14. September 2015

Erste Schulumfrage der Schweiz

Sechs Jahre lang hat ein Berner Historikerteam aus den handschriftlichen Bogen der ersten schweizerischen Schulumfrage eine Datenbank erstellt. Dort kann man jedes Schweizer Schulhaus von 1799 und den Unterricht von damals besuchen.







Philipp Albert Stapfer, Bildungsminister der Helvetischen Republik, will sich ein Bild über den Zustand der Volksschule machen, Bild: Wikipedia

Per Mausklick in die Dorfschulen der Schweiz vor 200 Jahren, Langenthaler Tagblatt, 13.9. von Stefan von Bergen



Mit schwungvoller Handschrift berichtet Dorfschullehrer Hans Bigler aus Worb bei Bern im Jahr 1799 über den Zustand seiner Schule: Er unterrichte 110 Knaben und 93 Mädchen im Winter während «fünf Stund am Tag», schreibt Bigler.
Im Sommer aber könne er die Zahl der Kinder «unmöglich bestimmen», weil sie dann «nach ihrer oder ihren Eltern Willkur in die Schule kommen». Was Bigler nicht explizit erwähnt, weil es sich damals von selbst versteht: Im Sommer arbeiten die Kinder mit ihren Familien auf dem Feld.
Dennoch, vermerkt Bigler, habe sich am Schulexamen gezeigt, dass 39 Knaben und 24 Mädchen nicht nur lesen, sondern auch schreiben könnten.
Lehrer Bigler beantwortet, zusammen mit über 2000 Schulmeistern aus der Schweiz, hochoffizielle Fragen, die ihn aus der damaligen Hauptstadt Aarau erreicht haben. Dort will sich Philipp Albert Stapfer, der Bildungsminister der 1798 ausgerufenen Helvetischen Republik, ein Bild über den Zustand der Volksschule machen.
Dafür veranstaltet er eine sogenannte Enquête. Es ist die erste landesweite Schulumfrage der Schweizer Geschichte.
Lehrer im Nebenjob
Stapfers Fragebogen untersucht neben den lokalen und räumlichen Verhältnissen sowie den Unterrichtsinhalten auch die finanzielle Lage der Lehrer. Schulmeister Bigler aus Worb merkt an, er sei früher Steinhauer gewesen, widme sich nun aber ganz dem Schuldienst, weil er auch im Sommer täglich unterrichte.
Biglers 73-jähriger Lehrerkollege Christen Huser in der kleinen Worber Landschule Wattenwil aber muss sich noch mit einem Nebenjob als Leinenweber ein Zubrot verdienen.
Der 42-jährige Bigler hat es etwas besser. Er logiert mit seiner Frau in der Lehrerwohnung im 1743 erbauten Worber Schulhaus. Als Lohn erhält er einen Pflanzblätz, Brennholz, aber auch Geld von der Gemeinde, der Kirchgemeinde und aus dem Armengut.
Ein gehobener Schatz
Die Antworten auf die Enquête von Bildungsminister Stapfer geben einen einzigartigen Einblick in die Welt der Schule vor zweihundert Jahren. Der Berner Pfarrerssohn, Theologe und Aufklärer hat hochfliegende Pläne für eine Verbesserung der Volksbildung.
Sein kühner Entwurf für ein Volksschulgesetz wird aber vom Parlament der Helvetischen Republik abgelehnt, Stapfer selber tritt 1800 zurück und disloziert nach Paris. Die Stapfer-Enquête verschwindet in der Schublade. Bis vor kurzem lagerte sie als vergessener Schatz im Berner Bundesarchiv.
Diesen Schatz haben nun der Berner Geschichtsprofessor Heinrich Richard Schmidt und sein Team gehoben. In sechsjähriger Kleinarbeit haben Schmidts Studierende im Jobverhältnis die 14'000 abfotografierten, je doppelseitigen Bogen aus dem Bundesarchiv abgetippt und daraus eine Datenbank erstellt, die nun unter www.stapferEnquête.ch für die Öffentlichkeit aufgeschaltet wird.
Vom 30.September bis zum 2.Oktober wird das Projekt an einer Tagung an der Universität Bern auch für interessierte Laien vorgestellt. Bildungsforscher aus dem deutschsprachigen Raum werden dort überdies ihre Forschungsprojekte mit den Daten der Enquête präsentieren.
Höhere Schuldichte als heute
In seinem Büro an der Universität Bern macht Schmidt, Professor für die Geschichte der frühen Neuzeit und des 19. Jahrhunderts, mit ein paar Klicks eine Reise in die Schulstuben von 1799. Er schaltet eine von roten Punkten übersäte Schweizer Karte auf. Jeder Punkt steht für eine damals existierende Volksschule.
In eine Suchmaske kann man einen beliebigen Ort der Deutschschweiz eingeben und in seinem Wohnort eintauchen in die noch etwas andere Lernwelt vor zweihundert Jahren. Und erfahren, wie skurril die Schule von damals gemessen an jener von heute war.
«Es ist nicht alles besser geworden», sagt Schmidt und klickt sich nun nach Worb, seinen Wohnort. Nicht weniger als sieben Worber Schulhäuser nennt die Enquête für 1799: in Worb, Enggistein, Richigen, Ried, Wattenwil, Rüfenacht und Vielbringen.
«Heute wird die Gemeinde von viel mehr Menschen bewohnt, aber die Standorte Wattenwil und Ried sind aus Kostengründen geschlossen worden», sagt Schmidt. In der wenig mobilen Welt von damals ist das Netz dezentraler Schulstandort dicht.
