Männer verabschieden sich aus der Erziehung, Bild: Getty Images
Pädophilie: Der allzu schnelle Verdacht, Beobachter, 2.10. von Susanne Loacker
Es hatte alles so gut angefangen. Der Sportverein fand endlich
einen Sponsor. Und erst noch
einen wirklich engagierten: Der Mittfünfziger
investierte Geld in den Verein, suchte den Kontakt zu den Mannschaften,
besuchte alle Spiele und kam selbst zu den Trainings. Mit der Zeit begann er
sogar, selber Trainings zu leiten. Und als es der Mutter eines Juniors
finanziell schlecht ging, unterstützte er sie und engagierte sich in der
Betreuung des Jungen. Irgendwann lud er ihn zum Übernachten zu sich nach Hause
ein.
Als der Verein Verdacht schöpfte und die Staatsanwaltschaft
einschaltete, stellte sich heraus, dass der Sponsor ein verurteilter
Sexualstraftäter war. «Viele Täter behaupten, die Tat sei spontan erfolgt. Die
Täterforschung zeigt jedoch, dass die meisten systematisch vorgehen und den
Übergriff langfristig planen», erklärt Christiane Weinand von der Fachstelle
Mira zur Prävention sexueller Gewalt. «Täter suchen nach der Gelegenheit. Dazu
manipulieren sie das Umfeld der potenziellen Opfer und versuchen, sich das
Vertrauen jener Personen zu erschleichen, die das Kind schützen.»
Fälle wie jener des Sponsors, die sich über Jahre hinziehen, zeigen, wie
schwierig Prävention im Alltag ist. «Natürlich interessiert keinen Pädosexuellen,
was in unseren Broschüren steht», sagt Erika Haltiner von der Fachstelle Limita
zur Prävention sexueller Gewalt. «Daher müssen wir versuchen, in den Vereinen
ein Klima der Aufmerksamkeit und der Gesprächsbereitschaft zu schaffen.»
Potenzielle Täter sollen merken: Hier schaut man hin, hier spricht man die
Probleme an.
Aber traut man sich das im Ernstfall wirklich? Zudem: Manchmal ist die
Linie zwischen Jugendschutz und Paranoia hauchdünn. Es stellen sich heikle
Fragen: Wie schützt man Kinder vor Pädosexuellen, ohne alle Männer unter
Generalverdacht zu stellen? Und: Wie ermöglicht man es Männern, in einem Umfeld
mit Kindern beruflich tätig zu sein?
«Man muss sich inzwischen ernsthaft fragen, ob wir uns eine Gesellschaft
leisten können, in der sich Männer aus der Erziehung verabschieden. Genau das
passiert im Moment – mit allen Konsequenzen», sagt Jérôme Endrass,
stellvertretender Leiter des Psychiatrisch-Psychologischen Dienstes im Amt für
Justizvollzug des Kantons
Zürich. «Das führt nicht nur dazu, dass den Kindern männliche
Rollenvorbilder fehlten. Pädophile profitieren sogar vom Rückzug der Männer aus
der Erziehung.»
Erfahrungsgemäss verliere eine
Tätigkeit, die als Frauenberuf wahrgenommen werde, für Männer an
Attraktivität. «Am Schluss werden nur noch Männer
Lehrer, die es auf keinen Fall werden sollten – jene, die sich aus den falschen
Gründen für Kinder interessieren.» Dabei sei ein ausgewogenes
Geschlechterverhältnis meist von Vorteil – erst recht in der Erziehung.
Zur Umsetzung konkreter Präventionsmassnahmen fehle nicht nur Geld –
sondern auch eine nationale Strategie, so Experte Endrass. Deshalb beauftragte
der Bund vor einigen Jahren die Stiftung Kinderschutz Schweiz, ein Konzept zu
erarbeiten. Bei der Prüfung habe sich jedoch gezeigt, dass die
Handlungsmöglichkeiten des Bundes begrenzt seien, sagt Eveline Zurbriggen,
beim Bundesamt für Sozialversicherungen zuständig für Kinder- und Jugendfragen.
Denn der zivilrechtliche Kinderschutz ist gemäss Verfassung Aufgabe der Kantone
und Gemeinden.
Und die tun nicht genug. Am Ende stehen die Sportvereine verloren da.
Sie müssen einen wirkungsvollen Kinderschutz organisieren. Das gelinge jedoch
nur, wenn sie wissen, welche Massnahmen sie ergreifen sollen. Für die Berner
Sexualpädagogin Christiane Weinand ist klar: «Die meisten Vereine und Verbände
können diese Herkulesaufgabe nicht allein stemmen. Trainer brauchen
Unterstützung, auch zum Schutz vor falschen Beschuldigungen.»
Jérôme Endrass plädiert dafür, die Sache «mit gesundem Menschenverstand»
anzugehen: «Es sollte das Prinzip gelten, dass jederzeit Dritte dabei sein
dürfen. Sobald ein Kontakt zwischen Erwachsenem und Kind sehr privat wird,
besteht die Gefahr eines Übergriffs. Gleichzeitig muss es möglich sein, das
Thema niederschwellig anzusprechen und Kontakte auf unaufgeregte Art zu normalisieren.»
