«Intraindividuelle
Entwicklung», «zirkadiane Rhythmen», «intermodale Wahrnehmung»: Die
Studierenden haben ihren Laptop, Bücher und Notizen vor sich. Sie schauen nach
vorn, während ich ihnen Begriffe erkläre, die sie in den Fachartikeln gelesen
oder an Vorlesungen gehört haben. Ich erläutere die Merkmale des Konvergenzmodells,
gebe Beispiele kontrafaktischer Syllogismen und des Kompetenzstrukturmodells.
Die Studierenden wirken motiviert, diskutieren im Flüsterton. Die Begriffe
müssen sie kennen, wenn sie ihre Multiple-Choice-Prüfungen bestehen und Punkte
bekommen wollen. Sie möchten sich auf ihren Beruf, das Unterrichten von Kindern
und Jugendlichen, vorbereiten. Ein Student hebt seinen Arm, blickt mich leicht
vorwurfsvoll an und meint: «Was bringen uns diese Begriffe bei unserer Arbeit
mit Kindern und Jugendlichen?» Sofort kehrt Stille im Saal ein.
Allan Guggenbühl: "Es überleben nur jene Konzepte, die mit Erlebnisqualität gefüllt werden können", Bild: SRF
Gescheit reden ist nicht immer klug, Basler Zeitung, 16.10. von Allan Guggenbühl
Die konventionelle Antwort
ist, dass es zur professionellen Ausbildung gehört, sich eine wissenschaftliche
Begrifflichkeit anzueignen. Sie helfen, die multifaktoriellen Hintergründe und
vielschichtigen Bedingungen des Aufwachsens zu erkennen. Naive Privattheorien
müssen hinterfragt, die eigene Wahrnehmung geschärft und die Schüler nach
objektiven und wissenschaftlichen Kriterien beurteilt werden. Lehrpersonen
sollen sich als Fachpersonen verstehen, deren Unterrichtsmethoden empirisch
abgestützt sind.
Es gibt ein andere, leicht
polemische Antwort: Die Begriffe müssen gelernt werden, weil sich eine
Akademikergilde profilieren und sich die Definitionsmacht der Praxis aneignen
will. Sie zwingt ihren Jargon Studierenden auf, um den eigenen Einfluss
auszuweiten und gemäss ihren Kriterien selektionieren zu können. Konzepte und
Theorien, die in praxisfernen Institutionen von universitären Forschern
entwickelt wurden, werden Menschen an der Front aufgedrängt, damit diese nach
ihrer Zunge reden. Modelle, die der Profilierung in Fachjournalen und
Kongressen dienen, sollen die schulische Wirklichkeit bestimmen. Die Schulen
werden zum Implementierungsfeld der Wissenschaft. Fachhochschulen wirken als
willige Helfer, in der Hoffnung auf Reputationsgewinn. Die Sorgen und Erfahrungen
der Menschen in Praxis werden kaum wahrgenommen und Kinder sind nur als
Datenlieferanten interessant.
Beide Antworten sind
einseitig. Die Forschung liefert wertvolle Erkenntnisse für die Praxis und
nicht jeder Forscher hat nur Publikationen in respektablen Fachjournalen im
Sinn. Wann sind jedoch scheinbar unverständliche Begriffe für die effektive
Arbeit von Nutzen?
Die Praxis schulischer
Arbeit unterscheidet sich von Forschungsarbeit. Während sich die Diskussionen
in der Wissenschaft um von der Gilde anerkannte Kernbegriffe drehen,
präsentiert sich die Praxis halb chaotisch. Es gibt Widersprüche, Paradoxien
und Ungereimtes. Es überleben nur jene Konzepte, die mit Erlebnisqualität
gefüllt werden können. Begriffe, die auf zu abstrakte Zusammenhänge hinweisen
und supponierte Kausalbezüge aufbauen, haben keine Chance. Den Lehrpersonen
helfen Begriffe, die ihre effektiven Herausforderungen einfangen. Ausgangspunkt
muss ihre Sprache sein. Sie reden von «schwierigen Schülern», «Grenzen setzen»,
«Motivation», «Beziehungsaufbau», «Verantwortungsdiffusion» oder «Struktur». Es
ist Aufgabe der Wissenschaft, diese Erfahrungen zu vertiefen und mit
wissenschaftlichen Erkenntnissen zu verbinden. Sie hat den Menschen in der
Praxis zu dienen und nicht umgekehrt. Was an Begrifflichkeit übernommen werden
soll, wird an der Front entschieden.
Allan Guggenbühl ist Psychologe, Psychotherapeut und
Experte für Jugendgewalt
Es gäbe da noch eine weitere Erklärung fürs Festhalten vieler Dozenten an ihrem praxisfernen Curriculum: Sie kennen die Schulpraxis nicht oder zu wenig und sind deshalb ausserstande, relevante Verknüpfungen zwischen Schule und Wissenschaft herzustellen.
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