20 Jahre Sekundarlehrer, dann 23 Jahre beim Amt für Volksschule: Rolf Rimensberger. Bild: Michel Canonica
"Noch immer Kreide an den Händen", St. Galler Tagblatt, 24.7. von Christoph Zweili
Herr Rimensberger, welche
Erfahrungen haben Ihre Kinder mit der Volksschule und ihren Lehrern gemacht?
Rolf Rimensberger: Wohl
unterschiedliche: Meine drei Kinder deckten ein grosses Spektrum ab – sie waren
folgsam-willig, aufgeweckt, ideenreich und kreativ. Diese Kreativität konnte
die Schule nicht immer abholen. Die Lehrer hatten damals lieber die angepassten
Schüler.
Und Sie?
Rimensberger: Ich hatte
als Sekundarlehrer jene Schüler am liebsten, die mit ihren Ideen Leben in die
Schulstube gebracht haben.
Sie waren zuerst 20 Jahre Sekundarlehrer, dann 23 Jahre beim Amt
für Volksschule. Haben Sie das nicht als Bruch weg von der Praxis empfunden?
Rimensberger: Für mich war
es das nicht. Ich habe immer noch das Gefühl, ich hätte Kreide an den Händen.
Ich bin kein Verwalter.
Ihr Nachfolger Alexander Kummer tritt sein Amt per 1. August an.
Er hat Staatswissenschaften mit Vertiefungsgebiet internationale Beziehungen
studiert. Man könnte ihm also den Diplomaten andichten. Wie haben Sie Ihre
Rolle verstanden?
Rimensberger: Ich sah mich
als Vermittler, der stets den Konsens suchte, aber auch sehr beharrlich sein
konnte.
Welche Note also geben Sie sich am Schluss Ihrer beruflichen
Karriere?
Rimensberger: Das
überlasse ich gerne andern. Ich fühle mich respektiert und spüre eine grosse
Akzeptanz gegenüber dem Amt. Dieses ist eines der am breitesten angelegten im
Kanton mit derzeit 3500 Stellenprozenten, rund 46 Mitarbeitenden und
unterschiedlichsten Themen. Das geht vom Führen eines Lehrmittelverlags über
Sonderpädagogik und Schulaufsicht bis zum Kernthema Schulentwicklung und
Unterricht.
Der Kanton St.Gallen ist ein Ringkanton, was bei Sachvorlagen oft
zu regionalen Animositäten führt. Wie homogen ist die Schullandschaft?
Rimensberger: Da gibt es
keine regionalen Unterschiede, sehr wohl aber unterschiedliche Kulturen in den
Schulen – das ist sehr personenabhängig.
Der Kanton Zürich gefiel sich früher in der Rolle des
Bildungsreformers. St.Gallen war da weitaus zurückhaltender. Ist das heute noch
so?
Rimensberger: Nein. Der
Kanton St. Gallen lag bei der Schulentwicklung schon immer weit vorne. Er ist
heute noch in vielem vorbildlich: Bei der Beurteilung der Schüler, aber auch
bei Lehrplan, Lehrmittel, Sprachen oder den Lern- und Testsystemen, die in der
ganzen Deutschschweiz übernommen wurden.
Wo sehen Sie die herausragendste Neuerung der letzten Jahre?
Rimensberger: Es ist die
Summe, die es ausmacht. Die Schule muss sich den Herausforderungen der
Gesellschaft stellen. Dafür braucht es keine Revolution – es braucht die
Evolution, die permanente Weiterentwicklung.
Nicht alle Lehrer haben jeweils das Gefühl, dass diese Neuerungen
dazu beitragen, die Alltagsprobleme besser zu meistern.
Rimensberger: Dieses
Phänomen ist überall zu beobachten: Die einen freuen sich über die
Veränderungen, die anderen wettern, weil das Lehrmittel schon wieder wechselt.
Wir machen die Schule für die Kinder – vor allem sie sollen von diesen
Veränderungen profitieren. Die Lehrer brauchen gute Bedingungen, um ihren
Auftrag zu erfüllen
Wo steht die Volksschule im Kanton St.Gallen im nationalen
Vergleich?
