8. September 2015

Tausende Kompetenzen für eine bessere Volksschule?

Kürzlich googelte ich mich hartnäckig durch die Weiten des Web. Ich war auf der Suche nach starken Argumenten zugunsten des Lehrplans 21 und nach fundierten Begründungen für die postulierte "Unverzichtbarkeit des kompetenzorientieren Unterrichts". 
Tausende Kompetenzen für eine bessere Volksschule, Blog Südostschweiz, 8.9.von Fritz Tschudi


Doch das Internet schwieg sich darüber beharrlich aus. Es lieferte stattdessen lauter gängige Behauptungen und Floskeln, welche den neuen Lehrplan und die Heilslehre des konstruktivistischen Unterrichts als Selbstverständlichkeit preisen. Hinterfragt wird nichts. Begründungsfreie «Verständnishilfen» wie diese hier, vorgetragen in zweckdienlicher Genügsamkeit, beherrschen die Szene.
Selbst die Fachinstanzen, als Horte der Seriosität und Wissenschaftlichkeit gewertet, wagen sich nicht aus der Deckung. Die Pädagogischen Hochschulen (PH) sind offenbar voll damit beschäftigt, künftige Lehrpersonen auf die Vorgaben des neuen Lehrplans einzustimmen. Der Lehrplan 21 wird trotz des implantierten gesellschaftspolitisch bedeutsamen Richtungswechsels, hemmungslos, unter Verzicht auf basisdemokratische Legitimation in die Köpfe gepackt. Es wird nach aussen so getan, als ginge es lediglich um den Erlass einer neuen Lehrstoffsammlung. – Dass der Lehrplan 21 in Wahrheit auf schwachen Füssen steht, wissen die Erziehungsdirektoren, die PH und auch die Lehrerverbände (!) aber sehr genau!

Einsichtige Pro-Argumente sind rar, wissenschaftlich fundierte fehlen gänzlich
Der Kompetenzorientierung im LP21 und der Verknüpfung mit dem konstruktivistischen Unterricht (Lerngelegenheiten, Selbstorganisiertes Lernen, Lehrverbot) fehlt jede wissenschaftlich tragfähige Basis. Die durch die internationale politische Konformität begünstigte, aber sachlich nie offen begründete Übernahme und Adaption eines importierten Konzeptes aus dem Hause OECD, gefährdet empirisch nachweisbar das Bildungsniveau. Es widerspricht den Leitzielen eines demokratischen Bildungswesens, zersetzt didaktisches und pädagogisches Denken und Handeln und behindert Kinder und Jugendliche in ihrer Entwicklung zu mündigen Staatsbürgern. Diese Ausrichtung ist auch deshalb von eminenter gesellschaftlicher Bedeutung, weil sie bestehende Traditionen bekämpft und die Entwurzelung unserer Schuljugend begünstigt. Ziel ist die Heranbildung des klaglos funktionierenden, angepassten, vor allem der ökonomischen Verwertbarkeit dienlichen Mensch. Dass dieses Menschenbild kaum politische Mündigkeit zulässt und damit den Weiterbestand der Demokratie gefährdet, liegt auf der Hand. Absicht oder Naivität ist hier die zentrale Frage.
Das Kompetenzkonzept verhindert zudem das bisher unbestrittene Prinzip der beruflichen Methodenfreiheit der Lehrerinnen und Lehrer. Damit wird eine wesentliche Basis für die Motivation im Beruf, die «unternehmerische Freiheit» als Voraussetzung zur Gestaltung eines begeisternden Unterrichts in eigener Verantwortung, zu Grabe getragen. Die Folgen für den Lehrerberuf und die Unterrichtsqualität sind verheerend.
Das Zauberwort heisst seit Jahren «Professionalisierung». Unter dieser Prämisse wird heute viel Unsinn verkündet. Die Pseudowissenschaftlichkeit verhilft dem konstruktivistischen Gedankengut zu unübersehbarer Präsenz in Schulen und Medien. Die Publizität rückt die Wahrnehmung eines grundsätzlich verfehlten Unterrichtsprinzips ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Dies trotz der eindeutigen Zeichen von Schwindsucht, Sektierertum und weltweiter dramatischer Erfolglosigkeit. Die Aufrechterhaltung dieser Irrwege wird für Aussenstehenden nur einsichtig, wenn man der Bildungspolitik unterstellt, genau jene Ziele anzustreben, welche die Umsetzung des Konstruktivismus und der Kompetenzorientierung real zeitigt: Schülerleistungen und Bildung für alle abbauen, immer weiter nach unten nivellieren und den Missstand mit Notendumping soweit kaschieren, dass es der Öffentlichkeit nicht allzu krass auffällt. (siehe Deutschland nach zehn Jahren Kompetenzorientierung!).
Der französische Mathematiker und Wissenschaftler, Laurent Lafforgue, meint in seiner Schrift «Die Wissenschaftler und die Schule»:
Die erste Wirkung der ‚Verwissenschaftlichung’ der Unterrichtspraxis ist, dass sie naiv macht. Genau davon profitieren die sogenannten «Bildungswissenschaften». Weil sie sich als «wissenschaftlich» ausgegeben haben, konnten sie die traditionellen Unterrichtsmethoden diskreditieren, sie als blosses Handwerk denunzieren, und die alten Lehrerbildner aus den Lehrerbildungseinrichtungen verjagen, deren Know-how verloren gegangen ist. Das Ergebnis ist katastrophal. Daher muss die Autorität, die man im Namen der «Wissenschaft» diesen angeblichen Wissenschaftlern, ihren Theorien und ihren Praxismethoden über eine lange Schonzeit zugestanden hat, in Zweifel gezogen werden.

