Der Bildungsrat will bei der Wahl eines Englischlehrmittels nochmals über die Bücher gehen, Bild: Stefan Leimer
Schüler ertrinken im englischen Sprachsee, Basler Zeitung, 27.2. von Daniel Wahl
Wenn man die
Missstände im Baselbiet an einem Buch zeigen will, dann blättere man durch das
neue Englischlehrmittel «New World».Flächendeckend will das Baselbiet das
Lehrmittel zum Erwerb der englischen Sprache einführen. Damit hat sich der
Bildungsrat für ein Werk entschieden, das von Fachpersonen hart kritisiert wird
und noch vor der definitiven Einführung zu einer Motion von Caroline Mall (SVP)
geführt hat, mitunterzeichnet von sechs weiteren Landräten. Sie verlangen
«Lehrmittelfreiheit».
«New World»
steht auch für hausgemachte Probleme: Nur sechs Kantone in der Schweiz führen
Englisch in der fünften Klasse ein . Darum gibt es auch nur wenige Lehrmittel,
die auf den Reifegrad eines Elfjährigen zugeschnitten sind. Nochmals dünner
wird die Auswahl an verfügbarem Lehrmaterial, weil das selektionierte
Lehrmittel der Ideologie des Lehrplans 21 entsprechen und «kompetenzorientiert»
sein muss.
Nun ist es
gekommen, wie es kommen musste: Auf die Schnelle hat der Bildungsrat ein
Lehrmittel durchgewinkt, ohne über eine Wirksamkeitsstudie zu verfügen.
Insofern steht «New World» auch für die überhastete Bildungspolitik im
Baselbiet – ein weiterer Akt der Bildungsmisere, die nun von Landräten gestoppt
oder infrage gestellt wird.
Ertrinken oder überleben
Welche
Philosophie steht hinter «New World»? Man darf es sich bildlich wirklich so
vorstellen: Man nehme junge Nichtschwimmer, werfe sie in einen See und
schmeisse ihnen eine Schwimmanleitung nach. Dabei hofft der Pädagoge vom Ufer
aus, dass die Kinder während des Lesens der Anleitung im Wasser nicht
ertrinken. Wer überlebt, hat schwimmen gelernt.
Dieses Bild
entspricht dem Konzept von «New World». Gerne spricht man vom englischen
Sprachbad, das Schüler erleben – und «by the way» Englischkompetenzen erwerben
sollten. Das basiert auf der Vorstellung, dass Kinder in mehrsprachigen
Familien die Zweitsprache mühelos, fast traumwandlerisch erwerben. Dass die
Volksschule ein solches Sprachbad anbieten kann, gehört zur Selbstüberschätzung
der Bildungsverantwortlichen, die diese Philosophie propagieren. «Die Tatsache,
dass zweimal 45 Minuten Englisch pro Woche rein gar nichts gemein haben mit
einem permanenten Sprachbad, wie es beim Erwerb der Muttersprache der Fall ist,
wird vom Autorenteam, von der Projektleitung und von den
Bildungsverantwortlichen konsequent ausgeblendet», kritisiert Philipp Loretz.
Loretz,
qualifiziert mit dem Cambridge Certificate of Proficiency, unterrichtet an der
Sekundarschule in Aesch, ist Vater zweier schulpflichtiger Kinder und
Geschäftsleitungsmitglied des Baselbieter Lehrerverbands (LVB). Er hat sich
intensiv mit «New World» beschäftigt und den Mitgliedern des Bildungsrats seine
Expertise zukommen lassen. Sein Fazit ist vernichtend: «Das Lehrmittel
überfordert die Primarschüler systematisch und kann nur gebraucht werden, wenn
der praxisorientierte Lehrer die Defizite von ‹New World› permanent
ausgleicht.»
