24. April 2015

Vom Ausmisten unserer Traditionen

Früher war bei passender Gelegenheit zu hören: «Jede Gesellschaft hat die Schule, die sie verdient.» Der damalige gesellschaftliche Konsens über menschliche und staatliche Grundwerte erlaubte diese Aussage ohne Hemmungen. Der versteckte Drohfinger machte Sinn. Doch die Bildungseinrichtungen stehen heute unter dem Druck, den vielfältigen Ansprüchen und Erwartungen einer heterogenen Gesellschaft gerecht zu werden. Was ist zu tun angesichts des allgegenwärtigen Wertezerfalls und dem Abbau von Gemeinsinn? Gerade die Volksschule dümpelt kläglich in der Wirrnis extremer Orientierungslosigkeit.
Wer macht die "Volksschule von morgen" - und was wird sie uns bringen? Blog Südostschweiz, 22.4. von Fritz Tschudi

Zuerst wird mal tüchtig ausgemistet: Weg mit unseren gewachsenen Traditionen, weg mit lernzielorientierten Inhalten, hin zu Tausenden von Hohlphrasen der Beliebigkeit, gemixt mit viel Ideologie! Alternativlos sei das alles, ein Gebot der Zeit, verkünden sie. Als Ersatz werkeln Bildungsexperten und Bildungspolitiker hektisch an künstlichen, überwiegend importierten Leitplanken aus dem Hause „OECD“. Sie wollen das selbstverschuldete und ohne Not hinterlassene Vakuum mit fraglichen Innovationen auffüllen ohne den Puls der Bevölkerung je gefühlt zu haben. Die totalitären Ansprüche der wirtschaftlichen Globalisierung an das human capital unsere Kleinen sollen möglichst früh und nachhaltig prägen!
Mit kompetenzorientierten Lehrplänen und dem konstruktivistischen Unterricht werden Aspekte des humanistischen Menschenbildes zu Grabe getragen. Leichtfertig wird den Kindern die Basis zur Verwurzelung in einer eigenen Lebenswelt erschwert. Traditionen werden banalisiert. Vielfalt wird als schrankenlose Beliebigkeit gefeiert. Die Auslieferung der Kinder unter das Diktat der Globalisierung und der ökonomischen Verwertbarkeit behindert die Entwicklung eines freien Geistes und des mündigen Handelns. Die Kinder werden in eine befremdliche Lernwelt gestellt und dort alleine gelassen, ganz nach dem (pseudo-)pädagogischen Trend, alles selbst auszuprobieren, das Rad neu zu erfinden und es sich in der Scheinwelt technokratischer «Lernlandschaften» eigenverantwortlich einzurichten.
Traditionelles Vermitteln von Lerninhalten durch Lehrer (und durch Lehrmittel) gilt gemäss der inzwischen etablierten Unterrichtsdoktrin als übergriffig und wird folglich als «nicht zielführend» abgelehnt. Die Hilfe durch Lernbegleiter aber bleibt bewusst eingeschränkt.
Moderne Lehrmittel beschränken sich darum auf Arbeitsaufträge für die Kinder, vermitteln aber kaum noch verbindliche Lerninhalte, verzichten auf fachliche Systematik und klare Orientierungshilfen auch für die Eltern (!). Auf gründliche Fachausbildung der Lehrer wird immer weniger Wert gelegt, denn Fachlichkeit werde künftig kaum mehr benötigt. Viele Kinder rudern einsam in der konstruktivistischen «Lernlandschaft» der seelischen Vereinsamung. Vor allem Eltern, aber auch Lehrer wundern sich über den frühen Schulverleider und stellen immer häufiger unbequeme Fragen.
Was Ihnen, geschätzte Leserin, geschätzter Leser, vielleicht als pervertierter Blödsinn vorkommen mag, ist in einigen europäischen Ländern seit Jahren Standard. Die bedingungslose Akzeptanz der geistigen Zwangsimporte aus dem Fundus der einflussreichen internationalen Organisationen, vorab der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) ist auch hierzulande zur Selbstverständlichkeit geworden. Die Importeure halten aber jede Art der Mitsprache durch die Bevölkerung für bedrohlich, die öffentliche Debatte wird darum nicht gefördert. Volksentscheide an der Urne sind, trotz der Brisanz und der immensen gesellschaftspolitischen Bedeutung der Lehrpläne, nicht vorgesehen. 
Warum lassen wir es zu, unsere Volksschulen ohne Not fremden Diktaten zu unterstellen?
Ist unser Bildungssystem tatsächlich grundlegend marode? Mit Spitzenplätzen in den Pisa-Tests, mit der kleinsten Jugendarbeitslosigkeit, mit der grössten Anzahl Nobelpreisträgern pro Kopf der Bevölkerung, mit zwei Unis an der Weltspitze und dem beispielhaften dualen Berufsbildungssystem hätten wir allen Anlass, deutlich mehr Eigenständigkeit, Beharrlichkeit und Stolz zu zeigen. Wenn Lehrmeister aber seit Jahren wiederholt auf Mängel im Wissen und den Fähigkeiten der Schulabgänger hinweisen, haben Bildungsplaner diesen Befunden erste Priorität einzuräumen und mit Reformen gefälligst genau hier anzusetzen. Das bedeutet gerade nicht, das Wesen der bewährten und ausbaufähigen Volksschule in Grossbankenmanier über Bord zu werfen, weil es den «Brüdern im globalen Geiste» so am besten passt.
Aufgabenhilfe im Elternhaus ist unerwünscht 
