20. November 2015

Flüchtlinge: Kein Ausbau der Strukturen

Die Zürcher Bildungsdirektorin Silvia Steiner sieht momentan keinen Grund für den Ausbau der Strukturen der Volksschule. Der Zustrom von Flüchtlingen beschäftigt die Zürcher Schulen aber zunehmend. Bleibe er im erwarteten Rahmen, sei er zu bewältigen, sagt Silvia Steiner.











Will Lehrpersonen den Rücken stärken: Silvia Steiner (CVP), Bild: NZZ
"Probleme können in kleinen Gemeinden entstehen", NZZ, 20.11. von Dorothee Vögeli und Walter Bernet



Frau Steiner, ist die Zürcher Volksschule für die Aufnahme der stark steigenden Zahl von Flüchtlingskindern gewappnet?
Qualitativ sind die Schulen gewappnet, quantitativ momentan auch - allerdings wissen wir nicht, wie viele schulpflichtige Kinder und Jugendliche noch kommen. Mit den bestehenden Strukturen hätten wir Mühe, von einem Tag auf den andern eine sehr grosse Anzahl zu bewältigen.

Bereits jetzt müssen mehr Flüchtlingskinder als sonst integriert werden. Melden sich überforderte Schulgemeinden?
Klagen habe ich bisher nicht vernommen. Es sind sich alle bewusst, dass wir für die Kinder - die Schwächsten in dieser Flüchtlingstragödie - eine besondere Verantwortung tragen. Zurzeit rechnen wir mit rund 700 neu ankommenden Asylsuchenden im schulpflichtigen Alter bis Ende Jahr. Diese Kinder und Jugendlichen können wir gut auf die 220 Schulgemeinden mit 500 Schulhäusern verteilen und dort integrieren. Probleme können in kleinen Gemeinden entstehen, weil dort einzelne Schüler mit ausserordentlichen Bedürfnissen mehr ins Gewicht fallen. Aber auch dort wären die Strukturen grundsätzlich vorhanden, um solche Kinder aufzufangen.

Im Umgang mit - häufig traumatisierten - unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden hat die Volksschule wenig Erfahrung. Was ist zu tun?
Ich bin nicht sicher, ob unbegleitete Minderjährige generell stärker traumatisiert sind als Kinder, die mit ihren Eltern flüchten. Was aber stimmt: Bei Unbegleiteten wissen wir nicht, was ihnen während der Reise alles widerfahren ist. Manche wurden versklavt oder vergewaltigt. Aber im Umgang mit Traumatisierten hat die Schule durchaus Erfahrung. Ich erinnere an die Kindersoldaten aus Rwanda oder die Kriegstraumatisierten aus dem Balkan.
Traumatisierte Kinder brauchen Unterstützung ausserhalb des Regelunterrichts.
Ja, solche Hilfe ist sehr wichtig. Die Lehrkräfte ziehen in diesen Fällen heilpädagogische und psychologische Unterstützung bei.

Schweizweit ist die separate Schulung von Neuankömmlingen ein Thema geworden. Was halten Sie davon?
Im Kanton Zürich gibt es derzeit 20 separate Aufnahmeklassen für rund 300 Flüchtlingskinder und -jugendliche, drei weitere Aufnahmeklassen sind geplant. Mir ist wichtig, dass die Flüchtlingskinder möglichst früh in die Gemeinden kommen.

Weshalb?
In Aufnahmeklassen, in denen alle ihre Muttersprache sprechen, lernen Flüchtlingskinder weniger schnell Deutsch. Gerade kleine Kinder können in den Regelklassen besser integriert werden. Für ältere unbegleitete Minderjährige, die in Wohnheimen wohnen, sind Aufnahme- oder Einschulungsklassen durchaus sinnvoll. Für sie stehen entsprechende Institutionen zur Verfügung.

Die meisten Kinder kommen nicht alleine. Gibt es Konzepte zur Intensivierung der Elternarbeit?
Elternarbeit ist bereits heute eine wichtige Aufgabe der Volksschule, die sehr ernst genommen wird.

Manche Flüchtlingskinder treten erst in die Schule ein, wenn andere bereits auf Lehrstellensuche sind. Verschwinden solche nach dem Schulaustritt vom Radar der Bildungsdirektion?
Offene Lehrstellen gäbe es; dieses Jahr blieben 1300 unbesetzt. Das Problem ist allerdings, dass solche Jugendliche oft noch nicht Deutsch können. Ihnen bieten die regionalen Berufswahlschulen ein Zwischenjahr an, das sogenannte integrationsorientierte Berufsvorbereitungsjahr. Das Ziel ist es, Jugendliche ohne Sprachkenntnisse im Rahmen eines Praktikums anzustellen und sie im Hinblick auf eine Lehre speziell zu fördern. In diesen Fragen der Berufsbildung sind wir in engem Austausch mit der Volkswirtschafts- und der Justizdirektion.

Es kommen nicht nur bildungsferne, sondern auch qualifizierte Eltern. Gibt es Überlegungen, wie deren Kinder in die Mittelschule zu bringen sind?
Wir planen keine vereinfachten Aufnahmebedingungen für die Mittelschulen. Die Stärke unseres dualen Bildungssystems liegt gerade darin, dass beide Wege offenstehen - über die Mittelschulen oder die Berufsbildung. Für leistungsfähige jugendliche Flüchtlinge ist die Berufsbildung mit ihrer Durchlässigkeit allenfalls der geeignetere Weg.

Wie sieht es an der Universität aus?
Die Universität ist bereit, im Einzelfall Lösungen zu suchen. Leider kommt es häufig vor, dass die Vorkenntnisse der Bewerber trotz Zeugnissen bei uns nicht für ein Hochschulstudium genügen, weil in den Herkunftsländern weniger hohe Anforderungen gestellt werden. Ein zusätzliches Problem sind die mangelnden Sprachkenntnisse der studierwilligen Asylsuchenden - auch wenn gewisse Studiengänge auf Englisch absolviert werden können.

Drückt man dann ein Auge zu?
Nein, am Level der Leistungsanforderungen machen wir keine Abstriche. Wir versuchen Flüchtlinge zu befähigen, das geforderte Niveau zu erreichen - zum Beispiel auf dem Umweg über die Berufsbildung oder die Fachhochschulen.

Also keine spezielle «Willkommenskultur» im Bildungsbereich?
Die Flüchtlinge haben ein Recht auf Bildung und auf Schulung. Bei den schulpflichtigen Kindern gilt das ohne Vorbehalt und unabhängig davon, warum sie gekommen sind und wie lange sie bleiben können. Im überobligatorischen Bereich zählt wie für alle anderen Jugendlichen Leistungsfähigkeit und -bereitschaft. Grundsätzlich ist es mir ein Anliegen, dass diesen Kindern und Jugendlichen die Zeit in der Schweiz etwas bringt - dass sie die Chance haben, persönlich weiterzukommen, gerade wenn sie vielleicht zurückkehren müssen.

Es gibt Klagen über «Helvetismen» bei Prüfungen an Gymnasien, die auch für gute Schüler aus dem Ausland unnötige Hürden darstellen können.
Das Problem stellt sich auf der Gymnasialstufe nicht. Aber aus der Berufsbildung wissen wir, dass Lernende daran scheitern können, dass sie Prüfungsaufgaben rein sprachlich nicht verstehen, obwohl sie das praktische Fachwissen mitbringen. Das ist allerdings kein Problem, das nur Jugendliche mit einem Migrationshintergrund betrifft. Wir arbeiten an dieser Problemstellung.

Zu den Schlüsselaufgaben der Schule gehört die Integration. Ist diese auch beim jetzigen Zustrom in jedem Fall das Ziel?
Von den 135 000 Schülerinnen und Schülern der Volksschule sind 34 000 ausländischer Nationalität, für 55 000 ist Deutsch die Zweitsprache. Bei diesen Zahlen fallen die zurzeit eintreffenden Flüchtlinge kaum ins Gewicht. Der Umgang mit andern Sprachen und anderen kulturellen Hintergründen gehört zum Schulalltag. Die Integrationserfolge unseres Bildungssystems erstaunen: Über 90 Prozent der jungen Menschen erreichen bei uns einen Abschluss auf Sekundarstufe II. Unsere Volksschule ist den bisherigen Herausforderungen gewachsen. Ich bin überzeugt, dass sie auch die derzeitige Situation meistern wird.

Woraus schöpfen Sie diese Zuversicht?
Die Volksschule ist heute weit besser für Integrationsaufgaben gerüstet als zur Zeit der Balkankriege. Mit dem neuen Volksschulgesetz können die Lehrpersonen im Rahmen des normalen Unterrichts unterschiedlichen Bedürfnissen gerecht werden. Das gilt nicht nur für Fremdsprachige, sondern beispielsweise auch für Kinder mit Behinderungen.

Allerdings werden schwer Integrierbare relativ schnell aus der Regelschule genommen und gesondert geschult.
Nicht alle Schulen tun das, aber es ist ein Problem unseres Systems, dass die Bereitschaft zur Integration von Schule zu Schule unterschiedlich ausgeprägt ist. Es gibt Lehrkräfte, die auch mit schwierigsten Fällen souverän umgehen, andere kommen damit schlechter zurecht.

Das wird dann problematisch, wenn Kinder aus anderen Kulturen nur wegen mangelnder Deutschkenntnisse sonderpädagogisch abgestempelt werden.
Generell nehmen externe Sonderschulungen ab. Wir stärken diese Entwicklung auch mit dem Projekt Fokus starke Lernbeziehungen, das die Anzahl Ansprechpartner der Kinder und die Unruhe im Klassenzimmer reduzieren soll.

Letztlich hängt der Erfolg aber von der Qualität der Lehrkräfte ab.
Das stimmt. Unterrichten, die Kinder betreuen und alle Probleme des Schulalltags bewältigen - das alles muss die Lehrkraft vor Ort. Es wäre vermessen, wenn ich von meinem Büro aus die Probleme im Einzelfall beurteilen wollte.

Welchen Rat geben Sie den Lehrkräften angesichts der Ungewissheit über die Flüchtlingszahlen in naher Zukunft?
Das zu tun, was sie jeden Tag tun. Sie machen ihre Arbeit gut und wollen das Beste für die Kinder. Wir können die Situation nicht ändern, sondern nur bestmöglich bewältigen. Es ist mein Ziel, Lehrpersonen dabei zu unterstützen und ihnen den Rücken zu stärken. Ich habe grossen Respekt vor ihrer Arbeit. Sie leisten Enormes.
Interview: Dorothee Vögeli, Walter Bernet


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