Der Staat übernimmt in Finnland den Grossteil der Kosten für den privaten Unterricht an einer Musikschule, Bild: Getty Images
Ist Musikerziehung Luxus oder Allgemeingut, SRF, 7.5. von Corinne Holtz
Wieviel darf Musikerziehung kosten, SRF Kontext, 4.5.
In Finnland ist musikalische Bildung seit Ende der
1950er-Jahre in der Verfassung verankert, in der Schweiz ist ein neuer
Verfassungsartikel seit 2012 niedergelegt. Finnische Grundschülerinnen und
Grundschüler der 1. bis 9. Klasse haben im Schnitt drei Lektionen
Musikunterricht pro Woche. Schweizer Schüler haben in den ersten sechs
Schuljahren eine bis zwei Lektionen Musikunterricht. Was spricht aus diesen
Zahlen?
Isabelle Mili: Zuerst die Vergangenheit. In den
Primarschulen des Kantons Genf fanden bis in die 1990er-Jahre drei Lektionen
pro Woche statt und heute nur noch zwei. Warum? Vorher gab es keine zweite
Sprache im Unterricht. In Genf hat man Französisch unterrichtet bzw. gelernt,
Deutsch kam dann in der Sekundarschule dazu.
Heute muss die zweite Landessprache bereits in der
Primarschule unterrichtet werden, in vielen Kantonen ist zusätzlich Englisch
obligatorisch. Dafür musste man Raum schaffen. Die Musik wird als weniger
wichtig eingeschätzt als die Sprachkompetenz.
Musikunterricht an einer Musikschule kostet Kinder
und Jugendliche in Finnland im Schnitt 300 Euro im Jahr. Damit decken die
Eltern 20% der Kosten, die anderen 80% trägt der Staat. In der Schweiz zahlen
Eltern im Schnitt 2500 Schweizer Franken. Damit decken die Eltern 42% der
Kosten, während die öffentliche Hand knapp 60% deckt. Wie interpretieren Sie
diese Zahlen?
Das sind zweifellos Zeichen. Diese sind in der
Bildungspolitik begründet. Dass der finnische Staat 80% der Kosten des
Unterrichts an Musikschulen deckt – darüber muss es in der Gesellschaft
offenbar einen Konsens geben. In der Schweiz ist das seit Langem anders. Die
Spaltung nimmt zu.
In Finnland leben aufgrund seiner peripheren Lage
überdurchschnittlich wenige Ausländer und Ausländerinnen. Im Jahr 2014 betrug
der Anteil 3.79%. Die Schweiz hat mit 24% einen der höchsten Anteile weltweit.
Welche Wechselwirkung sehen Sie zwischen musikalischer Bildung und Migration?
Zuerst müsste man sich an das Stichwort «Kulturelle
Vielfalt» erinnern. Vor zehn Jahren war das in der Diskussion von
Bildungsfragen wichtig. Musikalische Bildung sollte wie jede Form von Bildung
integrativ wirken und die Kultur von Migrantinnen und Migranten einbeziehen. An
den Schweizer Musikschulen gibt es wenige Angebote dieser Art. Klassische
traditionelle Volksmusik aus Herkunftsländern wie etwa Nordafrika und Türkei
findet sich kaum. Das zu ändern, wäre sehr interessant.
Sie glauben, Musikunterricht kann integrative Kraft
entwickeln?
Ja, indem man zusammenspielt und sich dabei
kennenlernt. Wer im Orchester oder in der Band mitmacht, lernt über das
technisch-musikalische Handwerk hinaus sozial ganz viel. Die Integration fängt
aber früher an: bei der Sprache. Die Kinder von Migranten der 1950er- und
1960er-Jahre konnten ihre Muttersprache bzw. die Sprache ihrer Eltern als
Schulfach belegen. Italienisch, Spanisch und später Portugiesisch wurden in der
Westschweiz und auch in einer Stadt wie Zürich angeboten.
Das hat zur Integration beigetragen – entgegen
manchen Befürchtungen. Denn Kinder und Jugendliche hatten keinen
Loyalitätskonflikt mit ihrer Herkunftsfamilie auszutragen. Sie waren deren
Sprache mächtig, konnten sich dort behaupten und auch im Umfeld selbstbewusster
auftreten. Das würde auch mit der Musik funktionieren. Kinder könnten
Wertschätzung erfahren und stolz sein auf die Musikkultur ihres
Herkunftslandes.
Welche Chance räumen Sie der musikalischen Bildung
für das 21. Jahrhundert ein?
Im Moment bin ich optimistisch. In der Schweiz
lässt man sich neuerdings vom venezolanischen Erfolgsmodell «El Sistema»
inspirieren. Kinder und Jugendliche aus sozial schwachen Familien sollen eine
fundierte musikalische Ausbildung erhalten und damit die Chance auf ein
besseres Leben.
Überhaupt war man hier immer neugierig auf andere
Modelle. Denken Sie an die Breitenwirkung der Jaques-Dalcroze-Schule. In Genf
gibt es hundert Jahre nach Dalcroze, einem der Begründer der
rhythmisch-musikalischen Erziehung, immer noch Rhythmik-Unterricht in der
Primarschule. Seit zwei Jahren ist in der Westschweiz ausserdem die «axe
culture» in Kraft. Alle Kinder praktizieren Gehörbildung und lernen Werke
verschiedener Stile kennen.
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