Die Aufgabe des Lernbegleiters (Coach/ Kumpel) bezieht sich hauptsächlich auf Individuen und weniger auf die Klassengemeinschaft. Lernbegleiter können demnach den traditionell unterrichtenden Klassenlehrer nicht ersetzen. Die partielle «Einzelbewirtschaftung» der Kinder mittels «Individualisierung» und «Binnendifferenzierung» ist zu Recht umstritten. Vor allem das allgegenwärtige Zauberwort «Individualisierung» tönt gut, bedeutet aber nicht, wie Sie wahrscheinlich denken: individuelle Hilfe für jedes Kind durch die Lehrperson. Leider nein.
Schülerinnen und Schüler werden als Einzelkämpfer individuell und eigenverantwortlich auf die Reise durch die «Lernlandschaft» geschickt. Die aktuelle Unterrichtsdoktrin kennt neben der Kompetenzorientierung das «Gleichheitsgebot» als zentrales Element.
Was die Eltern betrifft, werden diese ähnlich allein gelassen, wie ihre Kinder. Wie wollen Sie als Erziehungsberechtigte mit Lehrmitteln, die keine Verständnishilfen bieten, den schulischen Stand ihres Kindes einschätzen? Engagierte Erziehungsberechtigte werden (vom System) zunehmend als Störfaktoren wahrgenommen. Die Gleichheitsdoktrin verlangt, Aufgabenhilfe/Nachhilfe für alle oder für keine! Auslöser ist die unterschiedliche Bildungsnähe der Elternschaft und die damit verbundene «Chancenungleichheit» für die Kinder aufgrund ihrer Herkunft. Diese Tatsache ist vielen Bildungsexperten ein Dorn im Auge. Die elterliche Lernhilfe muss demnach weg. Wie oben gezeigt, ist man dazu auf bestem Wege.
Beat Kissling, Erziehungswissenschaftler und Kantonsschullehrer, schreibt in seinem Gastbeitrag für «LVB inform» «Schweizer Schule – quo vadis?» auch über Erfahrungen im konstruktivistischen Unterricht:
… Als dieser Lehrer seiner Klasse kürzlich zu Wochenbeginn in Mathematik bis zu 20 Seiten im Übungsheft zu lösen aufgab, war sein Kommentar dazu: «Jeder macht, soweit er kommt.» Tatsächlich überliess er die Schülerinnen und Schüler – Drittklässler! – ihrem Schicksal, selber während der Woche mit der «individualisierten» Aufgabenstellung über die Runden zu kommen – schliesslich sei es ja an ihnen, ihren Lernprozess zu regulieren, d.h. dass sie «ihre eigenen Lernstrategien entwickeln und anwenden und ihre Lernprozesse eigenständig überwachen und regulieren» sowie darüber reflektieren und sich letztlich selbst beurteilen sollen. Gerne würde man sich den Studenten zeigen lassen, der sein Studieren auf diese Weise «reguliert»… Obwohl …(die Schülerin) ein aufgewecktes und vifes Mädchen ist, geht sie äusserst ungern zur Schule…. Wen wunderts! Sie steht stellvertretend für viele Kinder, die heutzutage schon in den ersten Schuljahren den «Schulverleider» haben – ein Phänomen, das früher äusserst selten zu beobachten war.
Viele Lehrer werden aufwachen, wenn sie merken wie ihnen, den Kindern und deren Eltern geschieht. Wenn sie genug haben von der zunehmenden Gängelei und Entmündigung im Beruf, der Entprofessionalisierung durch Degradierung zum «randständigen» Lernlandschaftsserviceangestelten werden sie doch wohl das Heft in die eigene Hand nehmen wollen. Da die Lernverantwortung bei den Kindern liegt und das klassische Unterrichten dämonisiert wurde, bleiben den Lehrpersonen nur noch kümmerliche Reste der einstmals anspornenden beruflichen Begeisterung.
Eltern sehen sich mit tiefgreifenden Richtungswechsel in der Persönlichkeitserziehung ihrer Kinder konfrontiert.
  • Heranbildung widerspruchsloser Anpassungsbereitschaft der Lernenden (statt Mündigkeit als Ziel)
  • Im Bereich Natur, Mensch, Gesellschaft des Lehrplans 21 ist das Sammelfach Natur und Technik zu Hause und hierin verstecken sich die klassischen naturwissenschaftlichen Fächer Physik, Chemie, Biologie. Schon diese Strukturierung lässt erkennen, wie wenig es den Lehrplanautoren an Fachlichkeit gelegen ist. Wichtiges Ziel ist die Aneignung von «Gesinnungskompetenzen». Ideologisierung statt Fachlichkeit.
  • Daraus ergibt sich die Gefahr eines indoktrinierenden Unterrichts. (Einschränkung des freien Denkens und Bedrohung der Meinungsäusserungsfreiheit)
  • Es droht die Gefährdung des Kontroversitätsgebotes im Unterricht. (Kontroversitätsgebot bedeutet:Was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, muss auch im Unterricht kontrovers erscheinen.)
  • Konstruktivistischer Unterricht und Kompetenzorientierung bilden letztlich eine Gefahr für die Demokratie. (Prof. J.Krautz)
Kompetenzorientierung und konstruktivistische Lernbegleitung haben sich nirgends bewährt
Besonders in den Nachbarstaaten Deutschland und Österreich, wo ähnliche Anpassungen schon ein paar Jahre in Kraft sind, fällt die Banalisierung des Unterrichtes und damit ein gnadenloser fachlicher Leistungsabbau zugunsten ideologischer Ziele auf. In einzelnen deutschen Bundesländern denkt man bereits über eine nächste Wende nach. In den USA ist man seit einiger Zeit daran, sich von diesem Spuk zu verabschieden.

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