Philipp Albert Stapfer, Bildungsminister der Helvetischen Republik, will sich ein Bild über den Zustand der Volksschule machen, Bild: Wikipedia
Per Mausklick in die Dorfschulen der Schweiz vor 200 Jahren, Langenthaler Tagblatt, 13.9. von Stefan von Bergen
Mit
schwungvoller Handschrift berichtet Dorfschullehrer Hans Bigler aus Worb bei
Bern im Jahr 1799 über den Zustand seiner Schule: Er unterrichte 110 Knaben und
93 Mädchen im Winter während «fünf Stund am Tag», schreibt Bigler.
Im
Sommer aber könne er die Zahl der Kinder «unmöglich bestimmen», weil sie dann
«nach ihrer oder ihren Eltern Willkur in die Schule kommen». Was Bigler nicht
explizit erwähnt, weil es sich damals von selbst versteht: Im Sommer arbeiten
die Kinder mit ihren Familien auf dem Feld.
Dennoch,
vermerkt Bigler, habe sich am Schulexamen gezeigt, dass 39 Knaben und 24
Mädchen nicht nur lesen, sondern auch schreiben könnten.
Lehrer
Bigler beantwortet, zusammen mit über 2000 Schulmeistern aus der Schweiz,
hochoffizielle Fragen, die ihn aus der damaligen Hauptstadt Aarau erreicht
haben. Dort will sich Philipp Albert Stapfer, der Bildungsminister der 1798
ausgerufenen Helvetischen Republik, ein Bild über den Zustand der Volksschule
machen.
Dafür
veranstaltet er eine sogenannte Enquête. Es ist die erste landesweite
Schulumfrage der Schweizer Geschichte.
Lehrer im Nebenjob
Stapfers
Fragebogen untersucht neben den lokalen und räumlichen Verhältnissen sowie den
Unterrichtsinhalten auch die finanzielle Lage der Lehrer. Schulmeister Bigler
aus Worb merkt an, er sei früher Steinhauer gewesen, widme sich nun aber ganz
dem Schuldienst, weil er auch im Sommer täglich unterrichte.
Biglers
73-jähriger Lehrerkollege Christen Huser in der kleinen Worber Landschule
Wattenwil aber muss sich noch mit einem Nebenjob als Leinenweber ein Zubrot
verdienen.
Der
42-jährige Bigler hat es etwas besser. Er logiert mit seiner Frau in der
Lehrerwohnung im 1743 erbauten Worber Schulhaus. Als Lohn erhält er einen
Pflanzblätz, Brennholz, aber auch Geld von der Gemeinde, der Kirchgemeinde und
aus dem Armengut.
Ein gehobener Schatz
Die
Antworten auf die Enquête von Bildungsminister Stapfer geben einen
einzigartigen Einblick in die Welt der Schule vor zweihundert Jahren. Der
Berner Pfarrerssohn, Theologe und Aufklärer hat hochfliegende Pläne für eine
Verbesserung der Volksbildung.
Sein
kühner Entwurf für ein Volksschulgesetz wird aber vom Parlament der
Helvetischen Republik abgelehnt, Stapfer selber tritt 1800 zurück und
disloziert nach Paris. Die Stapfer-Enquête verschwindet in der Schublade. Bis
vor kurzem lagerte sie als vergessener Schatz im Berner Bundesarchiv.
Diesen
Schatz haben nun der Berner Geschichtsprofessor Heinrich Richard Schmidt und
sein Team gehoben. In sechsjähriger Kleinarbeit haben Schmidts Studierende im
Jobverhältnis die 14'000 abfotografierten, je doppelseitigen Bogen aus dem
Bundesarchiv abgetippt und daraus eine Datenbank erstellt, die nun unter
www.stapferEnquête.ch für die Öffentlichkeit aufgeschaltet wird.
Vom
30.September bis zum 2.Oktober wird das Projekt an einer Tagung an der
Universität Bern auch für interessierte Laien vorgestellt. Bildungsforscher aus
dem deutschsprachigen Raum werden dort überdies ihre Forschungsprojekte mit den
Daten der Enquête präsentieren.
Höhere Schuldichte als
heute
In
seinem Büro an der Universität Bern macht Schmidt, Professor für die Geschichte
der frühen Neuzeit und des 19. Jahrhunderts, mit ein paar Klicks eine Reise in
die Schulstuben von 1799. Er schaltet eine von roten Punkten übersäte Schweizer
Karte auf. Jeder Punkt steht für eine damals existierende Volksschule.
In
eine Suchmaske kann man einen beliebigen Ort der Deutschschweiz eingeben und in
seinem Wohnort eintauchen in die noch etwas andere Lernwelt vor zweihundert
Jahren. Und erfahren, wie skurril die Schule von damals gemessen an jener von
heute war.
«Es
ist nicht alles besser geworden», sagt Schmidt und klickt sich nun nach Worb,
seinen Wohnort. Nicht weniger als sieben Worber Schulhäuser nennt die Enquête
für 1799: in Worb, Enggistein, Richigen, Ried, Wattenwil, Rüfenacht und
Vielbringen.
«Heute
wird die Gemeinde von viel mehr Menschen bewohnt, aber die Standorte Wattenwil
und Ried sind aus Kostengründen geschlossen worden», sagt Schmidt. In der wenig
mobilen Welt von damals ist das Netz dezentraler Schulstandort dicht.
