Strahm: "Die Maturität ist nicht mehr der Königsweg". Bild: Keystone
"Gschwind muss über die Bücher", Basler Zeitung, 21.3. von Joël Hoffmann
Herr
Strahm, in Ihrem Buch «Die Akademisierungsfalle» befürchten Sie, dass die
Jugendarbeitslosigkeit in der Schweiz steigen könnte, wenn immer mehr
Jugendliche an die Uni gehen. Sollte das beiden Basel als Uni-Kantone zu denken
geben?
Rudolf Strahm: Statistisch ist erwiesen,
dass in den fünf europäischen Ländern, inbegriffen die Schweiz, die ein duales
Bildungssystem haben, die Jugendarbeitslosigkeit markant tiefer ist als in den
anderen europäischen Ländern, wo jeder vierte berufsfähige Jugendliche
arbeitslos ist. Basel, die Westschweiz und das Tessin, die im Vergleich zur
Restschweiz eine höhere Maturitätsquote haben, verzeichnen eine
überdurchschnittliche Jugendarbeitslosigkeit. Basel ist in diesem Sinne ein
Problemkanton.
Heisst
das, je weniger Gewicht die Berufslehre hat, desto höher ist die
Jugendarbeitslosigkeit?
Je
weniger Gewicht die Berufslehre hat, desto mehr Jugendliche fallen zwischen
Stuhl und Bank.
Wie
meinen Sie das?
Die
Berufslehre ermöglicht beispielsweise die Integration von ausländischen
Jugendlichen, die aufgrund sprachlicher Defizite nicht ins Gymnasium können.
Durch die praxisorientierte Lehre können diese Jugendlichen dennoch Karriere
machen. Die Gymnasien sind hingegen sprachlastig, was nicht nur Ausländern,
sondern auch einseitig Begabte und Mathematik-affine Jugendliche benachteiligt.
Ist
die Lehre attraktiver als die Uni?
Gut
verdienende mittlere Kader in der Schweiz haben meist mit einer Lehre begonnen.
Aber eine Berufslehre alleine ist heute zu wenig, wenn man Karriere machen
will. In der Schweiz gilt: kein Abschluss ohne Anschluss. Wer die Lehre
abgeschlossen hat, kann sich weiterbilden, eine höhere Fachschule besuchen oder
Berufs- und Fachprüfungen absolvieren oder über die Berufsmaturität an einer
Fachhochschule studieren. Deren Absolventen sind in der Wirtschaft begehrter
als Uni-Absolventen.
Die
Berufslehre hilft bei der Integration, sagen Sie. Das ist eine soziale Sicht.
Welche Vorteil hat das duale Bildungssystem insbesondere in ökonomischer
Hinsicht?
Neben
der Schweiz kennen Deutschland, Österreich und Liechtenstein, etwas weniger
Holland und Dänemark das duale Berufsbildungssystem. Es sind auch diese Länder,
die trotz höheren Löhnen auf dem Weltmarkt bestehen können, weil deren Produkte
eine höhere Spezialisierung haben.
Wie
meinen Sie das?
In
der Wirtschaft braucht es die Erfinder, aber auch die Leute, die innovative
Ideen rasch umsetzen können. Leute mit einer Berufslehre können sehr rasch
neuartige Produkte und Prozesse realisieren. Italien beispielsweise, das die
Lehre nicht kennt, bildet zwar mehr Ingenieure aus als die Schweiz, aber bei
der Umsetzung klemmt es, weil das qualifizierte Personal fehlt, das diese Ideen
umsetzen kann.
Sie
sagen, dass Fachhochschulabsolventen begehrter sind als Akademiker. Das Gymnasium
ist folglich nicht immer der beste Weg zum Erfolg.
Die
Maturität ist nicht mehr der Königsweg. Die Hälfte der Uni-Absolventen hat ein
Jahr nach dem Abschluss noch keine Festanstellung. Nach fünf Jahren sind es
immer noch 26 Prozent. Statistisch gesehen sind die Fachhochschulabgänger
schneller fest angestellt.
Kann
man das so pauschal sagen?
Man
muss schon differenzieren. Ärzte und Juristen finden sofort eine Stelle.
Hingegen ist für die vielen Studierenden, die an den Fachhochschulen der Künste
ausgebildet werden, die Lage oft prekär mit bitter schlecht bezahlten Stellen.
