13. September 2015

Stärken und Schwächen des chinesischen Schulsystems

Im internationalen Wettbewerb der Bildungssysteme steht China recht gut da. Die Schüler zeigen Fleiss, Effizienz und Disziplin. Schwachpunkte sind kritisches Denken sowie der kreative Umgang mit dem Gelernten.
Der Baum der Bildung, NZZ, 11.9. von Wei Zhang


Was ein Bildungssystem erreichen soll, scheint sich in West und Ost nicht grundsätzlich zu unterscheiden: Bildung soll die fundamentalen Werte einer Kultur weitergeben, Wissen vermitteln und obendrein die Grundlage für die berufliche Schulung eines jungen Menschen legen. Bei den Wegen, auf denen die verschiedenen Kulturen diese Ziele zu erreichen versuchen, lassen sich allerdings grosse Unterschiede feststellen.
Die chinesische Bildungspraxis entsprang wesentlich der konfuzianischen Tradition. Im frühen 20. Jahrhundert wurden die Schulen unter dem Einfluss der westlichen Moderne reformiert. Während der Kulturrevolution fielen letzte traditionelle Überreste der ideologischen Säuberung zum Opfer. Seit der Reform und Öffnung kam die jahrtausendealte, eigenständige chinesische Lehrmethode der konfuzianischen Bildungspraxis schrittweise wieder stärker zur Geltung, sieht sich nun aber durch die Globalisierung der Kritik ausgesetzt.

Konfuzius als Urbild
In China gilt Konfuzius als das Urbild und Modell des Lehrers. Demnach lehrt ein Lehrer seine Schüler einerseits Gehorsam und Unterordnung, andererseits aber auch kritische Selbstreflexion. Im Zentrum der Bildungsbemühungen steht ein Korpus von überlieferten Schriften, die zu einem Kanon von Klassikern erhoben wurden und von den Schülern durch unablässiges Studium und ständige Repetition auswendig gelernt und verinnerlicht werden sollten. In der Kaiserzeit ab der Tang-Dynastie (8. Jahrhundert) wurde die Kenntnis dieser Schrifttradition zur Grundlage der Beamtenprüfungen, durch welche der Nachwuchs der bürokratischen Elite rekrutiert wurde.
Das eigentliche und ursprüngliche Ziel der konfuzianischen Bildung bestand jedoch darin, den Schüler durch das Textstudium der Klassiker zu einem edlen, kultivierten Menschen heranzubilden. Wie es ein Sprichwort besagt, wächst ein Baum in zehn Jahren heran, während die Bildung eines Menschen sich erst nach hundert Jahren bemessen lässt. Weder konfuzianische Bildung noch eine moderne Erziehung vermögen jedoch hundert Jahre lang zu warten. Die Verinnerlichung eines grossen Bestands an überlieferten Quellen und der Erwerb eines exzellenten Schreibhandwerks förderten gleichzeitig auch den Fleiss und eine effiziente Lerntechnik. Dadurch wirkte das Lernen auch disziplinierend und gewährleistete eine effiziente Wissensvermittlung. Es war nicht zu vermeiden, dass das konfuzianische Wissen vor allem Ethik umfasste, hingegen keinerlei Naturwissenschaften oder auch nur angewandte Wissenschaften wie Arithmetik. Im Zuge der Globalisierung verschärfte sich nicht nur die Konkurrenz der Bildungssysteme, sondern es nahm auch die Breite des Wissens zu. Neben dem traditionellen chinesischen Wissen wurden daher in China vor allem auch die modernen Naturwissenschaften in die Curricula integriert.
Fleiss ist in China schon im Kindergarten erforderlich. Die erste Bildungsinvestition betrifft bereits Vierjährige. Eltern in Chengdu zahlen 3000 bis 4000 Yuan pro Monat für den Kindergartenbesuch ihres Sprösslings, wohingegen eine Primarschullehrerin auch nach 25 Jahren Arbeit nur gerade 4500 Yuan monatlich verdient. Die Eltern wollen aber nur die beste Bildung für ihren Nachwuchs - kein Wunder, geht es doch um die Zukunft des einzigen Kindes. Bereits die Vierjährigen beginnen die Umschrift der chinesischen Zeichenschrift, Rechnen und die englischen Buchstaben zu erlernen. Zwar bilden diese Inhalte keinen offiziellen Teil des Kindergarten-Curriculums, aber faktisch werden sie erwartet. Mit dem Beginn der Primarschule besuchen die meisten Schüler ausserhalb des normalen Schulunterrichts noch Nachhilfekurse in Chinesisch und Mathematik, um die Prüfungsresultate zu optimieren.

Förderung der Internationalität
In Frau Wangs Klasse in Chengdu qualifizieren sich am Ende der Primarschule 10 von 47 Kindern durch die Prüfung zum Besuch der besten Mittelschule der Stadt, welche sich dadurch auszeichnet, dass von ihren Schülern in der Hochschulzugangsprüfung Gaokao die grösste Zahl es an eine der renommiertesten Hochschulen des Landes schafft. 15 Kinder landen hingegen in derjenigen Mittelschule, die lokal als die schlechteste gilt, insofern die Kinder im Anschluss daran keinen akademischen Bildungsweg einschlagen werden.
Die Kosten für den Nachhilfeunterricht beziehen sich zunehmend auf die Förderung der Internationalität. In Frau Wangs Klasse wurden schon Kinder zu einer Tanzdarbietung in die Türkei geschickt. Die Reisekosten von 13 000 Yuan für jedes Kind zahlten die Eltern. Ein andermal senden die Eltern ihre Sprösslinge wegen einer Mal-Ausstellung in den chinesischen Pavillon an der Expo in Mailand. Mit solchen «internationalen Erfahrungen» hoffen die Eltern ihren Kinder möglichst gute Startbedingungen zu verschaffen. Während der Mittelschule können die Kosten für den Nachhilfeunterricht pro Kind und Jahr in Chengdu auf gegen 30 000 Yuan ansteigen. Dazu kommen oft noch hohe weitere Kosten, wenn etwa die Eltern eine neue Wohnung in einem anderen Stadtquartier mit einer besseren Mittelschule erwerben.

