6. August 2015

"Werden Pensenerhöhung bekämpfen"

Die Präsidentin der Aargauer Lehrerverbands (alv), Elisabeth Abbassi, äussert sich im Interview zu den geplanten Sparmassnahmen des Kantons. Sie erklärt auch, weshalb die langen Sommerferien gerechtfertigt sind.




Abbassi:"Kanton ist für die Gesundheit der Lehrpersonen verantwortlich", Bild: Mario Heller

Lehrerpräsidentin: Weniger Stellen heisst weniger Bildung, Aargauer Zeitung, 6.8. von Urs Moser


Wir stehen am Ende von fünfwöchigen Sommerferien. Fünf Wochen Ferien: Es kommt wohl niemand so erholt an den Arbeitsplatz zurück wie Lehrer.
Elisabeth Abbassi: Erholt hoffe ich doch, aber nicht nach fünf Wochen Ferien. In unserem Schulhaus zum Beispiel waren in den ersten zwei Ferienwochen noch viele Lehrpersonen mit Abschluss- und Aufräumarbeiten beschäftigt. Und auch in der letzten Woche sind wieder fast alle Lehrerinnen und Lehrer im Schulhaus präsent oder arbeiten zu Hause. Die Vorbereitung auf das neue Schuljahr gibt sehr viel zu tun, und viele Schulen haben auch Weiterbildungstage vor Ferienende. 
Wie viel Ferien hat eine Lehrperson effektiv im Jahr?
Gleich viel wie andere Arbeitnehmer auch. Man muss die Jahresarbeitszeit betrachten, diese entspricht jener des Staatspersonals. Der Unterricht macht 85 Prozent dieser Jahresarbeitszeit aus. 15 Prozent entfallen auf die Tätigkeiten ausserhalb des Unterrichts, Schülerbetreuung, Zusammenarbeit im Lehrerkollegium etc. Dieser Aufwand fällt sehr unregelmässig an. Gerade die Zeit vor den Sommerferien ist sehr intensiv, dann müssen die Zeugnisse gemacht werden und es gibt längere Arbeitszeiten als die vorgesehenen 42 Stunden pro Woche.
Und da bleiben unter dem Strich bei 12 schulfreien Wochen nicht mehr als vier Wochen übrig?
Die Schulferien werden auch zur Kompensation von Überstunden genutzt. Würde sich die Arbeit über das ganze Jahr regelmässig auf eine 42-Stunden-Woche verteilen, wären es in der Tat nicht mehr als vier Wochen. Das ist auch in einer Arbeitszeiterhebung des Kantons belegt, die für die Lehrkräfte ein Pensum von durchschnittlich 25 Prozent über dem Soll ergeben hat. Allerdings ist diese Erhebung schon alt, seither gab es Neuerungen wie die integrative Schulung oder die neue Promotionsverordnung. Beides Reformen, die mit deutlich mehr Arbeitsaufwand verbunden sind.
Glauben Sie, das ist der Öffentlichkeit bewusst? Ich würde behaupten, ein Grossteil der Bevölkerung – und insbesondere der Politiker – ist der Meinung, die Lehrer jammern auf hohem Niveau.
Jammern sie? Ein grosser Teil der Lehrerschaft ist im Grossen und Ganzen eigentlich ziemlich zufrieden mit ihrer Arbeit. Die Belastung ist aber wirklich sehr hoch. Und viele Lehrer kompensieren die mangelnden Ressourcen, die der Kanton zur Verfügung stellt, mit einem noch höheren Arbeitseinsatz, was dann irgendwann zur Überforderung und ins Burnout führt. Um die Gesundheit nicht zu gefährden, reduzieren auch immer mehr Lehrpersonen freiwillig ihr Pensum und nehmen lieber eine Lohneinbusse in Kauf.
Sie sagen, der Lehrerberuf verliere zunehmend an Attraktivität. Wie passt das zu den Studierendenzahlen an den pädagogischen Hochschulen, die deutlich zunehmen?
