11. Mai 2015

"Kinder müssen heute wenig Rücksicht nehmen"

Die Elterntrainerin Antonia Giacomin über den heutigen Erziehungsstil.
"Kinder müssen heute wenig Rücksicht nehmen", NZZ, 11.5. von Daniela Kuhn


Frau Giacomin, werden Kinder heute oft wie kleine Erwachsene behandelt?
Ja, vor allem in der Mittel- und Oberschicht. Viele Eltern möchten ihren Kindern alles ermöglichen. Sie verhandeln und argumentieren viel oder zu viel, weil sie ihr Kind nicht einschränken wollen. Dahinter steht die Angst, mit einer autoritären Intervention den Selbstwert des Kindes zu schädigen. Man will dem Kind auf diese Weise eine noch bessere Zukunft ermöglichen. Und man hält die Wut des Kindes schlecht aus: Trotzanfälle werden vermieden, man will ein zufriedenes Kind.

Und die Trotzphase?
Im Alter von etwa eineinhalb Jahren entdeckt das Kind den eigenen Willen, es will selber denken, sich abgrenzen. Der kindliche Wille ist in dieser Phase nicht flexibel. Wenn etwas nicht geht, entsteht Wut oder es wird getrotzt. Dies ist für die Eltern nicht angenehm, aber für die kindliche Entwicklung wichtig.

Sie geben in Zürich Erziehungskurse, bei denen die Kinder zum Teil mitkommen. Wieso entscheiden sich Eltern dafür?
Viele Eltern, die zu uns kommen, sind sehr verunsichert. Die heutigen Eltern befinden sind in einem Suchprozess: Manche wollen zurück zu einem autoritären Erziehungsstil, zumal die sogenannte Kuschelpädagogik in Verruf gekommen ist. Kinder, denen keine Grenzen gesetzt wurden, entwickelten keine Frustrationstoleranz und keine Empathie, weil sie nie auf die Bedürfnisse anderer Rücksicht nehmen mussten. Andere Eltern glauben wiederum, mit Liebe, Verständnis und Ermutigung liessen sich Grenzen umgehen. Aber auch das funktioniert nicht.

Ihr Kurs nennt sich «Starke Eltern - starke Kinder». Worum geht es da?
Der Kurs basiert auf einem anleitenden Erziehungsstil, der dem Alter des Kindes angemessen ist. Wenn ich mit einem Dreijährigen in den Bus steige, frage ich nicht: «Wo willst du sitzen?», sondern ich sage: «Komm, wir sitzen da hin.» Wenn das Kind selber entscheiden will, gebe ich ihm eine Auswahl, beispielsweise: «Möchtest du mir auf die Knie sitzen oder auf diesen Platz?» Indem ich den entwicklungspsychologischen Hintergrund vermittle, helfe ich, die kindliche Logik zu verstehen.

Das klingt gut. Aber was sollen Eltern tun, wenn das Kind wütend ist, weil ihm Grenzen gesetzt werden?
Kinder wollen mit ihrer Frustration gesehen und angenommen werden. Ich kann in einem solchen Moment beispielsweise sagen: «Jetzt bist du frustriert. Ich habe dich trotzdem gerne.» Das Kind wird auf diese Weise aufgefangen. Man begleitet als Elternteil den Prozess, den man auslöst. Ich glaube, das ist ein Weg aus dem Dilemma.

Woran erkennt man, dass einem kleinen Kind Grenzen fehlen?
Es ist masslos und fordert immer mehr. Nicht selten ist auch ein aggressives Verhalten zu beobachten. Das Kind drückt damit aus: «Hey, kümmere dich um mich!» Schüchterne Kinder zeigen ihren Unmut auf verstecktere Art, etwa durch einen Jammerton, in dem ein Vorwurf mitschwingt. Beides lässt sich verändern. Es braucht vonseiten der Eltern nur die entsprechende Erkenntnis und manchmal ein wenig Training.

Fehlt die erzieherische Orientierung in der Schweiz besonders stark?
Tendenziell, ja. In der Schweiz ist für die Eltern vieles machbar, auch finanziell. Ein Kind ist bei uns fast so etwas wie ein Projekt, das am Ende gut herauskommen soll. Eltern, die nicht aus der Schweiz stammen, sind stärker auf Disziplin aus. Die Kinder müssen in der Schule gut sein und werden auf Leistung getrimmt. Hinzu kommen natürlich auch kulturelle Unterschiede, etwa die zwischen den Geschlechtern.

Das Leistungsprinzip ist heute für alle zentral. Haben manche Eltern nicht sogar ein schlechtes Gewissen deswegen und scheuen sich, Druck auszuüben?
Ich denke eher, man will den Willen des Kindes nicht brechen. Für viele Eltern ist es wichtig, dass ihre Kinder möglichst parat für die Schule sind. Sie haben grosse Angst, dass das Kind nicht besteht. Das gilt auch für Erklärungen: Das Kind soll sie sofort verstehen. Ein Zwei- oder Dreijähriger braucht aber eine altersgerechte Erklärung. Fürs Lernen sind in erster Linie Erfahrungen auf allen Sinnesebenen notwendig.

Wie kommt es, dass Kinder an Orte mitgenommen werden, die für sie altersmässig nicht passen?
Die heutigen Eltern sind sich aus ihrer eigenen Jugend gewöhnt, dass alles möglich ist. Sie sind wenig bereit, wegen des Kindes auf ihre eigenen Bedürfnisse zu verzichten. Auch nicht auf das Handy. Das Kind wird von einer Mutter, die ständig aufs Handy schaut, nicht gesehen. So sagt es beispielsweise der Mutter etwas, diese geht aber nicht darauf ein. In dieser Situation macht das Kind sein eigenes Programm, weil ihm langweilig ist. Meistens stört es dabei, aber man beschäftigt sich dann wenigstens wieder mit ihm.

Hat die Rücksicht auf andere somit grundsätzlich ausgedient?

In gewisser Weise. Sicher ist: Kinder müssen heute wenig Rücksicht nehmen, es wird ihnen nicht aufgezeigt, wo die Grenzen liegen. In einer guten Beziehung sein heisst aber, dass man gelernt hat, gegenseitig Rücksicht zu nehmen. Das gilt auf alle Seiten: In der Öffentlichkeit brauchte es mehr Verständnis für den Trotzanfall eines kleinen Kindes. Zugleich sollte eine Mutter mit einem Zweijährigen, der nicht stillsitzen kann, noch nicht in den Zirkus gehen.

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