25. Juni 2015

Aktionismus statt Nachhaltiges in der Frühförderung

Neu eingeschulte Kinder bringen unterschiedlichste Voraussetzungen mit. Vielerorts werden Defizite mit vorschulischen Fördermassnahmen angegangen. Trotzdem gibt es Kindergärten, in denen jedes dritte Kind kein Deutsch spricht.
Braucht die Frühförderung Nachhilfe? NZZ, 25.6. von Natalie Avanzino


Auf der Agenda der Zürcher Bildungspolitikerinnen und -politiker steht die Frühförderung ganz oben. Auch für den neuen Präsidenten der kantonsrätlichen Bildungskommission, Moritz Spillmann (sp.), ist das Engagement im Vorschulalter ein Schwerpunktthema, das forciert werden muss.
Der Eintritt in den (zur obligatorischen Schulzeit gehörenden zweijährigen) Kindergarten ist ein einschneidender Übergang für die Vier- bis Fünfjährigen; in diesen Wochen sind die Zuteilungen für die Schulhäuser verschickt worden. Für die Kinder beginnt im August ein neuer Lebensabschnitt, und sie treten diesen mit den unterschiedlichsten Voraussetzungen an. Manche Mädchen und Knaben erfüllen bereits beim Eintritt einen grossen Teil der Lernziele des Kindergartens, etwa von 1 bis 20 zählen, oder sie besitzen sogar erste Lese- und Schreibfertigkeiten. Andere sind auf dem kognitiven Stand von Dreijährigen oder hatten kaum Kontakte zu Gleichaltrigen. «Je nach sozialer und kultureller Herkunft bestehen enorme Unterschiede. Und sie werden stetig grösser», sagt Andrea Lanfranchi, Professor an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik Zürich.
Der Kinderpsychologe leitet das Nationalfondsprojekt Zeppelin, das rund 120 Familien in Risikosituationen bei der frühkindlichen Förderung unterstützt (NZZ, 31. 12. 14). Die Resultate der Studie legen nahe, dass eine präventive Intervention die Entwicklung positiv beeinflusst. Die seit 2011 begleiteten Kinder weisen eine höhere Kompetenz in Sprache, Kognition und sozialen Fähigkeiten auf als Knaben und Mädchen aus einer Kontrollgruppe ohne Fördermassnahmen.
Die Studie beschäftigt deshalb auch den Kantonsrat: Eine parlamentarische Initiative der SP fordert eine Ausdehnung von Zeppelin oder einem vergleichbaren Projekt auf den ganzen Kanton. Geschätzte 1000 belastete Familien sollen mit regelmässigen Hausbesuchen befähigt werden, ein entwicklungsförderndes Umfeld für ihren Nachwuchs zu schaffen. Die jährlichen Kosten in der Höhe von sechs Millionen Franken sollen zu zwei Dritteln vom Kanton und zu einem Drittel von den Gemeinden getragen werden.
Eine weitere parlamentarische Initiative der Sozialdemokraten verlangt, dass der Kindergarten mit ausreichenden Deutschkenntnissen angetreten werden muss. Um dies durchzusetzen, nötigenfalls mit einem Obligatorium wie in Basel-Stadt, sollen die Kinder während eines Jahres an zwei halben Tagen pro Woche eine Einrichtung mit integrierter Sprachförderung besuchen. Auch eine Motion der FDP will, dass Kinder beim Eintritt in den Kindergarten bereits über einen Wortschatz in Deutsch verfügen müssen.
Ausserdem ist ein Vorstoss in der Kommission für Bildung und Kultur pendent, der eine Abschaffung der Kleinkinderbetreuungsbeiträge fordert. Diese solle von einem Ausbau der frühen Förderung begleitet werden, verlangt etwa die Jugendhilfekommission.

