24. Juli 2015

St. Gallen "im vorderen Drittel"

Am 1. August wird Rolf Rimensberger, Leiter des Amts für Volksschule St. Gallen, in den Ruhestand. In seine Amtszeit fielen Englisch in der Primarschule oder die Blockzeiten.



20 Jahre Sekundarlehrer, dann 23 Jahre beim Amt für Volksschule: Rolf Rimensberger. Bild: Michel Canonica

"Noch immer Kreide an den Händen", St. Galler Tagblatt, 24.7. von Christoph Zweili


Herr Rimensberger, welche Erfahrungen haben Ihre Kinder mit der Volksschule und ihren Lehrern gemacht?
Rolf Rimensberger: Wohl unterschiedliche: Meine drei Kinder deckten ein grosses Spektrum ab – sie waren folgsam-willig, aufgeweckt, ideenreich und kreativ. Diese Kreativität konnte die Schule nicht immer abholen. Die Lehrer hatten damals lieber die angepassten Schüler.
Und Sie?
Rimensberger: Ich hatte als Sekundarlehrer jene Schüler am liebsten, die mit ihren Ideen Leben in die Schulstube gebracht haben.
Sie waren zuerst 20 Jahre Sekundarlehrer, dann 23 Jahre beim Amt für Volksschule. Haben Sie das nicht als Bruch weg von der Praxis empfunden?
Rimensberger: Für mich war es das nicht. Ich habe immer noch das Gefühl, ich hätte Kreide an den Händen. Ich bin kein Verwalter.
Ihr Nachfolger Alexander Kummer tritt sein Amt per 1. August an. Er hat Staatswissenschaften mit Vertiefungsgebiet internationale Beziehungen studiert. Man könnte ihm also den Diplomaten andichten. Wie haben Sie Ihre Rolle verstanden?
Rimensberger: Ich sah mich als Vermittler, der stets den Konsens suchte, aber auch sehr beharrlich sein konnte.
Welche Note also geben Sie sich am Schluss Ihrer beruflichen Karriere?
Rimensberger: Das überlasse ich gerne andern. Ich fühle mich respektiert und spüre eine grosse Akzeptanz gegenüber dem Amt. Dieses ist eines der am breitesten angelegten im Kanton mit derzeit 3500 Stellenprozenten, rund 46 Mitarbeitenden und unterschiedlichsten Themen. Das geht vom Führen eines Lehrmittelverlags über Sonderpädagogik und Schulaufsicht bis zum Kernthema Schulentwicklung und Unterricht.
Der Kanton St.Gallen ist ein Ringkanton, was bei Sachvorlagen oft zu regionalen Animositäten führt. Wie homogen ist die Schullandschaft?
Rimensberger: Da gibt es keine regionalen Unterschiede, sehr wohl aber unterschiedliche Kulturen in den Schulen – das ist sehr personenabhängig.
Der Kanton Zürich gefiel sich früher in der Rolle des Bildungsreformers. St.Gallen war da weitaus zurückhaltender. Ist das heute noch so?
Rimensberger: Nein. Der Kanton St. Gallen lag bei der Schulentwicklung schon immer weit vorne. Er ist heute noch in vielem vorbildlich: Bei der Beurteilung der Schüler, aber auch bei Lehrplan, Lehrmittel, Sprachen oder den Lern- und Testsystemen, die in der ganzen Deutschschweiz übernommen wurden.
Wo sehen Sie die herausragendste Neuerung der letzten Jahre?
Rimensberger: Es ist die Summe, die es ausmacht. Die Schule muss sich den Herausforderungen der Gesellschaft stellen. Dafür braucht es keine Revolution – es braucht die Evolution, die permanente Weiterentwicklung.
Nicht alle Lehrer haben jeweils das Gefühl, dass diese Neuerungen dazu beitragen, die Alltagsprobleme besser zu meistern.
Rimensberger: Dieses Phänomen ist überall zu beobachten: Die einen freuen sich über die Veränderungen, die anderen wettern, weil das Lehrmittel schon wieder wechselt. Wir machen die Schule für die Kinder – vor allem sie sollen von diesen Veränderungen profitieren. Die Lehrer brauchen gute Bedingungen, um ihren Auftrag zu erfüllen
