"Kinder müssen heute wenig Rücksicht nehmen", NZZ, 11.5. von Daniela Kuhn
Frau Giacomin, werden Kinder heute oft wie kleine
Erwachsene behandelt?
Ja, vor allem in der Mittel- und Oberschicht. Viele
Eltern möchten ihren Kindern alles ermöglichen. Sie verhandeln und
argumentieren viel oder zu viel, weil sie ihr Kind nicht einschränken wollen.
Dahinter steht die Angst, mit einer autoritären Intervention den Selbstwert des
Kindes zu schädigen. Man will dem Kind auf diese Weise eine noch bessere
Zukunft ermöglichen. Und man hält die Wut des Kindes schlecht aus: Trotzanfälle
werden vermieden, man will ein zufriedenes Kind.
Und die Trotzphase?
Im Alter von etwa eineinhalb Jahren entdeckt das
Kind den eigenen Willen, es will selber denken, sich abgrenzen. Der kindliche
Wille ist in dieser Phase nicht flexibel. Wenn etwas nicht geht, entsteht Wut
oder es wird getrotzt. Dies ist für die Eltern nicht angenehm, aber für die
kindliche Entwicklung wichtig.
Sie geben in Zürich Erziehungskurse, bei denen die
Kinder zum Teil mitkommen. Wieso entscheiden sich Eltern dafür?
Viele Eltern, die zu uns kommen, sind sehr
verunsichert. Die heutigen Eltern befinden sind in einem Suchprozess: Manche
wollen zurück zu einem autoritären Erziehungsstil, zumal die sogenannte
Kuschelpädagogik in Verruf gekommen ist. Kinder, denen keine Grenzen gesetzt
wurden, entwickelten keine Frustrationstoleranz und keine Empathie, weil sie
nie auf die Bedürfnisse anderer Rücksicht nehmen mussten. Andere Eltern glauben
wiederum, mit Liebe, Verständnis und Ermutigung liessen sich Grenzen umgehen.
Aber auch das funktioniert nicht.
Ihr Kurs nennt sich «Starke Eltern - starke
Kinder». Worum geht es da?
Der Kurs basiert auf einem anleitenden
Erziehungsstil, der dem Alter des Kindes angemessen ist. Wenn ich mit einem
Dreijährigen in den Bus steige, frage ich nicht: «Wo willst du sitzen?»,
sondern ich sage: «Komm, wir sitzen da hin.» Wenn das Kind selber entscheiden
will, gebe ich ihm eine Auswahl, beispielsweise: «Möchtest du mir auf die Knie
sitzen oder auf diesen Platz?» Indem ich den entwicklungspsychologischen
Hintergrund vermittle, helfe ich, die kindliche Logik zu verstehen.
Das klingt gut. Aber was sollen Eltern tun, wenn
das Kind wütend ist, weil ihm Grenzen gesetzt werden?
Kinder wollen mit ihrer Frustration gesehen und
angenommen werden. Ich kann in einem solchen Moment beispielsweise sagen:
«Jetzt bist du frustriert. Ich habe dich trotzdem gerne.» Das Kind wird auf
diese Weise aufgefangen. Man begleitet als Elternteil den Prozess, den man
auslöst. Ich glaube, das ist ein Weg aus dem Dilemma.
Woran erkennt man, dass einem kleinen Kind Grenzen
fehlen?
Es ist masslos und fordert immer mehr. Nicht selten
ist auch ein aggressives Verhalten zu beobachten. Das Kind drückt damit aus:
«Hey, kümmere dich um mich!» Schüchterne Kinder zeigen ihren Unmut auf
verstecktere Art, etwa durch einen Jammerton, in dem ein Vorwurf mitschwingt.
Beides lässt sich verändern. Es braucht vonseiten der Eltern nur die
entsprechende Erkenntnis und manchmal ein wenig Training.
Fehlt die erzieherische Orientierung in der Schweiz
besonders stark?
Tendenziell, ja. In der Schweiz ist für die Eltern
vieles machbar, auch finanziell. Ein Kind ist bei uns fast so etwas wie ein
Projekt, das am Ende gut herauskommen soll. Eltern, die nicht aus der Schweiz
stammen, sind stärker auf Disziplin aus. Die Kinder müssen in der Schule gut
sein und werden auf Leistung getrimmt. Hinzu kommen natürlich auch kulturelle
Unterschiede, etwa die zwischen den Geschlechtern.
Das Leistungsprinzip ist heute für alle zentral.
Haben manche Eltern nicht sogar ein schlechtes Gewissen deswegen und scheuen
sich, Druck auszuüben?
Ich denke eher, man will den Willen des Kindes
nicht brechen. Für viele Eltern ist es wichtig, dass ihre Kinder möglichst
parat für die Schule sind. Sie haben grosse Angst, dass das Kind nicht besteht.
Das gilt auch für Erklärungen: Das Kind soll sie sofort verstehen. Ein Zwei-
oder Dreijähriger braucht aber eine altersgerechte Erklärung. Fürs Lernen sind
in erster Linie Erfahrungen auf allen Sinnesebenen notwendig.
Wie kommt es, dass Kinder an Orte mitgenommen
werden, die für sie altersmässig nicht passen?
Die heutigen Eltern sind sich aus ihrer eigenen
Jugend gewöhnt, dass alles möglich ist. Sie sind wenig bereit, wegen des Kindes
auf ihre eigenen Bedürfnisse zu verzichten. Auch nicht auf das Handy. Das Kind
wird von einer Mutter, die ständig aufs Handy schaut, nicht gesehen. So sagt es
beispielsweise der Mutter etwas, diese geht aber nicht darauf ein. In dieser
Situation macht das Kind sein eigenes Programm, weil ihm langweilig ist.
Meistens stört es dabei, aber man beschäftigt sich dann wenigstens wieder mit
ihm.
Hat die Rücksicht auf andere somit grundsätzlich
ausgedient?
In gewisser Weise. Sicher ist: Kinder müssen heute
wenig Rücksicht nehmen, es wird ihnen nicht aufgezeigt, wo die Grenzen liegen.
In einer guten Beziehung sein heisst aber, dass man gelernt hat, gegenseitig
Rücksicht zu nehmen. Das gilt auf alle Seiten: In der Öffentlichkeit brauchte
es mehr Verständnis für den Trotzanfall eines kleinen Kindes. Zugleich sollte
eine Mutter mit einem Zweijährigen, der nicht stillsitzen kann, noch nicht in
den Zirkus gehen.
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