Nach seiner
Untersuchung und seiner Kritik gibt es auch eine gute Nachricht vorweg: Die
Mehrheit des Baselbieter Bildungsrats ist gewillt, nochmals über die Bücher zu
gehen: «New World» gilt nicht mehr – wie ursprünglich geplant – als definitiv
eingeführt. Und dennoch: In den fünften Primarklassen wird mit dem umstrittenen
Werkzeug an den Kindern herumlaboriert.
Verzettelung im Schulalltag
Alleine schon
die Tatsache, dass die Kinder das Buch, ein Activity-Heft, Worksheets, eine
CD-Rom und zusätzliche Arbeitsblätter ausgehändigt bekommen – also an fünf
verschiedene Komponenten für ein Fach denken müssen –, werde für die
Elfjährigen zur Herausforderung, sagt Loretz. Einige Kostproben aus dem
Lehrmittel, die Loretz exemplarisch herausgefiltert hat, zeigen, dass den
Schülern systematisch zu viel zugemutet wird.
Es beginnt
bereits im ersten Kapitel (Unit 1). Hier werden die Anfänger mit einem
Würfelspiel konfrontiert, das den Kindern gleich die englischen Zahlen von 1
bis 100 vor den Kopf wirft. Eine Spielanleitung auf Englisch liest sich für die
«absolute beginners» in ihren ersten Englischstunden so: «Throw the dice, move
forward and read the number of your square in English. If
the number you say is correct, you can move forward one square. If the number
is wrong, you move back one square. You can play a more difficult version of
this game. Ask your teacher to give you the copy sheet.» Im selben Stil geht es
in «New World» weiter.
Der Kompetenz-Knüller
Bereits eine
Unit später – nach rund 20 Lektionen à 45 Minuten – wird von den Schülern eine
erste «Project task» (Projektarbeit) verlangt. In Gruppen müssen die Lernenden
anhand einer anspruchsvollen Checkliste im Umfang einer A4-Seite ein «Sports
poster» gestalten – schriftlich, in der Zielsprache, versteht sich. «Derart
komplexe Aufträge überfordern so manchen Primarschüler heillos», sagt Loretz.
In der
dritten Unit wartet das Buch mit einer weiteren «Project task» namens «An
exhibition in our art gallery» auf. Es soll die Kinder befähigen, die
englische Sprache «zu verstehen und zu gebrauchen», unter Berücksichtigung der
angeblich unterschiedlichen Lernniveaus. Der Kompetenz-Knüller folgt nach 13
auf Englisch verfassten Einzelanweisungen: «Enjoy the exhibition. Talk to the other about your painting.» («Freue dich über deine
Ausstellung. Sprich
mit den anderen über dein Gemälde»). Loretz: «Es ist absurd, Schüler über ein
Thema sprechen zu lassen, obwohl ihnen das dazu notwendige Vokabular fehlt. Das
verdeutlicht nur eines: Es werden überhöhte Anforderungen an die Lernenden
gestellt. Im ganzen ersten Band befinden sich die Schüler in der ungemütlichen
Lage, Gruppendiskussion führen zu müssen und Präsentationen zu halten, ohne
über die dafür notwendigen Strukturen und den Wortschatz zu verfügen», analysiert
Philipp Loretz.
Defizite längst bekannt
Nach ersten
Rückmeldungen aus dem Kanton Bern räumen die Lehrmittel-Entwickler in einem
Interview mit dem Schulmagazin Berner Schule ein, tatsächlich steil in die
Sprache eingestiegen zu sein. «Das Lehrmittel ist grundsätzlich sehr gut
angekommen», sagen sie zuerst, um erst dann zur Sache zu kommen: «Vor allem der
Einstieg hat Schwierigkeiten verursacht, dieser war für einige Schülerinnen und
Schüler wohl zu anspruchsvoll», wie «New World»-Redaktorin Barbara Wuthier
erklärt.
Loretz ist
wenig zuversichtlich, dass eine grundsätzliche Überarbeitung des Lehrmittels
ins Auge gefasst wird. Im Interview des Schulmagazins mit den Autoren kommt
nämlich weiter zum Ausdruck, dass sich die Entwickler dagegen sträuben, dass
ihr Werk zu sehr vereinfacht würde.
