Kommentar: Welche Bildung wir morgen brauchen, NZZ, 29.5. von Hanna Muralt Müller
Was sich heute in den Informations- und
Kommunikationstechnologien abspielt, bezeichnen namhafte Wissenschafter als dritten
Leitmedienwechsel. Wir stehen erst am Anfang dieser Entwicklung, und schon
zeichnet sich ab, dass die Digitalisierung nicht nur Information und
Kommunikation, sondern mit dem Internet der Dinge auch die physische Welt
verändert. Es kündigt sich die vierte industrielle Revolution an: Nach der
Erfindung der Dampfkraft, der Elektrizität und der automatisierten
Massenproduktion werden nun bald vernetzte Alltagsgegenstände direkt
miteinander kommunizieren und so Produktions- und Wertschöpfungsketten verändern.
Innovative Bildungsprojekte fördern
Was diese Entwicklung für die Allgemeinbildung und
für die berufliche Aus- und Weiterbildung bedeutet, lässt sich am Problem des
Fachkräftemangels ablesen. Zwar fehlen uns heute zahlreiche
Informatikfachkräfte. Trotzdem verloren in jüngster Zeit viele ältere
Informatiker ihre Stelle. Die Erklärung für dieses Paradoxon ist einfach. Je
stärker ein Berufsfeld beschleunigtem Wandel ausgesetzt ist, umso rascher
veraltet erlerntes Wissen und Können. Von Arbeitslosigkeit bedroht sind dann
vor allem ältere Fachkräfte, die zwar über grosses Berufswissen, aber nicht
unbedingt über das nachgefragte Wissen und Können und nicht über die nötigen
Abschlüsse und Diplome verfügen. Was mit den Informatikern geschieht, könnte
bald auch anderen Berufsfeldern blühen. Erik Brynjolfsson, Ökonom und
IT-Fachmann am renommierten Massachusetts Institute of Technology in Boston
sowie Koautor des Buches «The Second Machine Age», sagte in einem Interview,
wir müssten das Bildungssystem neu erfinden. Er wie auch zahlreiche andere
Wissenschafter gehen davon aus, dass in den nächsten zwanzig Jahren bis zu 50
Prozent der heutigen Arbeitsstellen wegen neuer Produktions- und
Vertriebsverfahren verschwinden werden.
Umstritten ist, wie viele neue Stellen zugleich
durch die neuen Technologien entstehen. Die EU-Kommission schätzt, dass die
Schaffung eines digitalen Binnenmarkts einen Wachstumsschub von 250 Milliarden
Euro auslösen könnte. Einig sind sich die Wissenschafter darin, dass die neuen
Stellen in Berufsfeldern entstehen, in denen zwischenmenschliche Beziehungen
und Kreativität wichtig sind. Diese lassen sich nicht so rasch digitalisieren
und roboterisieren. Es ist deshalb Unsinn, die Sozial- und
Geisteswissenschaften gegen die technischen Disziplinen auszuspielen. Es gilt
die Kreativität in der Kombination zu fördern.
Der Lehrplan 21 mit seiner Fokussierung auf den
Erwerb von Kompetenzen und dem Modullehrplan Medien und Informatik zielt dabei
in die richtige Richtung. Das Innovationspotenzial im Bereich der
obligatorischen Schule ist jedoch noch längst nicht ausgeschöpft. Viele
Lehrkräfte testen neue Bildungsmedien erfolgreich aus. Die Beispiele reichen
vom Einsatz von 3-D-Druckern in Schulen und von der Entwicklung von
Learning-Apps bis hin zum Fremdsprachenerwerb mittels Videokonferenzen zwischen
deutsch-, französisch- und italienischsprachigen Klassen. Diese Projekte können
nicht von oben verordnet werden, sie müssen in der schweizerischen
«Kreativwerkstatt» zuerst ausgetestet und evaluiert werden, bevor sie als
Beispiel für andere Lehrkräfte dienen können. Es gilt, innovativen Lehrpersonen
und ihren Klassen die nötigen Ressourcen - zeitlich und finanziell - zu
verschaffen, die Projekte zu begleiten und zu evaluieren. Das fördert die
Kreativität, während umgekehrt zu grosse Regelungsdichte und zu hoher
Reformdruck diese ersticken. Besonders gefordert sind die Sekundarstufe II, der
Tertiärbereich und die Weiterbildung. Auch hier gibt es zahlreiche Pioniere,
die neue Bildungsmedien austesten, sei es mit der Neugestaltung von Lernräumen
oder dem Einbezug von Videos und Apps im Unterricht. Die ETH Lausanne spielt
hier eine Vorreiterrolle auf dem Gebiet der Massive Open Online Courses (MOOC).
Gemeinsame Strategie
Im Weiterbildungsbereich benötigen wir aber dringend
neue, flexiblere Angebote für die Nach- und Höherqualifizierung sowie die
Umschulung in zukunftsgerichtete Berufsfelder. Nur wenn bisher erworbenes
Wissen und Können von den Bildungsinstitutionen angemessen angerechnet wird
(gemäss Art. 9 des Bundesgesetzes über die Berufsbildung), kann lebenslanges
Lernen zielgerichtet, effizient, zeit- und kostenbewusst erfolgen. Diese
innovativen Modelle gibt es, aber sie sind noch wenig verbreitet.
Der Bundesrat verfügt über eine gute
Gesamtstrategie für die Informationsgesellschaft. Zudem entstanden
Teilstrategien zum Beispiel für E-Government und E-Health. Wieso aber gibt es
keine ebensolche Strategie für den Bildungsbereich? Dabei verfügt die
Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren über eine
ICT-Strategie und ein Bildungsmonitoring, wichtige Koordinationsorgane im
Bereich Bildung und ICT wären auch bereits vorhanden. Auch im wirtschaftlichen
Bereich gibt es verschiedene Think-Tanks. Was aber fehlt, ist eine gemeinsame
Organisationsstruktur zur Förderung der «Kreativwerkstatt Bildung Schweiz», mit
einem Organ, das innovativen Projekten Mittel zuspricht, analog zum Beispiel
zur Kommission für Technologie und Innovation.
Ich denke nicht, dass wir - wie Erik Brynjolfsson
dies fordert - das Bildungswesen neu erfinden müssen. Niemand, schon gar nicht
eine zentrale Stelle, kann wissen, welche Bildung, Aus- und Weiterbildung die
Lernenden von heute in zehn oder zwanzig Jahren benötigen. Es braucht deshalb
viele sorgfältig geplante und evaluierte Pilotprojekte auf allen Stufen im
Bildungswesen. Die kollektive Intelligenz, die sich aus dem Informations- und
Erfahrungsaustausch ergibt, könnte das Bildungswesen vorwärtsbringen.
Hanna Muralt Müller ist Delegierte für das Netzwerk der Schweizerischen Stiftung für
audiovisuelle Bildungsangebote (SSAB) und war Vizekanzlerin von 1991 bis 2005.
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