29. Mai 2015

Welche Bildung wir morgen brauchen

Das Bildungswesen steht wegen beschleunigter technischer Entwicklungen vor grossen Umwälzungen. Es geht um mehr als um die Nutzung der neuen Technologien in der Wissensvermittlung - es geht um ein neues Verständnis von Bildung, Aus- und Weiterbildung.
Kommentar: Welche Bildung wir morgen brauchen, NZZ, 29.5. von Hanna Muralt Müller


Was sich heute in den Informations- und Kommunikationstechnologien abspielt, bezeichnen namhafte Wissenschafter als dritten Leitmedienwechsel. Wir stehen erst am Anfang dieser Entwicklung, und schon zeichnet sich ab, dass die Digitalisierung nicht nur Information und Kommunikation, sondern mit dem Internet der Dinge auch die physische Welt verändert. Es kündigt sich die vierte industrielle Revolution an: Nach der Erfindung der Dampfkraft, der Elektrizität und der automatisierten Massenproduktion werden nun bald vernetzte Alltagsgegenstände direkt miteinander kommunizieren und so Produktions- und Wertschöpfungsketten verändern.

Innovative Bildungsprojekte fördern
Was diese Entwicklung für die Allgemeinbildung und für die berufliche Aus- und Weiterbildung bedeutet, lässt sich am Problem des Fachkräftemangels ablesen. Zwar fehlen uns heute zahlreiche Informatikfachkräfte. Trotzdem verloren in jüngster Zeit viele ältere Informatiker ihre Stelle. Die Erklärung für dieses Paradoxon ist einfach. Je stärker ein Berufsfeld beschleunigtem Wandel ausgesetzt ist, umso rascher veraltet erlerntes Wissen und Können. Von Arbeitslosigkeit bedroht sind dann vor allem ältere Fachkräfte, die zwar über grosses Berufswissen, aber nicht unbedingt über das nachgefragte Wissen und Können und nicht über die nötigen Abschlüsse und Diplome verfügen. Was mit den Informatikern geschieht, könnte bald auch anderen Berufsfeldern blühen. Erik Brynjolfsson, Ökonom und IT-Fachmann am renommierten Massachusetts Institute of Technology in Boston sowie Koautor des Buches «The Second Machine Age», sagte in einem Interview, wir müssten das Bildungssystem neu erfinden. Er wie auch zahlreiche andere Wissenschafter gehen davon aus, dass in den nächsten zwanzig Jahren bis zu 50 Prozent der heutigen Arbeitsstellen wegen neuer Produktions- und Vertriebsverfahren verschwinden werden.
Umstritten ist, wie viele neue Stellen zugleich durch die neuen Technologien entstehen. Die EU-Kommission schätzt, dass die Schaffung eines digitalen Binnenmarkts einen Wachstumsschub von 250 Milliarden Euro auslösen könnte. Einig sind sich die Wissenschafter darin, dass die neuen Stellen in Berufsfeldern entstehen, in denen zwischenmenschliche Beziehungen und Kreativität wichtig sind. Diese lassen sich nicht so rasch digitalisieren und roboterisieren. Es ist deshalb Unsinn, die Sozial- und Geisteswissenschaften gegen die technischen Disziplinen auszuspielen. Es gilt die Kreativität in der Kombination zu fördern.
Der Lehrplan 21 mit seiner Fokussierung auf den Erwerb von Kompetenzen und dem Modullehrplan Medien und Informatik zielt dabei in die richtige Richtung. Das Innovationspotenzial im Bereich der obligatorischen Schule ist jedoch noch längst nicht ausgeschöpft. Viele Lehrkräfte testen neue Bildungsmedien erfolgreich aus. Die Beispiele reichen vom Einsatz von 3-D-Druckern in Schulen und von der Entwicklung von Learning-Apps bis hin zum Fremdsprachenerwerb mittels Videokonferenzen zwischen deutsch-, französisch- und italienischsprachigen Klassen. Diese Projekte können nicht von oben verordnet werden, sie müssen in der schweizerischen «Kreativwerkstatt» zuerst ausgetestet und evaluiert werden, bevor sie als Beispiel für andere Lehrkräfte dienen können. Es gilt, innovativen Lehrpersonen und ihren Klassen die nötigen Ressourcen - zeitlich und finanziell - zu verschaffen, die Projekte zu begleiten und zu evaluieren. Das fördert die Kreativität, während umgekehrt zu grosse Regelungsdichte und zu hoher Reformdruck diese ersticken. Besonders gefordert sind die Sekundarstufe II, der Tertiärbereich und die Weiterbildung. Auch hier gibt es zahlreiche Pioniere, die neue Bildungsmedien austesten, sei es mit der Neugestaltung von Lernräumen oder dem Einbezug von Videos und Apps im Unterricht. Die ETH Lausanne spielt hier eine Vorreiterrolle auf dem Gebiet der Massive Open Online Courses (MOOC).

Gemeinsame Strategie
Im Weiterbildungsbereich benötigen wir aber dringend neue, flexiblere Angebote für die Nach- und Höherqualifizierung sowie die Umschulung in zukunftsgerichtete Berufsfelder. Nur wenn bisher erworbenes Wissen und Können von den Bildungsinstitutionen angemessen angerechnet wird (gemäss Art. 9 des Bundesgesetzes über die Berufsbildung), kann lebenslanges Lernen zielgerichtet, effizient, zeit- und kostenbewusst erfolgen. Diese innovativen Modelle gibt es, aber sie sind noch wenig verbreitet.
Der Bundesrat verfügt über eine gute Gesamtstrategie für die Informationsgesellschaft. Zudem entstanden Teilstrategien zum Beispiel für E-Government und E-Health. Wieso aber gibt es keine ebensolche Strategie für den Bildungsbereich? Dabei verfügt die Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren über eine ICT-Strategie und ein Bildungsmonitoring, wichtige Koordinationsorgane im Bereich Bildung und ICT wären auch bereits vorhanden. Auch im wirtschaftlichen Bereich gibt es verschiedene Think-Tanks. Was aber fehlt, ist eine gemeinsame Organisationsstruktur zur Förderung der «Kreativwerkstatt Bildung Schweiz», mit einem Organ, das innovativen Projekten Mittel zuspricht, analog zum Beispiel zur Kommission für Technologie und Innovation.
Ich denke nicht, dass wir - wie Erik Brynjolfsson dies fordert - das Bildungswesen neu erfinden müssen. Niemand, schon gar nicht eine zentrale Stelle, kann wissen, welche Bildung, Aus- und Weiterbildung die Lernenden von heute in zehn oder zwanzig Jahren benötigen. Es braucht deshalb viele sorgfältig geplante und evaluierte Pilotprojekte auf allen Stufen im Bildungswesen. Die kollektive Intelligenz, die sich aus dem Informations- und Erfahrungsaustausch ergibt, könnte das Bildungswesen vorwärtsbringen.


Hanna Muralt Müller ist Delegierte für das Netzwerk der Schweizerischen Stiftung für audiovisuelle Bildungsangebote (SSAB) und war Vizekanzlerin von 1991 bis 2005.

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