Europas führende
Lesenation
Schmidt
nennt nun eine zentrale und überraschende Erkenntnis aus seinen
bildungsgeschichtlichen Studien: «Es ist ein Mythos, dass die Schulen im Ancien
Régime finster, nur religiös und unaufgeklärt waren.» Die liberalen Aufklärer,
die ab 1830 die Volksschule von Staats wegen reformierten, hätten die alten
Schulen in dunklen Farben beschrieben, damit ihre Reformen umso heller
leuchteten.
Auch
Stapfer habe nach diesem Muster in seiner Enquête vor allem nach Missständen
gefragt. Das Kronargument der Reformer für die miese Qualität der alten Schulen
war der angeblich verbreitete Analphabetismus. «Aber das stimmt gar nicht»,
sagt Schmidt.
Zwar
werde in der Stapfer-Enquête nicht nach den Leistungen der Schüler gefragt. Aus
mehreren Kantonen seien aber Berichte über die Schulexamina am Ende des
Schuljahrs überliefert. 1798 listen die Behörden von Baselland 4669
Schülerinnen und Schüler nach Jahrgang und Leistungen auf.
Das
Fazit: 98 bis 99 Prozent von ihnen können lesen, als sie die Schule verlassen,
über 80 Prozent der Jungen und über 50 Prozent der Mädchen können auch
schreiben. In Reichenbach im Kandertal können 1799 nach dem Ende der Schulzeit
buchstäblich alle lesen. Gemäss der Berner Schulumfrage von 1806 beherrschen 60
bis 70 Prozent der Berner Knaben und 20 bis 30 Prozent der Mädchen am Ende der
Schule auch das Schreiben.
«Lesen
war, vor allem für das Lernen des Katechismus und das Singen in der Kirche,
wichtiger als Schreiben», sagt Schmidt. Lehrer Bigler aus Worb nennt als
Unterrichtsbücher in seiner Schulstube: die Bibel, den Heidelberger Katechismus,
Namenbücher, Psalmenbücher, biblische Geschichten, aber auch Oden des
Moralphilosophen Christian Fürchtegott Gellert.
«Lesen
wird im 17. Jahrhundert chic», erklärt Schmidt. Bildung werde bereits vor 1800
ein gesellschaftlicher Prestigefaktor. «Wir überschätzten die damalige
Epochenschwelle», findet er.
In
Sachen Lesefähigkeit habe die Schweiz schon um 1800 Vorsprung auf Europa und
verfüge damit über eine Ressource, die erkläre, warum die Schweiz zu den
Pionieren der Industrialisierung gehöre.
Verbesserung der
Menschen
Schulumfragen
wie die Stapfer-Enquête zeigen laut Schmidt, dass in grösseren Gemeinden
hauptamtliche Lehrer ab 1800 eine Familie ernähren können. Das Prestige des
Lehrerberufs nimmt also zu. Nur Lehrer kleiner Landschulen wie Christen Huser
aus Wattenwil brauchen zu Sicherung des Existenzminimums noch einen Nebenjob.
Beginnt
mit der Stapfer-Enquête auch der Reformfuror im Bildungswesen, wie er eben
wieder im Lehrplan 21 zum Ausdruck kommt? Schmidt relativiert: 1799 sei weniger
ein Reformeifer, dafür aber ein technokratisches Machbarkeitsdenken
feststellbar. Das bestehe auch heute, etwa in den Grundsätzen der Pädagogischen
Hochschule Bern, wo Wissen als «Produktivkraft» bezeichnet werde.
Philipp
Albert Stapfer hat sich laut Schmidt am aufgeklärten Absolutismus Preussens und
Österreichs orientiert. Beide Staaten reformieren im 18.Jahrhundert die
Lehrerausbildung und greifen ins vorher lokal und kirchlich verankerte
Schulwesen ein. Sie propagieren die «Perfektionierung der Menschen», die dann
auch den liberalen Schulreformern von 1830 vorschwebt.
Nicht alles wird besser
Im
Kanton Bern verankert das liberale Volksschulgesetz von 1835 die allgemeine
Schulpflicht. Auch im Sommer müssen alle Kinder nun in die Schule gehen, wo sie
lesen, schreiben und neu auch rechnen lernen.
Komplett
neu erfunden werde die Schule 1835 aber nicht, findet Schmidt. Schon 1799
bringt der Worber Dorflehrer Bigler den Schülern Fertigkeiten bei, die nun im
Lehrplan 21 Kompetenzen heissen: «Buchstabieren, Lesen, Singen, Schreiben und
die Anfangsgründe der Religion». Zweifellos seien die Schulen didaktisch besser
geworden, sagt Schmidt, sie hätten aber weiterhin einen Hang zur
Überreglementierung und zum eintrichternden statt forschenden Lernen.
Was
Heinrich Richard Schmidt in der Stapfer-Enquête besonders auffällt: wie lokal
verankert die Schulen im Ancien Régime noch waren: «Es gab in der Organisation
der Dorfschulen Gestaltungsraum für die Menschen und Eltern eines Dorfes sowie
für die Bedürfnisse der bäuerlichen Arbeitswelt.
Die
Schule war eher ein Produkt der Gesellschaft als des Staates, und sie wahrte
mehr Distanz zur Obrigkeit.» Ein wenig mehr von dieser Rückbindung an lokale
Verhältnisse und Bedürfnisse würde der heutigen Staatsschule nicht schaden,
findet Schmidt.
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