Einfacher
wird es für die Kinder auch im zweiten Band nicht. Mit «authentischen» und
«lebensnahen» Texten, wie für «New World» geworben wird, soll das
Textverständnis gefördert werden. Was damit gemeint sein könnte, zeigt das
Lehrmittel anhand eines Textes über Jeans. So sollen die Schüler im 30 Zeilen
langen Text zur Hose erfahren, welche Rollen die Herren Strauss und Davis dabei
gespielt und welche Gründe – vom Goldrush über den Film «Rebel Without a Cause»
bis hin zur Teenage-Rebellion – zur Verbreitung von Jeans geführt haben. «Unter
lebensnah verstehe ich etwas anderes», sagt Loretz trocken. Und die erste Arbeitsanweisung
lautet (kein Witz): «Bevor du einen Text liest, überlege dir, was darin stehen
könnte.»
Ein solch
lebensferner Text könnte für Primarschüler immerhin noch in einfachen Worten
daherkommen. Darauf wird verzichtet. Loretz hat gezählt: 50 neue Wörter, lange
Sätze, bereits Haupt- und Nebensätze, Passivkonstruktionen, zwölf
unregelmässige Vergangenheitsformen und neben dem Simple Past drei weitere
Zeiten: Past Continuous, Present Perfect und Simple Present.
Geschmückt
wird das Ganze mit phrasenhaften Aufträgen wie «Übernimm Sätze und
Redewendungen und verwende sie in der Alltagssprache.» Oder: «Lass in deinem
Kopf eigene Bilder entstehen und nutze sie zum Schreiben.»
Der Kompetenzideologie verhaftet
Stutzig
macht, dass der Baselbieter Bildungsrat «New World» ohne Wirksamkeitsstudie
eingeführt hat. Er stützte sich einerseits auf einen Evaluationsbericht von
Lisa Singh und Daniel Elmiger. Wie allerdings die erhältliche Kurzfassung
zeigt, vermochte «New World» nicht zu überzeugen. «Die allgemeine Zufriedenheit
der Lehrpersonen mit dem neuen Fremdsprachenunterricht ist im laufenden
Praxistestjahr im Vergleich zu den Vorjahren gesunken. Am deutlichsten zeigt
sich dieser Trend bei den Englischlehrpersonen, wo nur noch ein Drittel der
Lehrpersonen allgemein mit dem neuen Englischunterricht zufrieden ist», heisst
es. Und weiter führt der Evaluationsbericht an: «Etwas mehr als die Hälfte der
Englischlehrpersonen hält das Lehrmittel ‹New World› für ihren Unterricht als
geeignet, wobei auch hier die Anzahl der Lehrpersonen, die dieser Meinung sind,
im Vergleich zum Vorjahr um 20 Prozent gesunken ist.» Eine ungewöhnlich tiefe
Zustimmungsquote.
Grotesk ist
aber, dass sich der Baselbieter Bildungsrat in Zusammenarbeit mit der
Lehrmittelkommission Primarstufe auch auf einen Schlussbericht der Zürcher
Bildungsdirektion stützt, der zwar 37 Lehrmittel analysiert, aber das
Lehrmittel «New World» gar nicht berücksichtigt hat. Das stellt die
Entscheidungsqualität des Baselbieter Expertengremiums schwer infrage.
Und als ob die
Baselbieter Schüler fürs Wirtschaftsleben bewusst nicht vorbereitet werden
sollen: Es war ausdrücklich Wunsch, ein Lehrplan-21-orientiertes Lehrmittel
einzuführen und kein Zertifikat-orientiertes, das den Schülern die Grundlage
böte, dereinst das weltweit anerkannte «First Certificate» oder «Advanced» zu
erwerben. Ein Lehrplan-21-Sprachbad, in dem Schüler zu ertrinken drohen,
scheint wichtiger zu sein.
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