie man im Gemeinwesen Verantwortung übernimmt.
«So verlieren wir ein zentrales Stück unserer Identität.»
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