Wo steht die Volksschule im Kanton St.Gallen im nationalen Vergleich?
Rimensberger: Wir sind gut unterwegs – im vorderen Drittel. Es gibt wenig Grabenkämpfe, dafür eine Tradition der Zusammenarbeit. Das kennen andere Kantone so nicht.
Mit Pisa ist der Schulunterricht messbar geworden. Der Kanton St.Gallen schneidet jeweils gut ab, hat aber ein Problem mit der Chancengleichheit und selektioniert zu stark. Teilen Sie diese Auffassung?
Rimensberger: Ja, absolut. Das ist ein Thema, das uns auch weiter beschäftigen wird. Bei der durchlässigen Oberstufe zum Beispiel sind wir weniger weit als der Thurgau: Das ist eine Baustelle.
Der Kanton St.Gallen setzt den Lehrplan 21 bereits ab 2017 um. Das gefällt nicht allen.
Rimensberger: Dieser Fahrplan ist realistisch. Es gibt keinen Grund zuzuwarten – in der Ostschweiz sind die Lektionenzahlen genügend hoch, um die Ziele und Kompetenzen im Lehrplan 21 zu erfüllen. Andere Kantone wie Bern und Aargau haben da grössere Probleme.
Heinz Herzog, Schulratspräsident und Vizepräsident des Lehrplan-21-Gegnervereins Starke Volksschule, ist zurückgetreten, weil er diese Schulreform nicht verantworten kann. War er ihr grösster Gegner?
Rimensberger: Herzog ist für mich kein Gegner, das Wort mag ich nicht. Er hat etwas vertreten, was ich nicht teilen konnte.
Die Schulklassen sind heute bunter zusammengesetzt. Diese kulturelle Vielfalt bereichert zwar den Schulalltag, macht den Unterricht aber schwieriger.
Rimensberger: Diese Heterogenität ist die Herausforderung für die Schule schlechthin. Wir müssen uns vom Bild verabschieden, dass die ganze Klasse stets am gleichen Punkt ist.
Eine andere Herausforderung ist das klassische Familienbild, das kaum mehr der Realität entspricht. Wo und wie bekommt das die Schule zu spüren?
Rimensberger: Das Thema Tagesschule steht zurzeit nicht im Vordergrund. Es braucht aber Angebote für Elternteile, die beide arbeiten. Hier gibt es ausser dem Mittagstisch keine flächendeckenden Angebote. Verändert hat sich das Verhältnis Schule-Eltern. Die Eltern fordern mehr von der Schule ein als früher.
Eine andere Herausforderung ist das Internet: Im Unterricht von Informatik und Neuen Medien gehört der Kanton St.Gallen zu den Pionieren in der Schweiz.
Rimensberger: Das erste Konzept von 2001 habe ich mitentwickelt – es hat immer noch Bestand. Dafür gibt es heute eine Fachstelle im Amt.
Im Kanton St.Gallen wurde ein neuer Berufsauftrag definiert, der nach den Sommerferien in Kraft tritt. Worin besteht die wesentlichste Änderung?
Rimensberger: Innovativ daran ist, dass die Anstellung von Lehrpersonen neu nicht mehr über Lektionen, sondern über Stellenprozente erfolgt. Bis jetzt war eine Lehrperson angestellt für 28 Lektionen und zwei Lektionen zusätzliche Präsenzzeit. Neu ist sie dafür zu 100 Prozent angestellt. Sie kann flexibel eingesetzt werden, unter Umständen also weniger unterrichten und dafür für zusätzliche Arbeiten für die Schule eingesetzt werden.
Noch nicht angesprochen ist das Thema der Schulaufsicht. Hier gibt es einen Paradigmenwechsel?
Rimensberger: Da stecken wir noch mittendrin. Früher hat der Kanton die Schule mitfinanziert, heute werden die Lehrpersonen von den Gemeinden bezahlt und der Kanton gibt die Rahmenbedingungen vor und überprüft im Rahmen der neuen Schulaufsicht, ob diese erfüllt werden. Es werden keine Details mehr vorgegeben, sondern Qualitätsstandards. Der Erziehungsrat ist verantwortlich für eine gute Schule.


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