Abbassi:"Kanton ist für die Gesundheit der Lehrpersonen verantwortlich", Bild: Mario Heller
Lehrerpräsidentin: Weniger Stellen heisst weniger Bildung, Aargauer Zeitung, 6.8. von Urs Moser
Wir stehen am Ende von fünfwöchigen Sommerferien.
Fünf Wochen Ferien: Es kommt wohl niemand so erholt an den Arbeitsplatz zurück
wie Lehrer.
Elisabeth
Abbassi: Erholt hoffe ich doch, aber nicht nach fünf
Wochen Ferien. In unserem Schulhaus zum Beispiel waren in den ersten zwei
Ferienwochen noch viele Lehrpersonen mit Abschluss- und Aufräumarbeiten
beschäftigt. Und auch in der letzten Woche sind wieder fast alle Lehrerinnen
und Lehrer im Schulhaus präsent oder arbeiten zu Hause. Die Vorbereitung auf
das neue Schuljahr gibt sehr viel zu tun, und viele Schulen haben auch
Weiterbildungstage vor Ferienende.
Wie viel Ferien hat eine Lehrperson effektiv im
Jahr?
Gleich viel wie
andere Arbeitnehmer auch. Man muss die Jahresarbeitszeit betrachten, diese
entspricht jener des Staatspersonals. Der Unterricht macht 85 Prozent dieser
Jahresarbeitszeit aus. 15 Prozent entfallen auf die Tätigkeiten ausserhalb des
Unterrichts, Schülerbetreuung, Zusammenarbeit im Lehrerkollegium etc. Dieser
Aufwand fällt sehr unregelmässig an. Gerade die Zeit vor den Sommerferien ist
sehr intensiv, dann müssen die Zeugnisse gemacht werden und es gibt längere
Arbeitszeiten als die vorgesehenen 42 Stunden pro Woche.
Und da bleiben unter dem Strich bei 12 schulfreien
Wochen nicht mehr als vier Wochen übrig?
Die Schulferien
werden auch zur Kompensation von Überstunden genutzt. Würde sich die Arbeit
über das ganze Jahr regelmässig auf eine 42-Stunden-Woche verteilen, wären es
in der Tat nicht mehr als vier Wochen. Das ist auch in einer
Arbeitszeiterhebung des Kantons belegt, die für die Lehrkräfte ein Pensum von
durchschnittlich 25 Prozent über dem Soll ergeben hat. Allerdings ist diese
Erhebung schon alt, seither gab es Neuerungen wie die integrative Schulung oder
die neue Promotionsverordnung. Beides Reformen, die mit deutlich mehr
Arbeitsaufwand verbunden sind.
Glauben Sie, das ist der Öffentlichkeit bewusst?
Ich würde behaupten, ein Grossteil der Bevölkerung – und insbesondere der
Politiker – ist der Meinung, die Lehrer jammern auf hohem Niveau.
Jammern sie? Ein
grosser Teil der Lehrerschaft ist im Grossen und Ganzen eigentlich ziemlich
zufrieden mit ihrer Arbeit. Die Belastung ist aber wirklich sehr hoch. Und
viele Lehrer kompensieren die mangelnden Ressourcen, die der Kanton zur
Verfügung stellt, mit einem noch höheren Arbeitseinsatz, was dann irgendwann
zur Überforderung und ins Burnout führt. Um die Gesundheit nicht zu gefährden,
reduzieren auch immer mehr Lehrpersonen freiwillig ihr Pensum und nehmen lieber
eine Lohneinbusse in Kauf.
Sie sagen, der Lehrerberuf verliere zunehmend an
Attraktivität. Wie passt das zu den Studierendenzahlen an den pädagogischen
Hochschulen, die deutlich zunehmen?