Engagierte Lehrer
Die Bemühungen der Lehrer in den Schulen sind oft auch beträchtlich. Der Lehrer-Status heische immer noch allgemeinen Respekt, findet zumindest Frau Wang. Sie nimmt regelmässig mit den Eltern ihrer Schüler Kontakt auf und diskutiert mit ihnen über die gegenwärtigen Leistungen der Kinder. Auch mit den Schülern selbst steht sie über QQ (das chinesische Gegenstück zu Twitter) in ständigem Kontakt, um die Leistungen der Kinder zu kommentieren. Einen starken Schüler mit guten Leistungen nennt sie dabei bei seinem Kosenamen, lobt seine intellektuelle Reife und seinen Fleiss. Einen schwächeren Schüler mit schlechten Leistungen hingegen ermahnt sie, «Gas zu geben», tadelt ihn für seinen mangelnden Fleiss oder gibt sogar ihrem Unmut Ausdruck.
Dennoch betont Frau Wang das Prinzip, dass jedes Kind so viel leisten solle, wie es seine Begabung ihm erlaube. Das Lernen gilt aber wie die Arbeit der Erwachsenen als eine seriöse Sache, weshalb auch der Konkurrenz nicht ausgewichen wird. Nach jeder Prüfung wird eine Rangliste veröffentlicht. Die Bindungen zwischen Lehrern und Schülern können so weit gehen, dass Lehrer mitunter für ihre ehemaligen Schüler sogar als Heiratsvermittler fungieren.
Das standardisierte Lernen chinesischer Schüler lässt sich anhand des Aufsatztrainings gut erläutern. In der ersten Klasse lernen die Schüler, einen Satz zu schreiben; in der zweiten Klasse einen ganzen Abschnitt; in der dritten Klasse sollen sie einen Text von 100 bis 200 Wörtern schreiben können und in der fünften einen von bis zu 500 Wörtern. Der Lehrer gibt ein Thema vor, worauf die Schüler zu Hause sich ihre eigenen Gedanken darüber machen. Am nächsten Tag diskutieren sie in der Klasse mit ihren Kollegen darüber. Dann geht es daran, einen ersten Entwurf zu schreiben. Dieser wird vom Lehrer korrigiert, bevor der Schüler ihn ins Heft schreibt.
Die Sechstklässler von Frau Wang absolvieren pro Semester achtmal ein solches Aufsatztraining. Nach der gleichen Methode werden die Kinder auch im Hinblick auf die Teilnahme an der «Mathe-Olympiade» trainiert. Auch in der ersten Fremdsprache Englisch erreichen die Sechstklässler bereits ein mittleres Niveau. Während die Eltern noch kaum einen Satz Englisch über die Lippen bringen, lernt die junge Generation relativ fliessend und mit gutem Akzent zu sprechen. Mit Fleiss und finanziellem Aufwand sucht man unablässig die Annäherung an das höchste internationale Bildungsniveau.
Die traditionellen Stärken der chinesischen Lernmethode stehen aber trotz dem guten Leistungsausweis im internationalen Vergleich in der Kritik. Die Schwächen werden vor allem im ausgeprägt hierarchisch strukturierten Unterricht und im unablässigen Auswendiglernen gesehen. Die Fähigkeit zu selbständigem Denken sowie zur kritischen und kreativen Auseinandersetzung mit dem Lernstoff geht den chinesischen Schülern im Vergleich mit den Schülern aus westlichen Bildungssystemen hingegen ab. Fürchtet der Staat letztlich, dass das freie Denken mit der Parteiideologie in Konflikt kommen könnte? Im Vergleich zur Situation von vor dreissig Jahren ist die ideologische Kontrolle heute tendenziell zu einer Nebensache geworden, zumal es keine klare politische Linie mehr gibt. Wenn die Partei ihr Machtmonopol gefährdet sieht, lässt sie in den Schulen den politischen Unterricht verstärken. Freies Denken gibt es erst in Ansätzen, weil die Lehrpersonen es selbst zuerst lernen müssen.

Hungrig nach Wissen
So schicken immer mehr Eltern ihre Kinder zum Erwerb höherer Bildung in die USA, nach Grossbritannien oder in andere europäische Länder, wo sie dann an Eliteschulen oft auf Schüler mit ähnlich ambitiösem Hintergrund treffen. Sie erzielen dabei oft Erfolge, weil sie sich früh den notwendigen Fleiss und effiziente Lernmethoden angeeignet haben. Zudem sind sie hungrig nach Wissen, weil sie an den Wert der Bildung glauben. Eine taiwanische Doktorandin, die in der Schweiz studiert, ihre universitäre Bildung aber in England erhielt, stimmt zwar zu, dass die chinesische Bildungsmethode die erwähnten Schwächen aufweise, lobt aber gleichzeitig die unübersehbaren Qualitäten der guten alten chinesischen Lernmethode.

Womöglich wurde die Bewertung der Bildungssysteme durch die globalisierten Massstäbe zuungunsten der chinesischen Tradition verzerrt. Es wäre an der Zeit, dass die Methoden der chinesischen Bildungstradition auch in ihren Stärken erkannt werden.

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