Rimensberger: Wir sind gut
unterwegs – im vorderen Drittel. Es gibt wenig Grabenkämpfe, dafür eine
Tradition der Zusammenarbeit. Das kennen andere Kantone so nicht.
Mit Pisa ist der Schulunterricht messbar geworden. Der Kanton
St.Gallen schneidet jeweils gut ab, hat aber ein Problem mit der
Chancengleichheit und selektioniert zu stark. Teilen Sie diese Auffassung?
Rimensberger: Ja, absolut.
Das ist ein Thema, das uns auch weiter beschäftigen wird. Bei der durchlässigen
Oberstufe zum Beispiel sind wir weniger weit als der Thurgau: Das ist eine
Baustelle.
Der Kanton St.Gallen setzt den Lehrplan 21 bereits ab 2017 um. Das
gefällt nicht allen.
Rimensberger: Dieser
Fahrplan ist realistisch. Es gibt keinen Grund zuzuwarten – in der Ostschweiz
sind die Lektionenzahlen genügend hoch, um die Ziele und Kompetenzen im Lehrplan
21 zu erfüllen. Andere Kantone wie Bern und Aargau haben da grössere Probleme.
Heinz Herzog, Schulratspräsident und Vizepräsident des
Lehrplan-21-Gegnervereins Starke Volksschule, ist zurückgetreten, weil er diese
Schulreform nicht verantworten kann. War er ihr grösster Gegner?
Rimensberger: Herzog ist
für mich kein Gegner, das Wort mag ich nicht. Er hat etwas vertreten, was ich
nicht teilen konnte.
Die Schulklassen sind heute bunter zusammengesetzt. Diese
kulturelle Vielfalt bereichert zwar den Schulalltag, macht den Unterricht aber
schwieriger.
Rimensberger: Diese
Heterogenität ist die Herausforderung für die Schule schlechthin. Wir müssen
uns vom Bild verabschieden, dass die ganze Klasse stets am gleichen Punkt ist.
Eine andere Herausforderung ist das klassische Familienbild, das
kaum mehr der Realität entspricht. Wo und wie bekommt das die Schule zu spüren?
Rimensberger: Das Thema
Tagesschule steht zurzeit nicht im Vordergrund. Es braucht aber Angebote für
Elternteile, die beide arbeiten. Hier gibt es ausser dem Mittagstisch keine
flächendeckenden Angebote. Verändert hat sich das Verhältnis Schule-Eltern. Die
Eltern fordern mehr von der Schule ein als früher.
Eine andere Herausforderung ist das Internet: Im Unterricht von
Informatik und Neuen Medien gehört der Kanton St.Gallen zu den Pionieren in der
Schweiz.
Rimensberger: Das erste
Konzept von 2001 habe ich mitentwickelt – es hat immer noch Bestand. Dafür gibt
es heute eine Fachstelle im Amt.
Im Kanton St.Gallen wurde ein neuer Berufsauftrag definiert, der
nach den Sommerferien in Kraft tritt. Worin besteht die wesentlichste Änderung?
Rimensberger: Innovativ
daran ist, dass die Anstellung von Lehrpersonen neu nicht mehr über Lektionen,
sondern über Stellenprozente erfolgt. Bis jetzt war eine Lehrperson angestellt
für 28 Lektionen und zwei Lektionen zusätzliche Präsenzzeit. Neu ist sie dafür
zu 100 Prozent angestellt. Sie kann flexibel eingesetzt werden, unter Umständen
also weniger unterrichten und dafür für zusätzliche Arbeiten für die Schule
eingesetzt werden.
Noch nicht angesprochen ist das Thema der Schulaufsicht. Hier gibt
es einen Paradigmenwechsel?
Rimensberger: Da stecken
wir noch mittendrin. Früher hat der Kanton die Schule mitfinanziert, heute
werden die Lehrpersonen von den Gemeinden bezahlt und der Kanton gibt die
Rahmenbedingungen vor und überprüft im Rahmen der neuen Schulaufsicht, ob diese
erfüllt werden. Es werden keine Details mehr vorgegeben, sondern
Qualitätsstandards. Der Erziehungsrat ist verantwortlich für eine gute Schule.
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