16. August 2015

Eltern sind überfordert

Sie setzen ihren Nachwuchs oft unnötig unter Leistungsdruck. Viele Kinder sind damit überfordert - und landen beim Schulpsychologen.




90 Prozent der Schulpsychologen sehen Probleme bei der elterlichen Erziehung, Bild: Stefan Bohrer

Das Problem sind die Eltern, Sonntagszeitung, 16.8. von Linda von Burg und Alexandre Haederli



Sie setzen ihren Nachwuchs oft unnötig unter Leistungsdruck. Viele Kinder sind damit überfordert – und landen beim Schulpsychologen

Die Mutter von Alan, 8 Jahre alt, nimmt ihren ganzen Mut zusammen und wählt die Nummer des Schulpsychologischen Dienstes. «Ich weiss nicht mehr weiter. Mein Sohn weigert sich, seine Hausaufgaben zu machen», sagt die Mutter ins Telefon.

Der einzige Sohn der wohlhabenden Familie ging bisher mit Leichtigkeit durch die Schule. Aber seit einiger Zeit ist das Erledigen der Hausaufgaben eine Tortur. Statt sich die zwanzig Minuten Zeit zu nehmen, wehrt er sich eine Stunde lang dagegen, manchmal sogar zwei. Immer wieder findet Alan irgendwelche Ausflüchte.

Der Schulpsychologe François Nicole, der den Fall betreut, kennt das Problem – es ist nicht das Kind: «Seine Eltern sind anspruchsvoll, sehr anspruchsvoll. Und das Kind erträgt diesen Druck schlecht.» Es sei verunsichert und habe das Gefühl, dass man ihm nichts zutraue. «Das ist weniger trivial, als es scheint», sagt Nicole. «Das könnte die Eltern-KindBeziehung schwächen.» Was viel schlimmer wäre als aufgeschobene Hausaufgaben.

Vater hat den Karriereplan für den Achtjährigen schon erstellt
Am Montag beginnt für die Schüler in 14 Schweizer Kantonen nach den langen Sommerferien wieder der Unterricht. Noch vor den Ferien haben 194 Schulpsychologen einen Fragebogen der SonntagsZeitung und von «Le Matin Dimanche» beantwortet. Es sind Experten, die einen sehr guten Einblick haben: Sie sprechen nicht nur mit Schülern und Lehrern, sondern pflegen auch den Kontakt mit der Behörde, therapeutischen Institutionen und Spezialärzten. In einer Klasse von 20 Kindern landen bis Ende Jahr im Durchschnitt zwei bis drei beim Schulpsychologen.

Wo liegen für die Psychologen die wahren Probleme der Schüler? Offensichtlich nicht dort, wo Politiker und Öffentlichkeit sie vermuten, wie die Umfrage zeigt. Weder der Ausländeranteil in den Klassen noch Integrationsschwierigkeiten bereiten den Schülern die grössten Schwierigkeiten. Erst recht nicht Klassenkameradinnen, die aus religiösen Gründen nicht am Schwimmunterricht teilnehmen.

Nur 28 Prozent aller Schulpsychologen sehen den Ausländeranteil als Ursache für Probleme im Klassenzimmer (siehe Grafik). Religiöse Konflikte sind gar komplett bedeutungslos. Lediglich 3 Prozent der Befragten sehen hier Schwierigkeiten. 75 Prozent erachten die Lehrer als überfordert. Und fast 90 Prozent der Schulpsychologen sehen Probleme bei der elterlichen Erziehung.

Zum Beispiel bei einer Mutter, die grosse Augen macht und unzufrieden ist, wenn die zehnjährige Tochter im Mathetest mit der Note 5 nach Hause kommt – statt einer 6, die sie normalerweise schreibt. Oder auch ein Vater, der bereits den Karriereplan für den achtjährigen Sohn erstellt hat – mit Matura und der richtigen Universität.

Das sind Erwartungshaltungen von Eltern, welche die Kinder in einen Teufelskreis geraten lassen: Sie werden ängstlich und riskieren so, beim nächsten Test wieder zu versagen. «Diese Art von Problem existiert seit langem. Aufgrund der wirtschaftlichen Situation sind sie aber akuter geworden», sagt der Schulpsychologe François Nicole. «Noch nie wurden Wettbewerbsfähigkeit und individuelle Leistung für so wichtig befunden wie heute.»

Gemäss Umfrage sind Lern- und Leistungsstörungen die mit Abstand häufigsten Gründe, ein Kind zum Schulpsychologen zu schicken – und dies nicht nur in der Sekundar-, sondern bereits in der Primarschule.

«Eltern haben in vielen Bereichen keinen Einfluss»
Die Gründe für dieses Phänomen sind vielschichtig. Stetig steigende Ansprüche und Anforderungen in Gesellschaft und Wirtschaft setzen die Eltern unter Druck, den sie dann an die Kinder weitergeben. «Die Eltern wissen, dass die Gesellschaft auf den Wettbewerb zwischen Individuen aufgebaut ist. Und da sie das Beste wollen für die Zukunft ihrer Kinder, üben sie von der Grundschule an Druck aus», sagt Georges Albrecht, Schulpsychologe aus der Region Gruyère FR. «Sie vergessen, dass Kinder einen anderen Rhythmus haben.»

Der Ehrgeiz der Eltern treibt viele in die Verunsicherung. «Es gibt unzählige Ratgeber mit Tricks und Tipps, wie man Kinder erziehen soll. Dabei werden auch widersprüchliche Dinge vorgeschlagen», sagt David Schmid, Präsident der Interkantonalen Vereinigung der Leiter der schulpsychologischen Dienste (IVL-SPD). Eltern wüssten dann nicht mehr, was richtig und was falsch sei, sie vertrauten ihrem Instinkt nicht mehr.

Der Zürcher Schulpsychologe Roland Käser sagt: «Die Eltern haben in vielen Bereichen keinen Einfluss wie beispielsweise auf das Temperament und die Begabung des Kindes. Zudem fühlen sie sich bei der Erziehung oftmals hilflos.»

 Auch in anderen Fällen verweisen Schulpsychologen oft auf die Eltern, wenn Schüler Probleme machen. Typisch ist etwa der Fall von Cedric aus Luzern. Der Zehnjährige ist auffällig, laut und stört den Unterricht. Von Handarbeit und Französisch wurde er dispensiert – er habe «Materialien achtlos rumgeworfen, sei destruktiv und verwende eine sexualisierte Sprache auf tiefstem Niveau». Er gilt als Quartierschreck. Er ist ständig in Streitereien verwickelt. Er provoziert.

Für den behandelnden Schulpsychologen ist das Problem bei Cedric aber zu Hause, nicht in der Schule. Sein aggressives Verhalten sei auf Sprachschwierigkeiten, «vor allem aber auf die fehlende Grenzsetzung und die inkohärenten Erziehungsmöglichkeiten zurückzuführen». Die Mutter ist überfordert und weiss nicht, wie sie ihrem Sohn Grenzen setzen kann.

Für die befragten Schulpsychologen ist der wachsende Druck auf die Kinder ein Spiegelbild der Gesellschaft. Die Schule könne daran kaum etwas ändern, sagt der Zürcher Psychologe Roland Käser. Er schlägt deshalb vor, ein Coaching für Eltern einzurichten. «Manchmal reicht ein wohlwollendes, klärendes Gespräch mit einer externen Person.»


Vor allem müsse man die Grenzen der Machbarkeit akzeptieren – und den eigenen Nachwuchs vor lauter Förderung auch wieder mal Kind sein lassen. 

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