Trotz aufwendiger Präventionskampagnen, Ernährungscamps und Sportplausch an den Schulen sind eine erschreckend hohe Zahl von Kindern zu dick. Die Quote der dicken Oberstufensschüler stieg gegenüber 2006 um 3 Prozent.
Je mehr Familien mit tiefer Bildung und Einkommen, desto mehr Gewicht, Bild: Sonntagszeitung
10 Jahre alt, 160 Kilo schwer, Sonntagszeitung, 4.10. von Nadja Pastega
Die Gewichtskurve
verlief steil nach oben. Im Alter von 10 Jahren wog der Bub aus Winterthur
bereits 160 Kilo. Muskulär war er durchtrainiert wie ein Hochleistungssportler,
«anders hätte er dieses Gewicht gar nicht bewegen können», sagt der Zürcher
Arzt Fritz Horber, der den Jungen behandelte. Gesundheitlich war das Kind
schwer geschädigt: Diabetes, Bluthochdruck, Atemstillstände im Schlaf. Horber
verordnete ein Bewegungsprogramm, gesundes Essen und Ernährungskunde für die
Eltern, die selbst zu viel Gewicht auf die Waage brachten. Mehr als zwei Jahre
dauerte der vergebliche Kampf gegen die Kilos. Dann gab Horber auf und
operierte. Der Bub lebt heute mit einem Magenbypass. Am Spital Zofingen mussten
Ärzte bei zwei Schwestern, 14- und 16-jährig, zu rigorosen Massnahmen greifen.
Als die Mädchen in die Sprechstunde kamen, wogen sie 120 Kilo – von der Mutter
bis zur Fast-Invalidität überfüttert. Die Ärzte leiteten einen Obhutsentzug ein,
heute leben die Mädchen in Pflegefamilien.
So ähnlich wie den
beiden Mädchen geht es vielen Teenagern in der Schweiz. Trotz aufwendiger
Präventionskampagnen, Ernährungscamps und Sportplausch an den Schulen: In der
Schweiz ist eine erschreckend hohe Zahl von Kindern und Jugendlichen zu dick.
Das belegen neue Zahlen der schulärztlichen Dienste von Basel, Bern und Zürich.
Die Mediziner haben das Gewicht von 13732 Kindern und Jugendlichen im Schuljahr
2013/14 erhoben. Ergebnis: In den untersuchten Städten bringt jeder siebte
Kindergärtler zu viele Kilos auf die Waage, in der Primarschule ist jeder
fünfte Schüler zu dick, auf der Oberstufe gar jeder vierte. Der Anteil der
Übergewichtigen ist in den letzten Jahren nur minim gesunken – und bei den
Teenagern zeigt der Trend sogar nach oben: Die Quote der dicken
Oberstufenschüler stieg gegenüber 2006 um 3 Prozent. Zudem gelten 6 Prozent der
Sekschüler nicht mehr nur als übergewichtig, sondern als fettleibig (adipös).
Die Statistik der Schulärzte zeigt: In Basel gibt es, über alle Schulstufen
gerechnet, am meisten dicke Kinder, in Bern am wenigsten, Zürich liegt
dazwischen. Die verschieden hohen Quoten, sagt der Basler Kantonsarzt Thomas
Steffen, liessen sich mit der «unterschiedlichen soziokulturellen
Bevölkerungsstruktur in diesen drei Städten» erklären. Das heisst: In Basel
wohnen mehr Ausländer und mehr Familien mit tiefer Bildung und niedrigem
Einkommen.
Dass es zwischen
sozialer Herkunft und überschüssigen Fettpolstern einen Zusammenhang gibt,
wissen die Mediziner schon länger. Auch die aktuelle schulärztliche Erhebung
stützt diesen Befund: Von den Schweizer Schülern sind 16 Prozent übergewichtig,
bei den Ausländern sind es 24 Prozent. Massive Unterschiede gibt es auch, wenn
man die Ausbildung der Eltern vergleicht: In Basel und Bern sind rund dreimal
mehr Kinder von Eltern ohne Lehrabschluss übergewichtig als Kinder von Eltern
mit einem höheren Schulabschluss. Das gilt auch für Zürich: Im Schulkreis
Schwamendingen mit einem hohen Ausländeranteil und vielen bildungsfernen
Familien sind 26,6 Prozent der Schüler zu dick, im privilegierten Quartier
Zürichberg nur 8,4 Prozent. Diese Unterschiede nach sozialer Herkunft, so
schreiben die Ärzte in ihrem Bericht, «haben sich auf allen Schulstufen
gegenüber dem Vorjahr noch akzentuiert». Unwisssen, Gleichgültigkeit,
Überforderung – wenn Kinder zu dick sind, liegt das oft an den Eltern. «Man
müsste ganze Familien therapieren», sagt Ernährungsberaterin Renate Frey. In
ihrer Praxis in Wettingen hat sie schon Dutzende von dicken Kindern behandelt.
Wie jenen fünfjährigen Buben, der 45 Kilo auf die Waage brachte. Die Treppe vor
Freys Praxis schaffte er nur, wenn er sich am Geländer hochzog. Zu Hause kamen
Pasta, Pizza und Ofenfritten auf den Tisch. Als Zwischenmahlzeit Chips «Wir
machen jetzt seit Jahrzehnten Prävention», sagt Frey. «Machmal frage ich mich,
was das gebracht hat.» Nur predigen und propagieren, bringe nichts, sagt der
Zürcher Mediziner Fritz Horber, heute Chefarzt am Liechtensteinischen
Landesspital. «Wenn man etwas ändern will, muss man das übers Portemonnaie
machen.» Geht es nach Horber, kostet eine Cremeschnitte künftig 20 Franken.
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