Auch Prof. Jochen Krautz überzeugt mit starken Thesen (ab S.6).
Die Befürworter sehen sich ausserstande, die fundamentalen Schwächen ihres «Jahrhundertwerkes» überzeugend zu entkräften
Der Zürcher Bildungsexperte Urs Moser bekannte schon vor Jahren freimütig, der Lehrplan 21 sei nicht für die Lehrer gemacht. Er diene primär der periodischen Kontrolle der Lernleistungen durch Messungen zur Speisung des nationalen Bildungsmonitorings, zur Steuerung des Bildungssystems. Der neue Lehrplan ist im Wesentlichen das Ergebnis dieses politischen Kalküls.
Wer dem Lehrplan 21 pädagogischen Nutzen attestiert will, sieht sich darum genötigt, Binsenwahrheiten des Unterrichtens zu verkünden. Es scheint schon zu genügen, den LP21 als unverzichtbarer Fortschritt zu proklamieren. – Viele Politiker, aber auch Lehrer tappen wunschgemäss in diese Falle. (Wer will denn schon als «rückwärtsgewandt» gelten?)
Dass erst mit der Kompetenzorientierung im Lehrplan 21 vernetztes Denken und Tun, handlungsorientiertes Lernen und Können in die Schulen Einzug halte, ist leicht als unseriöse Unterstellung verantwortungsloser Propagandisten zu entlarven. Die Frage aber ist, warum Verfechter eines umstrittenen Projekts sich aus der untersten Schublade bedienen, wenn nicht aus purer Hilflosigkeit?

Der Verzicht der Befürworter auf offene Debatten ist selbsterklärend
Jedes offen geführten Gespräch zur Problematik des LP21 führt die Verteidiger in eine desolaten Lage: Die Ungereimtheiten lassen sich weder mit wissenschaftlichem noch mit empirischem Fundus entkräften. Es bleibt nur die Rhetorik oder beharrliches Schwiegen. Das grosse Schweigen zu sachlich unverzichtbaren Fragen über Jahre ist demnach nicht Ausdruck von Arroganz oder überbordender Selbstherrlichkeit; nein, es ist der Versuch der Selbsterrettung aus einer misslichen Lage.  
Für die Lehrplanverantwortlichen besteht folglich kein Anlass, sich von ihrer bewährten Taktik zu verabschieden. Die zumeist eher lapidaren Werbebotschaften und die Verkündung alternativloser Direktiven (... am Lehrplan 21 führt kein Weg vorbei ...) werden uns also erhalten bleiben. Währenddessen sorgen die Schulbürokraten und deren Helfer unentwegt für die stramme Ausrichtung der Lehrer auf die kompetenzorientierte neue Schulwelt. Sie sind sich der bereitwilligen Unterstützung durch Lehrerverbände gewiss. Der Ruf zum «Change Management» erschallt schon im Thurgau und anderswo; die Herde folgt (noch) ohne zu murren …


… und als passender humoristischer Schlusspunkt bietet sich eine Episode aus der Satiresendung «Giacobbo/Müller», vom 2. November 2014 an.

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