90 Prozent der Schulpsychologen sehen Probleme bei der elterlichen Erziehung, Bild: Stefan Bohrer
Das Problem sind die Eltern, Sonntagszeitung, 16.8. von Linda von Burg und Alexandre Haederli
Sie setzen ihren
Nachwuchs oft unnötig unter Leistungsdruck. Viele Kinder sind damit überfordert
– und landen beim Schulpsychologen
Die Mutter von Alan,
8 Jahre alt, nimmt ihren ganzen Mut zusammen und wählt die Nummer des
Schulpsychologischen Dienstes. «Ich weiss nicht mehr weiter. Mein Sohn weigert
sich, seine Hausaufgaben zu machen», sagt die Mutter ins Telefon.
Der einzige Sohn der
wohlhabenden Familie ging bisher mit Leichtigkeit durch die Schule. Aber seit
einiger Zeit ist das Erledigen der Hausaufgaben eine Tortur. Statt sich die
zwanzig Minuten Zeit zu nehmen, wehrt er sich eine Stunde lang dagegen,
manchmal sogar zwei. Immer wieder findet Alan irgendwelche Ausflüchte.
Der Schulpsychologe
François Nicole, der den Fall betreut, kennt das Problem – es ist nicht das
Kind: «Seine Eltern sind anspruchsvoll, sehr anspruchsvoll. Und das Kind
erträgt diesen Druck schlecht.» Es sei verunsichert und habe das Gefühl, dass
man ihm nichts zutraue. «Das ist weniger trivial, als es scheint», sagt Nicole.
«Das könnte die Eltern-KindBeziehung schwächen.» Was viel schlimmer wäre als
aufgeschobene Hausaufgaben.
Vater hat den Karriereplan für den Achtjährigen schon
erstellt
Am Montag beginnt für
die Schüler in 14 Schweizer Kantonen nach den langen Sommerferien wieder der
Unterricht. Noch vor den Ferien haben 194 Schulpsychologen einen Fragebogen der
SonntagsZeitung und von «Le Matin Dimanche» beantwortet. Es sind Experten, die
einen sehr guten Einblick haben: Sie sprechen nicht nur mit Schülern und
Lehrern, sondern pflegen auch den Kontakt mit der Behörde, therapeutischen
Institutionen und Spezialärzten. In einer Klasse von 20 Kindern landen bis Ende
Jahr im Durchschnitt zwei bis drei beim Schulpsychologen.
Wo liegen für die
Psychologen die wahren Probleme der Schüler? Offensichtlich nicht dort, wo
Politiker und Öffentlichkeit sie vermuten, wie die Umfrage zeigt. Weder der
Ausländeranteil in den Klassen noch Integrationsschwierigkeiten bereiten den
Schülern die grössten Schwierigkeiten. Erst recht nicht Klassenkameradinnen,
die aus religiösen Gründen nicht am Schwimmunterricht teilnehmen.
Nur 28 Prozent aller
Schulpsychologen sehen den Ausländeranteil als Ursache für Probleme im
Klassenzimmer (siehe Grafik). Religiöse Konflikte sind gar komplett
bedeutungslos. Lediglich 3 Prozent der Befragten sehen hier Schwierigkeiten. 75
Prozent erachten die Lehrer als überfordert. Und fast 90 Prozent der
Schulpsychologen sehen Probleme bei der elterlichen Erziehung.
Zum Beispiel bei
einer Mutter, die grosse Augen macht und unzufrieden ist, wenn die zehnjährige
Tochter im Mathetest mit der Note 5 nach Hause kommt – statt einer 6, die sie
normalerweise schreibt. Oder auch ein Vater, der bereits den Karriereplan für
den achtjährigen Sohn erstellt hat – mit Matura und der richtigen Universität.
Das sind
Erwartungshaltungen von Eltern, welche die Kinder in einen Teufelskreis geraten
lassen: Sie werden ängstlich und riskieren so, beim nächsten Test wieder zu
versagen. «Diese Art von Problem existiert seit langem. Aufgrund der
wirtschaftlichen Situation sind sie aber akuter geworden», sagt der
Schulpsychologe François Nicole. «Noch nie wurden Wettbewerbsfähigkeit und
individuelle Leistung für so wichtig befunden wie heute.»
Gemäss Umfrage sind
Lern- und Leistungsstörungen die mit Abstand häufigsten Gründe, ein Kind zum
Schulpsychologen zu schicken – und dies nicht nur in der Sekundar-, sondern
bereits in der Primarschule.
«Eltern haben in vielen Bereichen keinen Einfluss»
Die Gründe für dieses
Phänomen sind vielschichtig. Stetig steigende Ansprüche und Anforderungen in
Gesellschaft und Wirtschaft setzen die Eltern unter Druck, den sie dann an die
Kinder weitergeben. «Die Eltern wissen, dass die Gesellschaft auf den
Wettbewerb zwischen Individuen aufgebaut ist. Und da sie das Beste wollen für
die Zukunft ihrer Kinder, üben sie von der Grundschule an Druck aus», sagt
Georges Albrecht, Schulpsychologe aus der Region Gruyère FR. «Sie vergessen,
dass Kinder einen anderen Rhythmus haben.»
Der Ehrgeiz der
Eltern treibt viele in die Verunsicherung. «Es gibt unzählige Ratgeber mit
Tricks und Tipps, wie man Kinder erziehen soll. Dabei werden auch
widersprüchliche Dinge vorgeschlagen», sagt David Schmid, Präsident der
Interkantonalen Vereinigung der Leiter der schulpsychologischen Dienste
(IVL-SPD). Eltern wüssten dann nicht mehr, was richtig und was falsch sei, sie
vertrauten ihrem Instinkt nicht mehr.
Der Zürcher
Schulpsychologe Roland Käser sagt: «Die Eltern haben in vielen Bereichen keinen
Einfluss wie beispielsweise auf das Temperament und die Begabung des Kindes. Zudem
fühlen sie sich bei der Erziehung oftmals hilflos.»
Auch in anderen Fällen verweisen
Schulpsychologen oft auf die Eltern, wenn Schüler Probleme machen. Typisch ist
etwa der Fall von Cedric aus Luzern. Der Zehnjährige ist auffällig, laut und
stört den Unterricht. Von Handarbeit und Französisch wurde er dispensiert – er
habe «Materialien achtlos rumgeworfen, sei destruktiv und verwende eine
sexualisierte Sprache auf tiefstem Niveau». Er gilt als Quartierschreck. Er ist
ständig in Streitereien verwickelt. Er provoziert.
Für den behandelnden
Schulpsychologen ist das Problem bei Cedric aber zu Hause, nicht in der Schule.
Sein aggressives Verhalten sei auf Sprachschwierigkeiten, «vor allem aber auf
die fehlende Grenzsetzung und die inkohärenten Erziehungsmöglichkeiten
zurückzuführen». Die Mutter ist überfordert und weiss nicht, wie sie ihrem Sohn
Grenzen setzen kann.
Für die befragten
Schulpsychologen ist der wachsende Druck auf die Kinder ein Spiegelbild der
Gesellschaft. Die Schule könne daran kaum etwas ändern, sagt der Zürcher
Psychologe Roland Käser. Er schlägt deshalb vor, ein Coaching für Eltern
einzurichten. «Manchmal reicht ein wohlwollendes, klärendes Gespräch mit einer
externen Person.»
Vor allem müsse man
die Grenzen der Machbarkeit akzeptieren – und den eigenen Nachwuchs vor lauter
Förderung auch wieder mal Kind sein lassen.
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