Es freut mich,
dass das so ist. Es sind aber immer noch viel zu wenige und zudem nimmt leider
auch die Zahl der Lehrpersonen zu, die nach wenigen Jahren wieder aus dem Beruf
aussteigen. Schon nach einem Jahr sind 20 Prozent der Lehrpersonen nicht mehr
im Kanton Aargau tätig, nach fünf Jahren sind es 50 Prozent. Bei diesen
Mutationen kann man nicht mehr von Schulentwicklung sprechen, wir fangen
ständig von vorne an.
Aber wenn die Lehrpersonen doch mit ihrem Beruf
zufrieden sind ...
Moment! Sie
sind mit dem zufrieden, was den Unterricht betrifft. Mit der Schulpolitik des
Kantons sind sie alles andere als zufrieden. Die Einführung der Reformen und
die Ressourcen, die für die Reformen zur Verfügung gestellt wurden, werden
unterirdisch schlecht beurteilt. Sehr schlecht bewertet wird auch der Lohn und
vor allem die Lohnentwicklung.
Der Maximallohn für eine Primarlehrkraft liegt bei
gut 124'000 Franken, das ist doch nicht schlecht, das ist ein stolzer Lohn.
Das sagen Sie,
ich würde eher von Augenwischerei sprechen. Diesen Maximallohn erreicht man
kurz vor dem Pensionsalter, und wenn der Aargau so weitermacht, wird keine
Lehrkraft mehr diesen Maximallohn erreichen. Wenn, wie für 2016 geschehen,
Nullrunden für das Staatspersonal und die Lehrerschaft beschlossen werden, geht
das Lohnsystem kaputt. Hinzu kommen die höheren Ausbildungsanforderungen, ein
Bachelor-Abschluss für Kindergarten und Primarschule, ein Masterstudium für die
Sekundarstufe I. Lohnvergleiche haben nachgewiesen, dass Lehrkräfte in der
ganzen Schweiz schlechter bezahlt sind als gleich ausgebildete Fachkräfte in
anderen Branchen. Und der Aargau steht ganz besonders schlecht da. Wenn eine
Lehrkraft vor der Entscheidung steht, eine Stelle in Spreitenbach oder Dietikon
anzutreten, kann das einen Lohnunterschied von 20'000 Franken im Jahr
ausmachen. Es wird wohl niemand behaupten wollen, die Arbeit mit Kindern in
Spreitenbach gebe für 20'000 Franken weniger zu tun. Gleiches gilt übrigens
auch für Aarau und Schönenwerd oder für Sins und Zug. Darum warnen wir davor,
dass der Kanton an Attraktivität verliert und keine qualifizierten Lehrkräfte
mehr finden wird.
Zumindest bei den Kindergärtnerinnen haben Sie
einen Erfolg erzielt, ihr Lohn soll nun schrittweise dem der Primarlehrkräfte
angeglichen werden. Zufrieden mit dem Umsetzungsvorschlag der Regierung?
Mit der
Lohnanpassung ja, aber nicht mit dem Tempo. Gerade bei den Kindergärtnerinnen
zeigt sich das Problem besonders akzentuiert. Sie haben die gleiche Ausbildung
wie Primarlehrerinnen und finden problemlos besser bezahlte Stellen. Im Moment
ist es im Aargau praktisch unmöglich, qualifizierte Fachpersonen für den
Kindergarten zu finden. Es werden Fachangestellte Betreuung, eine dreijährige
Berufslehre, für den Kindergartenunterricht angestellt.
Ist das erlaubt?
Jein. Natürlich
sind Schulpflegen und Schulleitungen eigentlich verpflichtet, die Stellen mit
entsprechend qualifizierten Lehrpersonen zu besetzen. Oberste Maxime ist aber,
die Stellen überhaupt zu besetzen. Und oft wird auch nicht darüber informiert,
dass eine Person, die vor einer Klasse steht, die Ausbildung dafür gar nicht
hat. Wenn Bildungsdirektor Alex Hürzeler am Montag erklärt, es sei gelungen,
alle Stellen für das neue Schuljahr zu besetzen, hat er vielleicht recht. Wenn
er behaupten sollte, dass vor jeder Klasse eine Lehrkraft steht, würde das
nicht der Wahrheit entsprechen.