Bern und Zürich rüsten auf und konkurrenzieren Basel. Derzeit bilden wir in der
Schweiz bereits 6000 Künstler aus. Das ist schlicht eine Überproduktion. Aber
generell gesagt, sind höhere Fachschulen und Fachhochschulen wegen ihrer
Praxisorientierung bei der Wirtschaft begehrt. Zudem haben sich die Löhne von
Fachhochschul- und Uni-Abgängern mittlerweile angeglichen.
Studieren
zu viele Jugendliche an der Uni Geisteswissenschaften?
Wir
bilden derzeit 9400 Psychologen aus. Es braucht jedoch nie so viele
Psychologen. Sie landen dann irgendwann in einer der aufgeblähten Verwaltungen.
Nicht nur in Basel, sondern schweizweit gibt es zu viele Studierende der
Geistes- und Sozialwissenschaften und zu wenige, die Technik-, Informatik- und
Naturwissenschaften studieren.
Haben
Sie etwas gegen die Geisteswissenschaften?
Nein,
ganz und gar nicht. Ich bin aber gegen einen Numerus Clausus bei
Geisteswissenschaften. Die Fakultäten müssen selber für Ordnung sorgen. Oft ist
ein Studium der Geisteswissenschaften eine Verlegenheitslösung.
Wie
meinen Sie das?
Viele
Jugendliche wissen nicht, was sie wollen, gehen ins Gymnasium, weil sie es
können. Danach wissen sie immer noch nicht, was sie genau wollen und fangen mal
an, geistes- und sozialwissenschaftliche Fächer zu studieren.
Was
wäre dagegen zu tun?
Es
beginnt schon bei der Orientierung Ende der obligatorischen Schulzeit: nämlich
in der Wahl zwischen Lehre und Gymnasium. Beim Lehrplan 21 haben beide Basel
diesbezüglich einen falschen Entscheid getroffen, indem sie das Schulfach
«Berufliche Orientierung» nur für ein Jahr und bloss eine Stunde pro Woche auf
der Stundentafel haben. Damit stehen beide Basel schweizweit alleine da.
Richtig wäre, dass während drei Jahren die 14-, 15- und 16-jährigen Schüler
aller Sekundarstufen das Fach «Berufliche Orientierung» besuchen müssen. Sowohl
der Basler Erziehungsdirektor Christoph Eymann als auch seine designierte
Baselbieter Amtskollegin Monica Gschwind müssen diesbezüglich über die Bücher.
Ist
dieses Schulfach notwendig?
Ja.
Im ersten Jahr lernen die Jugendlichen, über sich nachzudenken. Wer bin ich?
Was will ich? Es geht um eine Auseinandersetzung mit sich und seinen Stärken
und Schwächen. Im zweiten Jahr sollen die Schüler Berufe kennenlernen und üben,
wie man Bewerbungen schreibt. Im dritten Jahr schliesslich sollen die
16-Jährigen Schnupperlehren absolvieren, Bewerbungen schreiben und im Umgang
mit Absagen gecoacht werden. Durchschnittlich schreiben Jugendliche 14 Bewerbungen,
bis sie eine Lehrstelle finden. Bei Jugendlichen mit gewissen ausländischen
Namen braucht es bis zu 30 Bewerbungen. Eine Absage ist jedes Mal eine
Demütigung. Hier sind die Lehrer als Coachs gefragt. Berufswahlkunde ist auch
für Pro-Gymnasiumsschüler wichtig, viele steigen nämlich später um.
Der
Basler Gewerbeverband sucht jedes Jahr einen Lehrling des Jahres. Man darf
annehmen, dass Sie solche Wettbewerbe begrüssen.
Ja,
dieser Wettbewerb ist sehr gut, gerade in einer Zeit, in der für Jugendliche
die Reputation wichtig ist. Der gewählte Beruf muss «geil» sein. Dieser
Wettbewerb ist für den Ruf der Berufslehre, die bei der Basler Elite noch immer
ein Stigma hat, sehr hilfreich. Aber auch die Brückenangebote und
Vorbereitungsschulen für schwache Jugendliche sind zwar teuer, aber wichtig,
weil sie möglichst vielen jungen Menschen den Einstieg ins Berufsleben
ermöglichen. Dies macht Basel sehr gut.
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