16. Oktober 2015

Wissenschaft hat den Menschen zu dienen und nicht umgekehrt

«Intraindividuelle Entwicklung», «zirkadiane Rhythmen», «intermodale Wahrnehmung»: Die Studierenden haben ihren Laptop, Bücher und Notizen vor sich. Sie schauen nach vorn, während ich ihnen Begriffe erkläre, die sie in den Fach­artikeln gelesen oder an Vorlesungen gehört haben. Ich erläutere die Merkmale des ­Konvergenzmodells, gebe Beispiele kontrafaktischer Syllogismen und des Kompetenzstrukturmodells. Die Studierenden wirken motiviert, ­diskutieren im Flüsterton. Die Begriffe müssen sie kennen, wenn sie ihre Multiple-Choice-Prüfungen bestehen und Punkte bekommen wollen. Sie möchten sich auf ihren Beruf, das Unterrichten von Kindern und Jugendlichen, vorbereiten. Ein Student hebt seinen Arm, blickt mich leicht vorwurfsvoll an und meint: «Was bringen uns diese Begriffe bei unserer Arbeit mit Kindern und Jugendlichen?» Sofort kehrt Stille im Saal ein.











Allan Guggenbühl: "Es überleben nur jene Konzepte, die mit Erlebnisqualität gefüllt werden können", Bild: SRF
Gescheit reden ist nicht immer klug, Basler Zeitung, 16.10. von Allan Guggenbühl


Die konventionelle Antwort ist, dass es zur professionellen Ausbildung gehört, sich eine ­wissenschaftliche Begrifflichkeit anzueignen. Sie helfen, die multifaktoriellen Hintergründe und vielschichtigen Bedingungen des Aufwachsens zu erkennen. Naive Privattheorien müssen hinterfragt, die eigene Wahrnehmung geschärft und die Schüler nach objektiven und wissenschaftlichen Kriterien beurteilt werden. Lehrpersonen sollen sich als Fachpersonen verstehen, deren Unterrichtsmethoden empirisch abgestützt sind.
Es gibt ein andere, leicht polemische Antwort: Die Begriffe müssen gelernt werden, weil sich eine Akademikergilde profilieren und sich die Defini­tionsmacht der Praxis aneignen will. Sie zwingt ihren Jargon Studierenden auf, um den eigenen Einfluss auszuweiten und gemäss ihren Kriterien selektionieren zu können. Konzepte und Theorien, die in praxisfernen Institutionen von universitären Forschern entwickelt wurden, werden Menschen an der Front aufgedrängt, damit diese nach ihrer Zunge reden. Modelle, die der Profilierung in Fachjournalen und Kongressen dienen, sollen die schulische Wirklichkeit bestimmen. Die Schulen werden zum Implementierungsfeld der Wissenschaft. Fachhochschulen wirken als willige Helfer, in der Hoffnung auf Reputationsgewinn. Die ­Sorgen und Erfahrungen der Menschen in Praxis werden kaum wahrgenommen und Kinder sind nur als Datenlieferanten interessant.
Beide Antworten sind einseitig. Die Forschung liefert wertvolle Erkenntnisse für die Praxis und nicht jeder Forscher hat nur Publikationen in respektablen Fachjournalen im Sinn. Wann sind jedoch scheinbar unverständliche Begriffe für die effektive Arbeit von Nutzen?

Die Praxis schulischer Arbeit unterscheidet sich von Forschungsarbeit. Während sich die Diskussionen in der Wissenschaft um von der Gilde anerkannte Kernbegriffe drehen, präsentiert sich die Praxis halb chaotisch. Es gibt Widersprüche, Paradoxien und Ungereimtes. Es überleben nur jene Konzepte, die mit Erlebnisqualität gefüllt werden können. Begriffe, die auf zu abstrakte Zusammenhänge hinweisen und supponierte Kausalbezüge aufbauen, haben keine Chance. Den Lehrpersonen helfen Begriffe, die ihre effektiven Herausforderungen einfangen. Ausgangspunkt muss ihre Sprache sein. Sie reden von «schwierigen Schülern», «Grenzen setzen», «Motivation», «Beziehungsaufbau», «Verantwortungsdiffusion» oder «Struktur». Es ist Aufgabe der Wissenschaft, diese Erfahrungen zu vertiefen und mit wissenschaftlichen Erkenntnissen zu verbinden. Sie hat den Menschen in der Praxis zu dienen und nicht umgekehrt. Was an Begrifflichkeit übernommen werden soll, wird an der Front entschieden.
Allan Guggenbühl ist Psychologe, Psychotherapeut und Experte für Jugendgewalt

1 Kommentar:

  1. Es gäbe da noch eine weitere Erklärung fürs Festhalten vieler Dozenten an ihrem praxisfernen Curriculum: Sie kennen die Schulpraxis nicht oder zu wenig und sind deshalb ausserstande, relevante Verknüpfungen zwischen Schule und Wissenschaft herzustellen.

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