Der Regierungsrat will in den kommenden Jahren auf
bis 250 Lehrerstellen verzichten. Weiss man inzwischen Genaueres, wie das
umgesetzt werden soll?
Offenbar sollen
das Pflichtpensum der Mittelschullehrpersonen erhöht, die minimalen
Klassengrössen an Real- und Sekundarschulen angehoben und die ungebundenen
Lektionen zum Beispiel für den Unterricht in geteilten Klassen oder den
Unterricht zu zweit in Kindergarten- und Primarschule gekürzt werden. Das
heisst, eine Lehrperson kann oft nicht mehr ein Vollpensum nur an einer Klasse
unterrichten.
Ist irgendetwas davon für Sie akzeptabel?
Wenn überhaupt,
dann allenfalls die Anhebung der minimalen Abteilungsgrössen. Das würde aber
zwangsläufig bedeuten, dass mehr Schüler in einer anderen Gemeinde zur Schule
gehen müssen. Ganz bestimmt werden wir eine Pensenerhöhung wie schon bei den
Bezirksschullehrern bekämpfen, auch juristisch. Der Kanton ist von Gesetzes
wegen für die Gesundheit der Lehrpersonen verantwortlich. Ich verweise noch
einmal darauf, dass bereits 2008, ohne zusätzliche Belastung etwa durch die
integrative Schulung, massive Überschreitungen der Soll-Jahresarbeitszeiten
nachgewiesen wurden. Das gefährdet die Gesundheit, der Kanton nimmt seine
gesetzliche Verantwortung nicht wahr.
Ich wage die Prognose, dass Ihr Protest ungehört
bleibt, dass die Nullrunde bei den Lehrerlöhnen und der Verzicht auf die
Besetzung von Stellen kommen wird. Was ist die Konsequenz?
Es kann nur
eine geben: Wenn Stellen abgebaut werden, dann müssen auch Leistungen in den
Schulen abgebaut werden.
Leistungen abbauen heisst?
Das heisst
Leistungsabbau im Bildungsangebot, also zum Beispiel weniger Lektionen
erteilen. Es ist schlicht nicht mehr möglich, Stellen abzubauen und die
gleichen Leistungen auf die Lehrerinnen und Lehrer zu verteilen, die jetzt
schon 25 Prozent zu viel Arbeitsstunden leisten und von denen heute schon 20
Prozent nach nur einem Jahr wieder aus dem Beruf aussteigen und von denen
mindestens 20 Prozent in der reaktiven Abschirmung sind, das heisst auf ein
Burnout zusteuern.
Sie prägten im Zusammenhang mit Sparmassnahmen im
Bildungswesen einst den Begriff «Aldi-Kanton». Wo stehen wir aktuell auf einer
Skala von Globus bis Aldi?
Aldi würde sich
inzwischen wohl gegen den Vergleich verwahren. Der Discounter mit den bereits
tiefsten Preisen geht mit diesen Preisen nicht noch weiter runter, das macht
für ihn keinen Sinn. Genau so verhält sich aber der Kanton Aargau. Der Aargau
ist erwiesenermassen der Kanton mit den tiefsten Pro-Kopf-Ausgaben. Und statt
sich zu überlegen, ob das die richtige Position ist, will dieser Kanton jetzt
noch weiter sparen. Wobei er dabei noch nicht einmal wirklich spart, sondern
bloss Kosten verlagert. Die Schulklassen werden nicht plötzlich einfacher, weil
der Kanton weniger Ressourcen zur Verfügung stellt. Diese Politik versteht nun
wirklich keine Lehrerin und kein Lehrer – und ich hoffe auch keine Mutter und
kein Vater.
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