Sandra*
habe ich immer gemocht. Sie war eine tadellose Linke. Vor über 30 Jahren organisierten
wir mit 20 VPOD-Aktivisten eine Demo im bernischen Grossen Rat, um für die
Bildungsinitiative "Schulmodell 6/3" zu werben. Wir trugen alle ein T-Shirt mit
einem Buchstaben drauf, das wir aber unter unseren Jacken versteckten. Mitten
in der Debatte standen wir auf und zogen unsere Übergewänder aus. Die
Überraschung war total. Das Bild ging durch die Presse. Junge Lehrer auf der
Tribüne des Grossen Rates bildeten mit ihren Leibern ein lebendes Transparent:
VPOD für das 6/3-Modell!
Die Parabel von Sandra und Regula, Bieler Tagblatt, 31.8. von Alain Pichard
Die
Aufregung im Saal war gross. "Respektlos", "unanständig",
das waren noch die harmlosesten Worte, die uns von unten heraufgepfeffert wurden.
Der Ratspräsident wies uns aus dem Saal und wir verzogen uns in die Beiz. Wir
freuten uns diebisch über die Reaktionen und alle waren sehr zufrieden mit sich
und der Welt. Dazu gewannen wir noch ein paar Wochen später die Abstimmung,
verloren aber Sandra. Die ausgebildete Sekundarlehrerin verliess den
Schulbetrieb und stieg in die Bildungsverwaltung ein, sorgte für die Umsetzung
des 6/3 Modells, und ist heute verantwortlich für die Einführung von
Frühfranzösisch und den Lehrplan.
In
letzterer Funktion organisiert sie die Einführungskurse für die SchulleiterInnen
im Kanton Bern. Und an einem dieser Kurse begegnete sie Regula*.
Regula
kenne ich erst seit Kurzem. Sie ist fünffache Mutter, sie ist jung, religiös und konservativ. Regula wohnt im
Oberland und ist gegenüber dem neuen Lehrplan sehr skeptisch. Ihre Kinder
fühlen sich in der Schule nicht wohl, und sie möchte etwas dagegen tun. Sie
sagt sich: Ich habe zu einem einheitlichen Schulbeginn und einer Harmonisierung
der Bildungsstufen JA gesagt. Aber ich habe nicht JA gesagt zu
Standardisierung, Normierung und Testerei, zu Frühfranzösisch, zu einer neuen
Fremdsprachendidaktik, zu Lernlandschaften und zu Lehrkräften, die nur noch
Lernbegleiter sein sollen.
Sie
liest, schreibt, telefoniert und blitzt bei den Behörden ab. Von der
Schulleitung wurde ihr beschieden, dass sie sich nicht querstellen solle. Jetzt
möchte Regula, die inzwischen in einer lehrplankritischen Elternvereinigung
wirkt, wirklich etwas tun. Sie entwirft ein Flugblatt und verteilt dieses mit
zwei weiteren Müttern in Lyss, vor dem Gebäude, in welchem die Schulleiter von
Sandra über den neuen Lehrplan informiert werden sollen.
Als
Sandra die jungen Mütter sieht, ist sie zuerst sehr
traurig. Dann wütend: "Unanständig", "keine Bewilligung", meint
sie. Sandra holt als Verstärkung einen Mann, einen Schulinspektor. Dieser weist
die Frauen freundlich aber bestimmt vor die Türe. Drinnen im Saal sagt er den
Anwesenden ziemlich entnervt: "Das Papier können Sie als Notizpapier
brauchen."
Regula
und ihre Frauen verziehen sich in eine Beiz und freuen sich diebisch über die
Reaktionen und sind zufrieden mit sich
und der Welt. "Es war der Hammer", schrieb sie mir, "so viel
Aufregung wegen eines Flugblatts!" Ob Sie allerdings eine allfällige
Abstimmung über den LP21 gewinnen wird, wie wir damals, darf bezweifelt werden.
Denn sie ist ja eine Konservative. Darauf setzt auch Sandra mit der simplen
Rechnung: "Wenn Konservative gegen den Lehrplan sind, muss dieser ja
progressiv sein!"
Natürlich
wird Regula diese Aktion wiederholen. Allerdings wird sie sich nun vorher
anmelden. Sie ist ja ein wesentlich höflicherer Mensch, als wir damals waren!
*Namen geändert
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