«Klar
nicht!», schnauzt der Junge seine Lehrerin an und grinst. Ihre ultimative
Aufforderung, das Zimmer zu verlassen und sich beim Schulleiter zu melden,
ignoriert er. Sein Verhalten während der Lektion war unmöglich; Arbeitseinsatz:
null, dafür hat er einem Kollegen den Stuhl weggerissen («Nicht meine
Schuld!»), sich während der grossen Pause trotz Verbot mit Sandwichs im Coop
eingedeckt («Sonst verhungere ich!») und während einer Lektion eine spontane Schlafphase
eingelegt («Mega-müde vom Weekend!»). Für Lehrpersonen sind solche Schüler
eine grosse Herausforderung. Sie absorbieren einen grossen Teil der eigenen Energie.
Neben Mahnungen, ernsthaften Gesprächen, der Anvisierung der Eltern,
Klassenversetzungen, Verträgen, Strafen gab es Sitzungen mit dem
Schulsozialarbeiter, Ermahnungen durch den Schulleiter und eine
schulpsychologische Abklärung. Im Einzelkontakt war der Schüler zugänglich und
scheinbar einsichtig. Im Schulbetrieb blieb das Verhalten jedoch unmöglich,
ein Erfolg stellte sich nicht ein. Leider gibt es in fast jeder Klasse solche
Schüler oder Schülerinnen.
Guggenbühl: "Wir sollten uns von der Idee lösen, dass alle Schüler und Schülerinnen zwingend acht, neun oder sogar zehn Schuljahre vollzeitig durchlaufen müssen". Bild: Bazonline
Arbeit statt Schule, Basler Zeitung, 29.5. von Allan Guggenbühl
Schulreformen
haben auch zum Ziel, solche Störungen zu verhindern. Dank Schülerzentrierung
soll bei allen Schülern Neugierde und Lernfreude geweckt werden. Die Lernziele
werden eigenständig und bedürfnisorientiert erarbeitet. Schüler bewegen sich in
Lernlandschaften und orten in Lernateliers ihre Interessen. Das tönt schön, aus
der Sicht vieler Schüler handelt es sich jedoch um einen Rosstäuschertrick.
Mit pädagogischen Inszenierungen und schönen Worten will man verbergen, dass
man sich immer noch in einer Welt bewegt, in der Anpassung und Folgsamkeit
verlangt wird. Dieses wird nicht durch polternde Lehrer eingefordert, sondern
durch unpersönliche Normen, die von hehren Begriffen abgeleitet werden:
Kooperation, Selbstständigkeit, Eigeninteresse, Sozialkompetenz. Der
pädagogische Habitus dominiert, man will die Persönlichkeit der Schüler formen
und verändern. Wie immer: Unproblematische Schüler fügen sich den neuen
Lernformen, Schüler mit einer latenten Renitenz fallen durch.
Es
braucht neue Antworten. Zwei Lehrpersonen hatten bei einer dritten
Sekundarklasse in Luzern, die wir mit unserem Institut begleiteten, bereits den
Bettel hingeschmissen. Die Klasse galt als ununterrichtbar. Schliesslich kam
die Idee auf, die reine Knabenklasse nur noch an drei Tagen zu unterrichten.
Zwei Tage pro Woche mussten sie ausserhalb der Schule einer bezahlten Arbeit
nachgehen. Mithilfe der Eltern wurden Arbeitsmöglichkeiten gefunden: Lager einräumen,
bei Waldarbeiten helfen, putzen, Strassenarbeit. Der Erfolg war eindrücklich. Plötzlich
besuchte die Mehrheit der Schüler den Unterricht gern, zeigte sogar Interesse
am Stoff.
Natürlich
ist dies keine Patentlösung. Wir sollten uns von der Idee lösen, dass alle
Schüler und Schülerinnen zwingend acht, neun oder sogar zehn Schuljahre
vollzeitig durchlaufen müssen. Schulen sind nun mal künstliche Welten und
haben wenig mit dem Leben dort draussen gemein. Die effektive Arbeitswelt ist
kompromissloser, weniger moralisch und idealtypisch ausgerichtet. Vielen
Schülern tut es gut, zuerst einmal unmittelbare Arbeitserfahrungen zu machen.
Die Arbeitswelt ist roher, widersprüchlicher und brutaler, vermittelt jedoch
auch das Gefühl, sich am wirklichen Leben zu beteiligen. Viele Jugendliche
erleben es als befreiend, wenn nicht mehr empathisch, indirekt oder fies an
ihrer Persönlichkeit herumlaboriert wird, sondern eine Aufgabe im Vordergrund
steht. Sie wollen aus dem Gefängnis Schule ausbrechen und sich am wirklichen
Leben beteiligen, oft auf der Suche nach einem Wake-up-Call für sich selber.
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