Will heissen: achtgeben, ohne paranoid zu werden; aufpassen, ohne Männer unter
Generalverdacht zu stellen. Dennoch bleiben für den einzelnen Trainer oder
Lehrer viele Unsicherheiten.
Wer tröstet die weinende Schülerin?
Es ist die letzte Schulstunde vor den Ferien, Biologieunterricht. Peter
Rauh* sieht mit seiner Klasse einen Tierfilm an. Plötzlich stürmt die
zwölfjährige Milena* aus dem Zimmer und knallt die Tür hinter sich zu. Rauh
bleibt verdutzt zurück: Hat er etwas verpasst?
Er findet Milena im Gang auf einer Bank sitzend. Sie schluchzt. Rauh,
selber Vater einer Tochter, möchte das Mädchen am liebsten in den Arm nehmen
und ihr Trost spenden. Doch als er sich neben die Schülerin setzen will, hält
ihn ein Gedanke zurück: «Was, wenn sie zu Hause erzählt, ich hätte sie
berührt?» Rückblickend sagt er: «Ich war blockiert und hatte gleichzeitig eine
Wut auf mich, weil ich nicht einfach wie ein normaler Mensch reagiert habe.»
Schliesslich setzt sich Rauh neben das Mädchen und fragt, was los sei.
Milena schluchzt, ihr Hündchen sei überfahren worden. Wieder verbietet sich der
Lehrer, den Arm tröstend um die Schultern des Mädchens zu legen. «Ich bin
Lehrer geworden, weil ich Kinder gern habe», sagt er. Und präzisiert sofort:
«Also nicht so, wie das jetzt klingt. Aber wenn ich ein weinendes Kind nicht
tröste, dann bin ich doch als Lehrer im falschen Job.»
Auch der ehrenamtliche Fussballtrainer Hans Brenner* leidet immer wieder
darunter, dass Dinge, die für ihn völlig normal und unverfänglich sind, im
Namen des Jugendschutzes eigentlich verboten wären: «Ich trainiere die
kleinsten Fussballjunioren. Gemäss Vorschriften dürfte ich nicht allein mit den
Kindern in die Kabine. Aber genau dort bin ich gefragt, dort muss ich vor dem
Match Anweisungen geben, nach dem Spiel loben, trösten, auch mal Tränen
trocknen.» Aber es sei unmöglich, eine Begleitperson extra für die Kabine zu
finden. Deshalb sagt Brenner: «Wenn ich die Vorschriften wörtlich nähme, könnte
ich diesen Job nicht mehr richtig machen.»
Hans Brenner wundert sich auch, weil er noch genau weiss, wie wenig es
damals brauchte, Trainer bei seinem Klub zu werden: «Kaum hatte ich mich
gemeldet, hiess es: ‹Super, du kannst gleich anfangen!› Niemand fragte nach
Referenzen, niemand kontaktierte die Klubs, bei denen ich früher gearbeitet hatte.»
Schon bald kam ein erster Elternabend: «Ich kam mir seltsam vor, hatte das
Gefühl, mich vorsorglich rechtfertigen zu müssen, und betonte, dass ich selber
drei Kinder habe – als ob das eine Garantie für irgendetwas wäre.»
Christiane Weinand von der Fachstelle Mira kennt solche Schilderungen
nur zu gut. «Wenn sich ein Trainer für eine ehrenamtliche oder symbolisch
bezahlte Arbeit meldet, sind die Vereine zunächst einmal froh. Das Thema
Prävention sexueller Gewalt spielt meist nur eine untergeordnete Rolle – man
spricht nicht gern darüber.» Konkrete Präventionsmassnahmen wie eine
Selbstverpflichtung oder Sensibilisierungsabende existierten meist nur auf dem
Papier. Und: «Genau darauf vertrauen die Täter.»
Hans Brenners Verein macht bei Versa mit, einer Fachstelle zur
Verhinderung sexueller Ausbeutung von Kindern im Sport. Er gilt offiziell als
«vorbildlicher Verein». Doch solche Labels vermittelten ein falsches Gefühl der
Sicherheit, sagt Erika Haltiner von der Fachstelle Limita. «Wir gehen davon
aus, dass sich Pädosexuelle gerade dort gern herumtreiben: Wenn ein Verein
einmal ein Label trägt, meint man, das Problem im Griff zu haben. Dafür haben
Pädosexuelle ein gutes Gespür.»
Verbale Entgleisung ist kein Übergriff
Wie gross der Handlungsbedarf ist und wie viele schwarze Schafe es unter
Trainern und Lehrern gibt, lässt sich nicht mit Gewissheit sagen. Studien
kommen auf extrem unterschiedliche Ergebnisse – manche besagen, dass fast jedes
dritte Kind Opfer von Übergriffen werde. Experte Jérôme Endrass hält einen Wert
von zehn Prozent für realistisch. Es gehe aber nicht um Zahlen: «Jeder
Übergriff ist einer zu viel und hat schreckliche Konsequenzen für das
betroffene Kind und seine ganze Familie.» Trotzdem warnt er davor, den Ausdruck
Übergriff zu weit zu fassen: «Wer jede verbale Entgleisung als Übergriff
bezeichnet, verstellt den Blick auf die wirklich gravierenden Fälle. Und auf
genau die sollten wir unsere Energie konzentrieren.»
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