Es freut mich, dass das so ist. Es sind aber immer noch viel zu wenige und zudem nimmt leider auch die Zahl der Lehrpersonen zu, die nach wenigen Jahren wieder aus dem Beruf aussteigen. Schon nach einem Jahr sind 20 Prozent der Lehrpersonen nicht mehr im Kanton Aargau tätig, nach fünf Jahren sind es 50 Prozent. Bei diesen Mutationen kann man nicht mehr von Schulentwicklung sprechen, wir fangen ständig von vorne an.
Aber wenn die Lehrpersonen doch mit ihrem Beruf zufrieden sind ...
Moment! Sie sind mit dem zufrieden, was den Unterricht betrifft. Mit der Schulpolitik des Kantons sind sie alles andere als zufrieden. Die Einführung der Reformen und die Ressourcen, die für die Reformen zur Verfügung gestellt wurden, werden unterirdisch schlecht beurteilt. Sehr schlecht bewertet wird auch der Lohn und vor allem die Lohnentwicklung.
Der Maximallohn für eine Primarlehrkraft liegt bei gut 124'000 Franken, das ist doch nicht schlecht, das ist ein stolzer Lohn.
Das sagen Sie, ich würde eher von Augenwischerei sprechen. Diesen Maximallohn erreicht man kurz vor dem Pensionsalter, und wenn der Aargau so weitermacht, wird keine Lehrkraft mehr diesen Maximallohn erreichen. Wenn, wie für 2016 geschehen, Nullrunden für das Staatspersonal und die Lehrerschaft beschlossen werden, geht das Lohnsystem kaputt. Hinzu kommen die höheren Ausbildungsanforderungen, ein Bachelor-Abschluss für Kindergarten und Primarschule, ein Masterstudium für die Sekundarstufe I. Lohnvergleiche haben nachgewiesen, dass Lehrkräfte in der ganzen Schweiz schlechter bezahlt sind als gleich ausgebildete Fachkräfte in anderen Branchen. Und der Aargau steht ganz besonders schlecht da. Wenn eine Lehrkraft vor der Entscheidung steht, eine Stelle in Spreitenbach oder Dietikon anzutreten, kann das einen Lohnunterschied von 20'000 Franken im Jahr ausmachen. Es wird wohl niemand behaupten wollen, die Arbeit mit Kindern in Spreitenbach gebe für 20'000 Franken weniger zu tun. Gleiches gilt übrigens auch für Aarau und Schönenwerd oder für Sins und Zug. Darum warnen wir davor, dass der Kanton an Attraktivität verliert und keine qualifizierten Lehrkräfte mehr finden wird.
Zumindest bei den Kindergärtnerinnen haben Sie einen Erfolg erzielt, ihr Lohn soll nun schrittweise dem der Primarlehrkräfte angeglichen werden. Zufrieden mit dem Umsetzungsvorschlag der Regierung?
Mit der Lohnanpassung ja, aber nicht mit dem Tempo. Gerade bei den Kindergärtnerinnen zeigt sich das Problem besonders akzentuiert. Sie haben die gleiche Ausbildung wie Primarlehrerinnen und finden problemlos besser bezahlte Stellen. Im Moment ist es im Aargau praktisch unmöglich, qualifizierte Fachpersonen für den Kindergarten zu finden. Es werden Fachangestellte Betreuung, eine dreijährige Berufslehre, für den Kindergartenunterricht angestellt.
Ist das erlaubt?
Jein. Natürlich sind Schulpflegen und Schulleitungen eigentlich verpflichtet, die Stellen mit entsprechend qualifizierten Lehrpersonen zu besetzen. Oberste Maxime ist aber, die Stellen überhaupt zu besetzen. Und oft wird auch nicht darüber informiert, dass eine Person, die vor einer Klasse steht, die Ausbildung dafür gar nicht hat. Wenn Bildungsdirektor Alex Hürzeler am Montag erklärt, es sei gelungen, alle Stellen für das neue Schuljahr zu besetzen, hat er vielleicht recht. Wenn er behaupten sollte, dass vor jeder Klasse eine Lehrkraft steht, würde das nicht der Wahrheit entsprechen.