Europas führende Lesenation
Schmidt nennt nun eine zentrale und überraschende Erkenntnis aus seinen bildungsgeschichtlichen Studien: «Es ist ein Mythos, dass die Schulen im Ancien Régime finster, nur religiös und unaufgeklärt waren.» Die liberalen Aufklärer, die ab 1830 die Volksschule von Staats wegen reformierten, hätten die alten Schulen in dunklen Farben beschrieben, damit ihre Reformen umso heller leuchteten.
Auch Stapfer habe nach diesem Muster in seiner Enquête vor allem nach Missständen gefragt. Das Kronargument der Reformer für die miese Qualität der alten Schulen war der angeblich verbreitete Analphabetismus. «Aber das stimmt gar nicht», sagt Schmidt.
Zwar werde in der Stapfer-Enquête nicht nach den Leistungen der Schüler gefragt. Aus mehreren Kantonen seien aber Berichte über die Schulexamina am Ende des Schuljahrs überliefert. 1798 listen die Behörden von Baselland 4669 Schülerinnen und Schüler nach Jahrgang und Leistungen auf.
Das Fazit: 98 bis 99 Prozent von ihnen können lesen, als sie die Schule verlassen, über 80 Prozent der Jungen und über 50 Prozent der Mädchen können auch schreiben. In Reichenbach im Kandertal können 1799 nach dem Ende der Schulzeit buchstäblich alle lesen. Gemäss der Berner Schulumfrage von 1806 beherrschen 60 bis 70 Prozent der Berner Knaben und 20 bis 30 Prozent der Mädchen am Ende der Schule auch das Schreiben.
«Lesen war, vor allem für das Lernen des Katechismus und das Singen in der Kirche, wichtiger als Schreiben», sagt Schmidt. Lehrer Bigler aus Worb nennt als Unterrichtsbücher in seiner Schulstube: die Bibel, den Heidelberger Katechismus, Namenbücher, Psalmenbücher, biblische Geschichten, aber auch Oden des Moralphilosophen Christian Fürchtegott Gellert.
«Lesen wird im 17. Jahrhundert chic», erklärt Schmidt. Bildung werde bereits vor 1800 ein gesellschaftlicher Prestigefaktor. «Wir überschätzten die damalige Epochenschwelle», findet er.
In Sachen Lesefähigkeit habe die Schweiz schon um 1800 Vorsprung auf Europa und verfüge damit über eine Ressource, die erkläre, warum die Schweiz zu den Pionieren der Industrialisierung gehöre.
Verbesserung der Menschen
Schulumfragen wie die Stapfer-Enquête zeigen laut Schmidt, dass in grösseren Gemeinden hauptamtliche Lehrer ab 1800 eine Familie ernähren können. Das Prestige des Lehrerberufs nimmt also zu. Nur Lehrer kleiner Landschulen wie Christen Huser aus Wattenwil brauchen zu Sicherung des Existenzminimums noch einen Nebenjob.
Beginnt mit der Stapfer-Enquête auch der Reformfuror im Bildungswesen, wie er eben wieder im Lehrplan 21 zum Ausdruck kommt? Schmidt relativiert: 1799 sei weniger ein Reformeifer, dafür aber ein technokratisches Machbarkeitsdenken feststellbar. Das bestehe auch heute, etwa in den Grundsätzen der Pädagogischen Hochschule Bern, wo Wissen als «Produktivkraft» bezeichnet werde.
Philipp Albert Stapfer hat sich laut Schmidt am aufgeklärten Absolutismus Preussens und Österreichs orientiert. Beide Staaten reformieren im 18.Jahrhundert die Lehrerausbildung und greifen ins vorher lokal und kirchlich verankerte Schulwesen ein. Sie propagieren die «Perfektionierung der Menschen», die dann auch den liberalen Schulreformern von 1830 vorschwebt.
Nicht alles wird besser
Im Kanton Bern verankert das liberale Volksschulgesetz von 1835 die allgemeine Schulpflicht. Auch im Sommer müssen alle Kinder nun in die Schule gehen, wo sie lesen, schreiben und neu auch rechnen lernen.
Komplett neu erfunden werde die Schule 1835 aber nicht, findet Schmidt. Schon 1799 bringt der Worber Dorflehrer Bigler den Schülern Fertigkeiten bei, die nun im Lehrplan 21 Kompetenzen heissen: «Buchstabieren, Lesen, Singen, Schreiben und die Anfangsgründe der Religion». Zweifellos seien die Schulen didaktisch besser geworden, sagt Schmidt, sie hätten aber weiterhin einen Hang zur Überreglementierung und zum eintrichternden statt forschenden Lernen.
Was Heinrich Richard Schmidt in der Stapfer-Enquête besonders auffällt: wie lokal verankert die Schulen im Ancien Régime noch waren: «Es gab in der Organisation der Dorfschulen Gestaltungsraum für die Menschen und Eltern eines Dorfes sowie für die Bedürfnisse der bäuerlichen Arbeitswelt.
Die Schule war eher ein Produkt der Gesellschaft als des Staates, und sie wahrte mehr Distanz zur Obrigkeit.» Ein wenig mehr von dieser Rückbindung an lokale Verhältnisse und Bedürfnisse würde der heutigen Staatsschule nicht schaden, findet Schmidt.

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