Aktionismus statt Nachhaltiges
In der Stadt Zürich ist das Thema Frühförderung seit 2010 ein Legislaturschwerpunkt. Stadtrat Gerold Lauber (cvp.), Vorsteher des Schul- und Sportdepartements, möchte Kindern aus benachteiligten Familien gute Startbedingungen ermöglichen und arbeitet dabei mit dem Sozialdepartement und dem Gesundheits- und Umweltdepartement zusammen. Geografisch wird auf das Gebiet Zürich Nord fokussiert; vor allem Schwamendingen gilt als sozialer Brennpunkt. So wurde beispielsweise die Mütter- und Väterberatung verstärkt auf Frühförderung ausgerichtet und dahin ausgebaut, dass sie Eltern beim Suchen eines Krippenplatzes oder einer Spielgruppe behilflich sein kann. Ferner habe das Beratungsangebot für benachteiligte Familien verbessert werden können, sagt Regina Kesselring, Kommunikationsleiterin beim Schulamt der Stadt Zürich.
Schaut man sich im Kanton um, was im Bereich vorschulischer Förderungsmassnahmen getan wird, sind vielfältige Bemühungen zu finden. Gemeinden verschicken Broschüren in diversen Sprachen, führen Informationsveranstaltungen für Eltern durch, und teilweise werden mehrwöchige Kurse für bildungsferne Familien angeboten. Unter der Ägide von Regine Aeppli realisierte die kantonale Bildungsdirektion (mit Unterstützung des Marie-Meierhofer-Instituts für das Kind) das Projekt «Lerngelegenheiten für Kinder bis vier»: 40 Kurzfilme in 13 Sprachen zu frühkindlichem Lernen im Alltag.
Dies klingt alles vielversprechend, und doch steht es um die Voraussetzungen mancher neu eingeschulter Kinder schlecht. So gibt es Schulhäuser, in denen 30 Prozent der eintretenden Kindergartenkinder kein Deutsch können. Allerdings sind nicht nur mangelnde Sprachkenntnisse ein Handicap. «Ein Teil der Kinder kann sich kaum in eine Gruppe integrieren, sich konzentrieren oder bei einem Spiel verweilen. Viele bringen gravierende motorische Defizite mit», sagt Lanfranchi und meint damit nicht nur Mädchen und Knaben aus Familien in Risikosituationen. Es drängt sich die Frage auf, ob die bisherigen vorschulischen Förderungsmassnahmen zu wenig greifen.
«Teilweise herrscht vor allem Aktionismus, und es wird wenig nachhaltig gedacht, wenn es um Frühförderung geht», so Lanfranchis Einschätzung. Und er kritisiert: «Eine Informationsveranstaltung durchführen oder einen Film realisieren kann nützlich sein, das ist aber noch keine langfristig wirksame Frühförderung.» Die grösste Herausforderung sei die Erreichbarkeit der Familien, die am allermeisten auf Unterstützung im Bereich frühkindlicher Bildung angewiesen sind. Mit Broschüren und Beratungsstellen befähige man diese nicht. 10 bis 15 Prozent der Kinder würden heute aus geschwächten Familienstrukturen kommen, meint er warnend. Dies heisse, dass sie tendenziell von den Anforderungen, die von der Schule an sie gestellt werden, überfordert seien. Den Hebel sieht Lanfranchi dabei klar bei den Eltern: «Es gibt diverse Faktoren, die das Leben eines Erwachsenen so beeinflussen, dass das Elternsein beeinträchtigt wird. Dies sind nicht nur Migration, sondern auch Sucht, Arbeitslosigkeit, Krankheit oder prekäre Wohnverhältnisse.»
Fragt man näher an der Schulbasis, hört man Ähnliches: Katrin Wüthrich, Schulpräsidentin im Stadtzürcher Schulkreis Limmattal, betont, wie schwierig es sei, alle Familien zu erreichen. Viele Schulen versuchen, vor dem Kindergarteneintritt mit Hilfe von kulturellen Übersetzern an die Eltern zu gelangen. Wüthrichs Schulkreis, der die Quartiere Aussersihl, Hard, Industrie und Sihlfeld umfasst, hat auf dem Stadtgebiet mit denjenigen von Zürich Nord den höchsten Anteil an fremdsprachigen Kindern. Von den 402 im kommenden August in den Kindergarten eintretenden Mädchen und Knaben sprechen (laut Angaben der Eltern) 49 überhaupt kein Deutsch. «Auch wenn wir bemüht sind, die Kinder ausgewogen zuzuteilen, bei einzelnen Schulhäusern akzentuiert sich dies trotzdem», sagt Wüthrich. So gebe es Klassen, in welchen jedes vierte Kind kein Deutsch spreche.
In vielen Stadtzürcher Quartieren werden die Familien rund 18 Monate vor Kindergarteneintritt zu einer Informationsveranstaltung eingeladen und aufgefordert, einen Fragebogen, unter anderem zu den Sprachkenntnissen, auszufüllen. In Schwamendingen sind die Ergebnisse erdrückend: Dieses Jahr haben fast 30 Prozent der befragten Eltern angegeben, dass ihr Kind «monolingual fremdsprachig» sei, sagt Barbara Fotsch, Schulpräsidentin des Schulkreises. Schwamendingen nimmt bezüglich Fremdsprachigkeit seit Jahren den Spitzenplatz im Kanton ein.

Schulamt wiegelt ab
Beim Schulamt der Stadt Zürich wiegelt man aber ob der alarmierenden Zahlen ab. Von den auf dem Stadtgebiet rund 6500 Mädchen und Knaben im Kindergartenalter sei zwar Deutsch bei zirka 2500 Kindern nicht die Erstsprache, dies lasse aber noch keine Rückschlüsse auf konkrete Sprachkenntnisse zu, betont Kesselring vom Schulamt und will im Gegensatz zu Lanfranchi auch keine gravierende Verschlechterung der Voraussetzungen der neu eingeschulten Kinder sehen. Die Stadt plane entsprechend keine neuen Massnahmen.

Ob mit Silvia Steiners (cvp.) Ernennung zur Bildungsdirektorin im Bereich Frühförderung die Weichen auf Kantonsebene anders gestellt werden, ist noch offen. Matthias Baer, Kommunikationschef der Bildungsdirektion, wollte sich auf Anfrage nicht zum Thema äussern. Die Bildungsdirektion werde Ende Jahr Stellung beziehen.

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