Braucht die Frühförderung Nachhilfe? NZZ, 25.6. von Natalie Avanzino
Auf der Agenda der Zürcher Bildungspolitikerinnen
und -politiker steht die Frühförderung ganz oben. Auch für den neuen
Präsidenten der kantonsrätlichen Bildungskommission, Moritz Spillmann (sp.),
ist das Engagement im Vorschulalter ein Schwerpunktthema, das forciert werden
muss.
Der Eintritt in den (zur obligatorischen Schulzeit
gehörenden zweijährigen) Kindergarten ist ein einschneidender Übergang für die
Vier- bis Fünfjährigen; in diesen Wochen sind die Zuteilungen für die
Schulhäuser verschickt worden. Für die Kinder beginnt im August ein neuer
Lebensabschnitt, und sie treten diesen mit den unterschiedlichsten
Voraussetzungen an. Manche Mädchen und Knaben erfüllen bereits beim Eintritt
einen grossen Teil der Lernziele des Kindergartens, etwa von 1 bis 20 zählen,
oder sie besitzen sogar erste Lese- und Schreibfertigkeiten. Andere sind auf
dem kognitiven Stand von Dreijährigen oder hatten kaum Kontakte zu
Gleichaltrigen. «Je nach sozialer und kultureller Herkunft bestehen enorme
Unterschiede. Und sie werden stetig grösser», sagt Andrea Lanfranchi, Professor
an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik Zürich.
Der Kinderpsychologe leitet das
Nationalfondsprojekt Zeppelin, das rund 120 Familien in Risikosituationen bei
der frühkindlichen Förderung unterstützt (NZZ, 31. 12. 14). Die Resultate der
Studie legen nahe, dass eine präventive Intervention die Entwicklung positiv
beeinflusst. Die seit 2011 begleiteten Kinder weisen eine höhere Kompetenz in
Sprache, Kognition und sozialen Fähigkeiten auf als Knaben und Mädchen aus
einer Kontrollgruppe ohne Fördermassnahmen.
Die Studie beschäftigt deshalb auch den Kantonsrat:
Eine parlamentarische Initiative der SP fordert eine Ausdehnung von Zeppelin
oder einem vergleichbaren Projekt auf den ganzen Kanton. Geschätzte 1000 belastete
Familien sollen mit regelmässigen Hausbesuchen befähigt werden, ein
entwicklungsförderndes Umfeld für ihren Nachwuchs zu schaffen. Die jährlichen
Kosten in der Höhe von sechs Millionen Franken sollen zu zwei Dritteln vom
Kanton und zu einem Drittel von den Gemeinden getragen werden.
Eine weitere parlamentarische Initiative der
Sozialdemokraten verlangt, dass der Kindergarten mit ausreichenden
Deutschkenntnissen angetreten werden muss. Um dies durchzusetzen, nötigenfalls
mit einem Obligatorium wie in Basel-Stadt, sollen die Kinder während eines
Jahres an zwei halben Tagen pro Woche eine Einrichtung mit integrierter
Sprachförderung besuchen. Auch eine Motion der FDP will, dass Kinder beim
Eintritt in den Kindergarten bereits über einen Wortschatz in Deutsch verfügen
müssen.
Ausserdem ist ein Vorstoss in der Kommission für
Bildung und Kultur pendent, der eine Abschaffung der
Kleinkinderbetreuungsbeiträge fordert. Diese solle von einem Ausbau der frühen
Förderung begleitet werden, verlangt etwa die Jugendhilfekommission.
Aktionismus statt Nachhaltiges
In der Stadt Zürich ist das Thema Frühförderung
seit 2010 ein Legislaturschwerpunkt. Stadtrat Gerold Lauber (cvp.), Vorsteher
des Schul- und Sportdepartements, möchte Kindern aus benachteiligten Familien
gute Startbedingungen ermöglichen und arbeitet dabei mit dem Sozialdepartement
und dem Gesundheits- und Umweltdepartement zusammen. Geografisch wird auf das
Gebiet Zürich Nord fokussiert; vor allem Schwamendingen gilt als sozialer
Brennpunkt. So wurde beispielsweise die Mütter- und Väterberatung verstärkt auf
Frühförderung ausgerichtet und dahin ausgebaut, dass sie Eltern beim Suchen
eines Krippenplatzes oder einer Spielgruppe behilflich sein kann. Ferner habe
das Beratungsangebot für benachteiligte Familien verbessert werden können, sagt
Regina Kesselring, Kommunikationsleiterin beim Schulamt der Stadt Zürich.
Schaut man sich im Kanton um, was im Bereich
vorschulischer Förderungsmassnahmen getan wird, sind vielfältige Bemühungen zu
finden. Gemeinden verschicken Broschüren in diversen Sprachen, führen
Informationsveranstaltungen für Eltern durch, und teilweise werden mehrwöchige
Kurse für bildungsferne Familien angeboten. Unter der Ägide von Regine Aeppli
realisierte die kantonale Bildungsdirektion (mit Unterstützung des
Marie-Meierhofer-Instituts für das Kind) das Projekt «Lerngelegenheiten für
Kinder bis vier»: 40 Kurzfilme in 13 Sprachen zu frühkindlichem Lernen im
Alltag.
Dies klingt alles vielversprechend, und doch steht
es um die Voraussetzungen mancher neu eingeschulter Kinder schlecht. So gibt es
Schulhäuser, in denen 30 Prozent der eintretenden Kindergartenkinder kein
Deutsch können. Allerdings sind nicht nur mangelnde Sprachkenntnisse ein
Handicap. «Ein Teil der Kinder kann sich kaum in eine Gruppe integrieren, sich
konzentrieren oder bei einem Spiel verweilen. Viele bringen gravierende
motorische Defizite mit», sagt Lanfranchi und meint damit nicht nur Mädchen und
Knaben aus Familien in Risikosituationen. Es drängt sich die Frage auf, ob die
bisherigen vorschulischen Förderungsmassnahmen zu wenig greifen.
«Teilweise herrscht vor allem Aktionismus, und es
wird wenig nachhaltig gedacht, wenn es um Frühförderung geht», so Lanfranchis
Einschätzung. Und er kritisiert: «Eine Informationsveranstaltung durchführen oder
einen Film realisieren kann nützlich sein, das ist aber noch keine langfristig
wirksame Frühförderung.» Die grösste Herausforderung sei die Erreichbarkeit der
Familien, die am allermeisten auf Unterstützung im Bereich frühkindlicher
Bildung angewiesen sind. Mit Broschüren und Beratungsstellen befähige man diese
nicht. 10 bis 15 Prozent der Kinder würden heute aus geschwächten
Familienstrukturen kommen, meint er warnend. Dies heisse, dass sie tendenziell
von den Anforderungen, die von der Schule an sie gestellt werden, überfordert
seien. Den Hebel sieht Lanfranchi dabei klar bei den Eltern: «Es gibt diverse
Faktoren, die das Leben eines Erwachsenen so beeinflussen, dass das Elternsein
beeinträchtigt wird. Dies sind nicht nur Migration, sondern auch Sucht, Arbeitslosigkeit,
Krankheit oder prekäre Wohnverhältnisse.»
Fragt man näher an der Schulbasis, hört man
Ähnliches: Katrin Wüthrich, Schulpräsidentin im Stadtzürcher Schulkreis
Limmattal, betont, wie schwierig es sei, alle Familien zu erreichen. Viele
Schulen versuchen, vor dem Kindergarteneintritt mit Hilfe von kulturellen
Übersetzern an die Eltern zu gelangen. Wüthrichs Schulkreis, der die Quartiere
Aussersihl, Hard, Industrie und Sihlfeld umfasst, hat auf dem Stadtgebiet mit
denjenigen von Zürich Nord den höchsten Anteil an fremdsprachigen Kindern. Von
den 402 im kommenden August in den Kindergarten eintretenden Mädchen und Knaben
sprechen (laut Angaben der Eltern) 49 überhaupt kein Deutsch. «Auch wenn wir
bemüht sind, die Kinder ausgewogen zuzuteilen, bei einzelnen Schulhäusern
akzentuiert sich dies trotzdem», sagt Wüthrich. So gebe es Klassen, in welchen
jedes vierte Kind kein Deutsch spreche.
In vielen Stadtzürcher Quartieren werden die
Familien rund 18 Monate vor Kindergarteneintritt zu einer Informationsveranstaltung
eingeladen und aufgefordert, einen Fragebogen, unter anderem zu den
Sprachkenntnissen, auszufüllen. In Schwamendingen sind die Ergebnisse
erdrückend: Dieses Jahr haben fast 30 Prozent der befragten Eltern angegeben,
dass ihr Kind «monolingual fremdsprachig» sei, sagt Barbara Fotsch,
Schulpräsidentin des Schulkreises. Schwamendingen nimmt bezüglich
Fremdsprachigkeit seit Jahren den Spitzenplatz im Kanton ein.
Schulamt wiegelt ab
Beim Schulamt der Stadt Zürich wiegelt man aber ob
der alarmierenden Zahlen ab. Von den auf dem Stadtgebiet rund 6500 Mädchen und
Knaben im Kindergartenalter sei zwar Deutsch bei zirka 2500 Kindern nicht die
Erstsprache, dies lasse aber noch keine Rückschlüsse auf konkrete
Sprachkenntnisse zu, betont Kesselring vom Schulamt und will im Gegensatz zu
Lanfranchi auch keine gravierende Verschlechterung der Voraussetzungen der neu
eingeschulten Kinder sehen. Die Stadt plane entsprechend keine neuen
Massnahmen.
Ob mit Silvia Steiners (cvp.) Ernennung zur
Bildungsdirektorin im Bereich Frühförderung die Weichen auf Kantonsebene anders
gestellt werden, ist noch offen. Matthias Baer, Kommunikationschef der
Bildungsdirektion, wollte sich auf Anfrage nicht zum Thema äussern. Die
Bildungsdirektion werde Ende Jahr Stellung beziehen.
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