6. November 2015

Die Angeschossenen schiessen zurück

In einem Interview attackierte der Berner Erziehungsdirektor Bernhard Pulver die Kritiker des Lehrplans 21. Deren Argumente könne man nicht ernst nehmen. Ausserdem verteidigte Pulver die Haltung, wonach das Volk in Lehrplanfragen nichts zu entscheiden habe. Nun schiessen Alain Pichard und Walter Herzog zurück. 
Angriffe statt Argumente, Bund, 6.11. von Walter Herzog und Alain Pichard


Wenn einem die Argumente fehlen, dann greift man zum Zweihänder und attackiert den Gegner auf der persönlichen Ebene. Dieser Devise scheint sich auch der Berner Erziehungsdirektor Bernhard Pulver angeschlossen zu haben. Im Samstagsinterview im «Bund» vom 31. Oktober fällt er nicht durch sachliche Stellungnahmen auf, sondern durch persönliche Angriffe. Alain Pichard kann man nicht ernst nehmen, weil er «von Anfang an gegen das Frühfranzösisch» war, was Konrad Paul Liessmann über Kompetenzen sagt, «stimmt nicht», weil er die Situation in der Schweiz nicht kennt, Walter Herzog «arbeitet mit Unterstellungen», und was die Lehrerinnen und Lehrer anbelangt, so gibt es viele, «die von Neuem aus Prinzip nichts wissen wollen».

Vielleicht geht Pulver deshalb so unzimperlich mit seinen Gegnern um, weil er mit seinen Argumenten kaum zu überzeugen vermag. Schon mehrfach hat er den Kritikern des Lehrplans 21 die Behauptung untergeschoben, bei Kompetenzen spiele das Wissen keine Rolle. Mit Leichtigkeit lässt sich dann sagen, wie er es auch im «Bund»-Interview tut, dies sei «Unsinn». In der Tat wäre dies Unsinn, nur hat kein ernsthafter Kritiker des Lehrplans 21 dergleichen je gesagt. Eine einfache Definition lautet, dass wir es mit einer Kompetenz dann zu tun haben, wenn ein Wissen, das man erworben hat, mit einem Können verbunden wird. Insofern bildet das Wissen ein definierendes Element des Kompetenzbegriffs, und man kann schlicht nicht sagen, das Wissen spiele keine Rolle. Die Kritik lautet vielmehr, dass das Wissen, das man benötigt, um eine Kompetenz aufzubauen, gegen- über dem Können beliebig ist. Lesekompetenz kann man zum Beispiel erwerben, indem man einen Roman von Max Frisch, die Packungsbeilage eines Arzneimittels oder die neueste Ausgabe einer Boulevardzeitung liest.

Geradezu hilflos wirkt Pulvers Verteidigung des Lehrplans 21, wenn er als neu ausgibt, «dass die Lehrer nicht mehr einfach nur den Stoff durchnehmen und abfragen sollen». Keine Lehrperson, die ihren Beruf ernst nimmt, unterrichtet in dieser Weise. Der Satz ist schlicht beleidigend für die vielen Lehrerinnen und Lehrer in diesem Kanton, die ihren Beruf professionell ausüben. Er geht zudem völlig am Punkt vorbei, denn wie Pulver kurz zuvor selber sagt, bringt der Lehrplan 21 «nicht per se eine neue Didaktik mit sich». Damit die Schülerinnen und Schüler lernen, wie man Wissen nicht nur erwirbt, sondern auch anwendet, braucht es keinen neuen Lehrplan, schon gar nicht den Lehrplan 21.

Wenn der Erziehungsdirektor im selben Interview auch noch beteuert, auch er sei gegen Outputorientierung und Standardisierung, muss er sich fragen lassen, weshalb er sich denn seinerzeit so vehement für Harmos eingesetzt hat. Gerade in diesem Reformpaket sind genau diese neuen Steuerungselemente angelegt. Harmos und Lehrplan 21 haben sich längst vom ursprünglichen Ziel einer Harmonisierung unseres Schulsystems verabschiedet. Es geht um Steuerung und Gleichschaltung.

Letztlich ist ein Lehrplan weder ein pädagogisches noch ein didaktisches, sondern ein politisches Instrument, dem in einer demokratischen Gesellschaft eine sehr präzise Funktion zukommt. Ein Lehrplan stellt die Verbindung her zwischen Schule und Gesellschaft, insofern die Bürgerinnen und Bürger mit dem Lehrplan den Auftrag festlegen, den sie der Schule erteilen wollen – einer Schule wohlgemerkt, die in der Schweiz noch immer eine öffentliche Institution bildet.

Deshalb kann es auch allein die Öffentlichkeit sein, die über die Einführung eines (neuen) Lehrplans entscheidet. Dass das Berner Volksschulgesetz etwas anderes vorsieht, ist stossend genug und sollte so bald wie möglich korrigiert werden. Auch in diesem Punkt wirken die Äusserungen Pulvers reichlich unbeholfen, denn weder eine Vernehmlassung noch eine Diskussion im Grossen Rat erfüllt das Kriterium der öffentlichen Entscheidungsfindung. Dem Volk abzusprechen, in Lehrplanfragen mitreden und entscheiden zu können, zeugt nicht nur von einer fatalen Fehleinschätzung der Funktion eines Lehrplans, sondern auch von einer Missachtung der politischen Kultur in diesem Land.


Der emeritierte Professor Walter Herzog war Direktor der Abteilung Pädagogische Psychologie am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Bern. Alain Pichard ist Reallehrer in Orpund und sitzt für die GLP im Bieler Stadtrat

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