Angriffe statt Argumente, Bund, 6.11. von Walter Herzog und Alain Pichard
Wenn einem die Argumente fehlen, dann greift
man zum Zweihänder und attackiert den Gegner auf der persönlichen Ebene. Dieser
Devise scheint sich auch der Berner Erziehungsdirektor Bernhard Pulver
angeschlossen zu haben. Im Samstagsinterview im «Bund» vom 31. Oktober fällt er
nicht durch sachliche Stellungnahmen auf, sondern durch persönliche Angriffe.
Alain Pichard kann man nicht ernst nehmen, weil er «von Anfang an gegen das
Frühfranzösisch» war, was Konrad Paul Liessmann über Kompetenzen sagt, «stimmt
nicht», weil er die Situation in der Schweiz nicht kennt, Walter Herzog
«arbeitet mit Unterstellungen», und was die Lehrerinnen und Lehrer anbelangt,
so gibt es viele, «die von Neuem aus Prinzip nichts wissen wollen».
Vielleicht geht Pulver deshalb so unzimperlich
mit seinen Gegnern um, weil er mit seinen Argumenten kaum zu überzeugen vermag.
Schon mehrfach hat er den Kritikern des Lehrplans 21 die Behauptung
untergeschoben, bei Kompetenzen spiele das Wissen keine Rolle. Mit Leichtigkeit
lässt sich dann sagen, wie er es auch im «Bund»-Interview tut, dies sei
«Unsinn». In der Tat wäre dies Unsinn, nur hat kein ernsthafter Kritiker des
Lehrplans 21 dergleichen je gesagt. Eine einfache Definition lautet, dass wir
es mit einer Kompetenz dann zu tun haben, wenn ein Wissen, das man erworben
hat, mit einem Können verbunden wird. Insofern bildet das Wissen ein
definierendes Element des Kompetenzbegriffs, und man kann schlicht nicht sagen,
das Wissen spiele keine Rolle. Die Kritik lautet vielmehr, dass das Wissen, das
man benötigt, um eine Kompetenz aufzubauen, gegen- über dem Können beliebig
ist. Lesekompetenz kann man zum Beispiel erwerben, indem man einen Roman von
Max Frisch, die Packungsbeilage eines Arzneimittels oder die neueste Ausgabe
einer Boulevardzeitung liest.
Geradezu hilflos wirkt Pulvers Verteidigung
des Lehrplans 21, wenn er als neu ausgibt, «dass die Lehrer nicht mehr einfach
nur den Stoff durchnehmen und abfragen sollen». Keine Lehrperson, die ihren
Beruf ernst nimmt, unterrichtet in dieser Weise. Der Satz ist schlicht
beleidigend für die vielen Lehrerinnen und Lehrer in diesem Kanton, die ihren
Beruf professionell ausüben. Er geht zudem völlig am Punkt vorbei, denn wie
Pulver kurz zuvor selber sagt, bringt der Lehrplan 21 «nicht per se eine neue
Didaktik mit sich». Damit die Schülerinnen und Schüler lernen, wie man Wissen
nicht nur erwirbt, sondern auch anwendet, braucht es keinen neuen Lehrplan,
schon gar nicht den Lehrplan 21.
Wenn der Erziehungsdirektor im selben
Interview auch noch beteuert, auch er sei gegen Outputorientierung und
Standardisierung, muss er sich fragen lassen, weshalb er sich denn seinerzeit
so vehement für Harmos eingesetzt hat. Gerade in diesem Reformpaket sind genau
diese neuen Steuerungselemente angelegt. Harmos und Lehrplan 21 haben sich
längst vom ursprünglichen Ziel einer Harmonisierung unseres Schulsystems
verabschiedet. Es geht um Steuerung und Gleichschaltung.
Letztlich ist ein Lehrplan weder ein
pädagogisches noch ein didaktisches, sondern ein politisches Instrument, dem in
einer demokratischen Gesellschaft eine sehr präzise Funktion zukommt. Ein
Lehrplan stellt die Verbindung her zwischen Schule und Gesellschaft, insofern
die Bürgerinnen und Bürger mit dem Lehrplan den Auftrag festlegen, den sie der
Schule erteilen wollen – einer Schule wohlgemerkt, die in der Schweiz noch
immer eine öffentliche Institution bildet.
Deshalb kann es auch allein die
Öffentlichkeit sein, die über die Einführung eines (neuen) Lehrplans
entscheidet. Dass das Berner Volksschulgesetz etwas anderes vorsieht, ist
stossend genug und sollte so bald wie möglich korrigiert werden. Auch in diesem
Punkt wirken die Äusserungen Pulvers reichlich unbeholfen, denn weder eine
Vernehmlassung noch eine Diskussion im Grossen Rat erfüllt das Kriterium der
öffentlichen Entscheidungsfindung. Dem Volk abzusprechen, in Lehrplanfragen
mitreden und entscheiden zu können, zeugt nicht nur von einer fatalen
Fehleinschätzung der Funktion eines Lehrplans, sondern auch von einer
Missachtung der politischen Kultur in diesem Land.
Der
emeritierte Professor Walter Herzog war Direktor der Abteilung Pädagogische
Psychologie am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Bern. Alain
Pichard ist Reallehrer in Orpund und sitzt für die GLP im Bieler Stadtrat
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen