17. Oktober 2015

Ein Schlüssel, der nicht passen will

Passepartout ist der Name für ein interkantonales Sprachenerwerbskonzept in der Volksschule entlang der Sprachgrenze Deutsch–Französisch, das seit 2006 von sich reden macht. Es betrifft die Kantone Basel-Stadt, Baselland, Bern, Freiburg, Solothurn und Wallis. Vorweggenommen: Damit verbunden ist auch ein grosser Kritikpunkt an Harmos selbst, denn ebendiese Deutschschweizer Kantone präferieren Französisch als erste Frühfremdsprache, während der Rest der Deutschschweiz auf Englisch setzt. Der viel diskutierten Mobilität in der Schweiz samt Kind und Kegel stellt sich dieser Zankapfel entgegen, monieren die einen. Am Ende der Volksschule sind eh alle gleich weit, tönt es von der anderen Seite. Als Nicht-Sprachenlehrer habe ich mir die Aufgabe gestellt, über erste Erfahrungen mit «Passepartout» zu recherchieren und zu räsonieren. Damit entgehe ich dem Vorwurf der Voreingenommenheit.











Der Schlüssel scheint lange nicht allen zu passen, Bild: kaba.com
Est-ce que ça passe partout? Basler Zeitung, 14.10. von Daniel Vuilliomenet

Sprung ins kalte Wasser
Viele nicht mehr ganz junge Personen erinnern sich sicher noch an ihren eigenen Französisch- oder Englisch­unterricht. Das hiess vor allem: Wörtli lernen, konjugieren, viel Grammatik und Übersetzungen. Mit dem soll nun Schluss sein. Die Harmos-Klassen der «Passepartout»-Primarschulen werden ab der 3. Klasse mit Französisch und ab der 5. Klasse in der englischen Sprache «frühfremd» vertraut gemacht, vorab in spielerischen Formen. Dazu dienen die beiden Lehrmittel «Mille feuilles» und «New World», fortgesetzt auf der Sekundarschule mit «Clin d’œil» und ebenfalls «New World».
Die damit einhergehende Sprach­didaktik geht neue Wege. Anstatt auf den systematischen Wortschatzaufbau, verbunden mit der Erlangung grammatikalischer Fähigkeiten, setzen die neuen Lehrmittel auf den berühmten Sprung ins kalte Wasser. «Sprachbad» heisst das im Fachjargon. So wie kleine Kinder in ihren ersten Lebensjahren ganz natürlich durch Nachahmen Sprache erwerben, sollen auch aktuelle Harmos-Schüler ihren Fremdsprachenerwerb gestalten. Dabei bleibt es in der Primarschule nicht bei einer bearbeiteten Fremdsprache – nein, gleich zwei Fliegen gilt es auf einen zeitlich gestaffelten Schlag zu «erledigen».
Ist das gut? Bewältigen das die Kids von heute mühelos? Hat die digitale Revolution der letzten Jahre und Jahrzehnte althergebrachtes, konventionelles Lernen hinfällig gemacht? Die Antwort lautet: ja und nein! Es gibt Hinweise in beide Richtungen. Doch die Befürchtungen, dass mit dem Sprachbad auch ein Grossteil der Kinder ausgeschüttet wird, nehmen zu. Es sind vor allem diejenigen Kinder, denen das Lernen, wie immer es auch geschieht, nicht ganz leichtfällt. Dazu kommt, dass gerade Primarlehrpersonen von zunehmenden Schwierigkeiten vieler Schülerinnen und Schüler mit der Erstsprache Deutsch berichten, vor allem auch dann, wenn diese sogenannte Erstsprache nicht der Muttersprache entspricht. Darauf weist auch eine kürzlich präsentierte Studie der Universität Zürich hin (S. E. Pfenninger im Dezember 2014). Deren provokanter Titel lautet: «Wer gut im Deutsch ist, lernt besser Englisch.»

Lehrmittel zunehmend webbasiert
All die schönen neurolinguistischen Begründungen im Passepartout-Konzept, die der parallelen funktionalen Mehrsprachigkeit das Wort reden, scheinen an der bereits erfahrenen Realität des Schulalltages anzustossen. Das kann zweifach begründet werden: Erstens steht das gesamte Konzept zur Diskussion, zweitens aber dürfte (gerade behördenseits) schnell einmal der Vorwurf laut werden, die bereits mehrsprachig tätigen Lehrpersonen seien noch nicht ganz in der Lage, den Kern der Botschaft «Passepartout» zu vermitteln. Doch da ist meiner Meinung nach äusserste Vorsicht geboten.
Die neuen Lehrmittel sind stark digitalisiert und arbeiten ab der Sekundarstufe 1 zunehmend webbasiert. Das bedeutet, dass Schulen auch dementsprechend ausgerüstet sein müssten. Nebst der Tatsache, dass die neuen Lehrmittel rund zehnmal so teuer sind wie bisheriges Material, werden auch Anschaffungen von Tablets geprüft. Alles gut und recht, doch wir stecken im Kanton Baselland mitten in einer Bildungssparrunde. Schon an der Vollversammlung aller Lehrpersonen im 2010 habe ich dem damaligen Bildungsdirektor Urs Wüthrich gegenüber deutlich angemahnt, dass Sparen und Reformieren sich in der Regel nicht vertragen.
Von «Frühfremd» betroffene Sekundarlehrpersonen berichten mir, dass der Übertritt von der Primarschule in die Sekundarstufe 1 im Fach Französisch für etliche Schüler einen regelrechten Praxisschock nach sich gezogen hätte. Bis anhin musste nichts geschrieben werden (was sich mit der aktuellen Frühförderung ab diesem Schuljahr etwas relativiert) und nun plötzlich eine zusätzliche Anforderung in der Rechtschreibung – Deutsch allein genügte ja vollkommen. Dazu kommt, dass einige Primarklassen offenbar gewohnt waren, in der Fremdsprache Französisch phonetisch zu notieren, also anstatt «je» eben «schö». Das vielleicht in Anlehnung an das berühmt-berüchtigte Leselernprogramm der Primarunterstufe «Lesen durch Schreiben» von Jürg Reichen.
«Mille feuilles» und «New World» setzen stark auf Kommunikation. Dennoch berichtete mir kürzlich meine Frau, die als Primarlehrerin auf der Mittelstufe arbeitet, dass ihre Klasse in einem Lager in der welschen Schweiz weder wusste, was «boulangerie» bedeutet noch was das Wort «laiterie» meinen könnte. Dies nach gut zwei Jahren Frühfranzösisch.
Sekundarlehrpersonen in den Fächern Französisch und Englisch werden derzeit intensiv weitergebildet. 26 Halbtage (!) braucht es, um die neuen Lehrmittel zu verstehen. Dies, obwohl jede dieser Lehrpersonen ihre Sprachfächer über mehrere Jahre studiert hat. Man will Nägel mit harten Köpfen machen und riskiert, dass ebendiese Nägel kopfscheu werden.
Deshalb meine Frage zum «Passepartout»-Konzept: Est-ce que ça passe partout?

Daniel Vuilliomenet (Ettingen) ist Sekundarlehrer in den Fachbereichen Mathematik, Naturwissenschaften und Musik.

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