27. Oktober 2015

Wirkungsstudien haben bei uns keine Tradition

Beatrice Kronenberg, Direktorin der Stiftung Schweizer Zentrum für Heil- und Sonderpädagogik, äussert sich im Interview zur schulischen Integration. Bisher wurde nicht untersucht, was die teuren sonderpädagogischen Massnahmen wirklich bringen. 












Beatrice Kronenberg: Wir stehen hinter der Integration, Bild: Migros Magazin
"Die Integration ist ein politischer Auftrag, aber nicht in jedem Fall sinnvoll", Migros Magazin, 26.10. von Andrea Freiermuth


Beatrice Kronenberg, erneut hat die Zahl der Sonderschüler in vielen Kantonen zugenommen. Warum? 
Mit Kindern mit dem Status «Sonderschüler» lassen sich Ressourcen generieren. Und weil man Ressourcen will, vergibt man diesen Status heute schneller.

Das dürfte ganz in Ihrem Sinn sein. Denn der Zweck Ihrer Stiftung ist die Förderung der Heil- und 
Sonderpädagogik.
 
Ziel unserer Stiftung ist es ganz und gar nicht, mehr Sonderschüler zu «produzieren», sondern dafür zu sorgen, dass die richtige Förderung am richtigen Ort passiert. Das Problem ist, dass bisher kaum untersucht wurde, was die teuren sonderpädagogischen Massnahmen wirklich bringen. Wirkungsstudien haben hierzulande keine Tradition.

Was halten Sie von der integrativen Förderung von Sonderschülern in Regelklassen? 
Die Integration ist ein politischer Auftrag, hinter dem wir stehen. Es gibt derzeit noch zu viele Kinder, die Sonderschulen besuchen.

Man hört von Klassen, in denen Sonderschüler den Unterricht massiv stören. 
Wenn dem so ist, läuft etwas falsch. Die Integration ist nicht in jedem Fall sinnvoll. Sie muss zum Wohl des betroffenen Kindes sein, gleichzeitig aber dürfen die anderen Kinder der Klasse nicht zu kurz kommen.

Bei welchen Diagnosen ist die Integration sinnvoll, bei welchen nicht? 
Diese Frage muss man von Fall zu Fall beantworten: Zwei Kinder mit der gleichen Diagnose können sehr unterschiedlich sein. Das eine Kind mit Trisomie 21 lässt sich gut integrieren, das andere nicht. Zudem muss man bei der Integration systemisch denken. Das heisst, den ganzen Kontext einbeziehen: Die Situation in der Familie, die Tragfähigkeit der Regelklasse sowie die Erfahrung der Lehrkraft. Dafür gibt es seit Kurzem ein standardisiertes Abklärungsverfahren – einen Fragebogen, der diese Punkte detailliert abfragt.

Trotzdem gibt es nach wie vor Lehrkräfte, die sich überfordert und alleingelassen fühlen. 
Die Lehrpersonen brauchen gezielte Unterstützung. Das beginnt schon bei der Ausbildung: Sie müssen auf die Kinder mit speziellen Bedürfnissen vorbereitet werden. Auch die Zusammenarbeit mit heilpädagogischen Fachleuten will gelernt sein. Funktioniert diese nicht, wird das, was als Unterstützung gedacht ist, eher als Belastung wahrgenommen.

Je mehr Lehrkräfte für eine Klasse zuständig sind, desto mehr Koordination braucht es – und desto weniger eng ist die Beziehung zwischen Lehrkraft und Schüler. 
Für die Schüler ist es kein Problem, zwei Ansprechpersonen im Klassenzimmer zu haben. Problematisch ist eher das Fachlehrersystem, bei dem die Schüler den Lehrer ständig wechseln.

Gibt es Schulen, welche die Herausforderungen der Integration besonders gut lösen? 
Ja, etwa im Südtirol. Dort kommen die zusätzlichen Ressourcen, die für einzelne Kinder gesprochen werden, der ganzen Klasse zugute. Konkret heisst das, dass die Lehrkraft von einer Heilpädagogin unterstützt wird, immer von derselben. Je nach Programm arbeitet die Heilpädagogin mit jeweils anderen Schülern, da wo ihr Spezialwissen gefragt ist und wo es die Klasse als Ganzes am besten stützt. In der Schweiz ist es oft so, dass eine bestimmte Fachkraft speziell für ein Kind in den Unterricht kommt; bleibt es krank zu Hause, geht sie wieder. Damit bleibt der Sonderschüler der Sonderfall in der Klasse. Das ist nicht im Sinne der Integration – zudem wird die Klasse damit als stabile Basis beansprucht, profitiert aber selbst nicht unbedingt davon.


1 Kommentar:

  1. Der politische Auftrag steht im Volksschulgesetz. Dort steht nirgends, das auf Teufel komm raus integriert werden muss, wie es übereifrige Schulpolitiker behaupten:

    Zürcher Volksschulgesetz (VSG)

    §33 5 Besondere Klassen sind ausserhalb der Regelklassen geführte Lerngruppen. Zulässig sind Einschulungsklassen, Aufnahmeklassen für Fremdsprachige sowie Kleinklassen für Schülerinnen und Schüler mit besonders hohem Förderbedarf.

    6 Sonderschulung ist die Bildung von Kindern, die in Regel- oder Kleinklassen nicht angemessen gefördert werden können.

    §35.20 Die Gemeinden bieten Integrative Förderung, Therapien und Aufnahmeunterricht an. Sie können auch Besondere Klassen führen. Sie gewährleisten die Sonderschulung

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