Der Regierungsrat will in den kommenden Jahren auf bis 250 Lehrerstellen verzichten. Weiss man inzwischen Genaueres, wie das umgesetzt werden soll?
Offenbar sollen das Pflichtpensum der Mittelschullehrpersonen erhöht, die minimalen Klassengrössen an Real- und Sekundarschulen angehoben und die ungebundenen Lektionen zum Beispiel für den Unterricht in geteilten Klassen oder den Unterricht zu zweit in Kindergarten- und Primarschule gekürzt werden. Das heisst, eine Lehrperson kann oft nicht mehr ein Vollpensum nur an einer Klasse unterrichten.
Ist irgendetwas davon für Sie akzeptabel?
Wenn überhaupt, dann allenfalls die Anhebung der minimalen Abteilungsgrössen. Das würde aber zwangsläufig bedeuten, dass mehr Schüler in einer anderen Gemeinde zur Schule gehen müssen. Ganz bestimmt werden wir eine Pensenerhöhung wie schon bei den Bezirksschullehrern bekämpfen, auch juristisch. Der Kanton ist von Gesetzes wegen für die Gesundheit der Lehrpersonen verantwortlich. Ich verweise noch einmal darauf, dass bereits 2008, ohne zusätzliche Belastung etwa durch die integrative Schulung, massive Überschreitungen der Soll-Jahresarbeitszeiten nachgewiesen wurden. Das gefährdet die Gesundheit, der Kanton nimmt seine gesetzliche Verantwortung nicht wahr.
Ich wage die Prognose, dass Ihr Protest ungehört bleibt, dass die Nullrunde bei den Lehrerlöhnen und der Verzicht auf die Besetzung von Stellen kommen wird. Was ist die Konsequenz?
Es kann nur eine geben: Wenn Stellen abgebaut werden, dann müssen auch Leistungen in den Schulen abgebaut werden.
Leistungen abbauen heisst?
Das heisst Leistungsabbau im Bildungsangebot, also zum Beispiel weniger Lektionen erteilen. Es ist schlicht nicht mehr möglich, Stellen abzubauen und die gleichen Leistungen auf die Lehrerinnen und Lehrer zu verteilen, die jetzt schon 25 Prozent zu viel Arbeitsstunden leisten und von denen heute schon 20 Prozent nach nur einem Jahr wieder aus dem Beruf aussteigen und von denen mindestens 20 Prozent in der reaktiven Abschirmung sind, das heisst auf ein Burnout zusteuern.
Sie prägten im Zusammenhang mit Sparmassnahmen im Bildungswesen einst den Begriff «Aldi-Kanton». Wo stehen wir aktuell auf einer Skala von Globus bis Aldi?
Aldi würde sich inzwischen wohl gegen den Vergleich verwahren. Der Discounter mit den bereits tiefsten Preisen geht mit diesen Preisen nicht noch weiter runter, das macht für ihn keinen Sinn. Genau so verhält sich aber der Kanton Aargau. Der Aargau ist erwiesenermassen der Kanton mit den tiefsten Pro-Kopf-Ausgaben. Und statt sich zu überlegen, ob das die richtige Position ist, will dieser Kanton jetzt noch weiter sparen. Wobei er dabei noch nicht einmal wirklich spart, sondern bloss Kosten verlagert. Die Schulklassen werden nicht plötzlich einfacher, weil der Kanton weniger Ressourcen zur Verfügung stellt. Diese Politik versteht nun wirklich keine Lehrerin und kein Lehrer – und ich hoffe auch keine Mutter und kein Vater.


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