Doping für die Schulkarriere, NZZaS, 22.3. von Sibylle Stillhart
Der Bildungsmarkt ist ein lukratives Geschäft. 100 bis 300 Millionen Franken im Jahr blättern die Eltern in der Schweiz allein für Privatschulen und Nachhilfeunterricht auf der Oberstufe hin. Dazu kommen noch die privaten Primarschulen, Vorschulen und der ganze Berufsbildungs- und Weiterbildungsmarkt. Nicht alles Geld ist dabei gut investiert, wie der Berner Bildungsökonom Stefan Wolter sagt. «Bildung lässt sich in einem bestimmten Mass immer kaufen, ob sich auch Erfolg kaufen lässt, ist eine andere Frage.» Will heissen: Die guten Noten und der Abschluss kommen nicht von allein. Es muss auch dafür gearbeitet - oder besser: gebüffelt - werden.
Für Tobias Weber* hat es sich gelohnt. Der stets adrett gekleidete 38-Jährige arbeitet in einer Kaderposition im Finanzwesen und verdient jährlich 200 000 Franken. Es hätte auch anders kommen können - denn Tobias Weber war ein miserabler Schüler. «Ich war ein verträumter Bub, spielen war für mich wichtiger als das langweilige Rumsitzen im Klassenzimmer», erinnert er sich. Als er in Bern die Sek-Prüfung nicht bestand, war das vor allem für seine Eltern ein Schock. Es war der Vater, der nun das Zepter in die Hand nahm: Er meldete seinen Sohn umgehend an einer Privatschule an, wo Tobias ein Jahr lang einen Vorbereitungskurs absolvierte. Danach folgte der Übertritt ins Langzeitgymnasium.
Doch auch am Gymnasium sei ihm das Lernen schwergefallen, erzählt Tobias Weber. Mit Ach und Krach habe er sich durchgekämpft, bei jedem Zeugnis gebangt, ob es mit der Versetzung klappe. Mit 17 Jahren sei ihm dann aber plötzlich «der Knopf aufgegangen». Von da an war die Schule kein Albtraum mehr. Er schaffte die Matur, nahm das Studium in Angriff, promovierte sogar. «Ich brauchte einfach länger als andere», sagt er im Rückblick. Im Freien Gymnasium Bern habe man ihm diese Zeit zugestanden.
Auf Biegen oder Brechen
Tatsache ist, dass Kinder aus begüterten Familien im Vorteil sind, wenn es um sogenanntes Bildungsdoping geht, wie es Stefan Wolter nennt. Ihre Eltern verfügen über die finanziellen Mittel, um den Platz an einer Privatschule oder anderweitige private Förderung zu finanzieren. Und davon machen sie auch rege Gebrauch. Erziehungswissenschafterin Margrit Stamm beobachtet, dass Eltern immer mehr Geld für die Förderung ihres Nachwuchses ausgeben. Das beginne bereits im Vorschulalter. «Die Eltern sind verunsichert, weil ihnen kontinuierlich eingetrichtert wird, dass sie ihre Kinder fördern müssen», sagt die Leiterin des Instituts Swiss Education in Bern. «Aus diesem gesellschaftlichen Druck ist für Eltern das Gefühl gewachsen, sie müssten auf Biegen oder Brechen das Bestmögliche aus dem Kind herausholen.»
Noch nie haben so viele Schüler bezahlte Nachhilfe bezogen wie heute: 34 Prozent der Acht- und Neuntklässler - rund 63 000 Jugendliche - gehen in den Nachhilfeunterricht, wie soeben eine Erhebung der Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung (SKBF) ergab. Das sind 10 Prozent mehr als vor drei Jahren.
Zu ihnen gehören auch die Töchter von Veronika Müller*. Die Mutter unterlässt nichts, um ihren beiden Teenagern, die das Gymnasium besuchen, bestmögliche Bedingungen zu bieten. Sie hat eine Englisch-Lehrerin engagiert, die einmal die Woche zu ihnen nach Hause kommt. «Es ist mir wichtig, dass meine Mädchen Englisch auch sprechen lernen», erklärt Müller, die selber Wirtschaft studiert hat. «In einer Klasse hätten sie niemals die Möglichkeit, sich eine ganze Stunde auf Englisch zu unterhalten.»
Nachhilfestunden mögen im Einzelfall etwas nützen - generell ist ihre Wirkung aber umstritten, vor allem auf lange Sicht. Eine vom Nationalfonds unterstützte Studie hat 2013 herausgefunden, dass sie gar nicht so viel bringen wie erhofft. «Kurzfristig können sich die Noten in den Fächern Mathematik, Deutsch und Französisch zwar verbessern», sagt Studienleiter Hans-Ulrich Grunder, Pädagogik-Professor an der Universität Basel und an der Pädagogischen Hochschule Nordwestschweiz. «Der Effekt ist aber so gering, dass man nicht von einer unmittelbaren Wirkung des Nachhilfeunterrichts sprechen kann.» Die meisten Kinder fühlten sich zwar dank Nachhilfe sicherer, doch den schulischen Erfolg beeinflusse dies kaum.
Ständige Nachhilfe könne sich sogar negativ auswirken. «Wenn Schüler wissen, dass sie den Stoff noch einmal mit dem Nachhilfe-Lehrer durcharbeiten können, vermeiden sie, eigene Lernstrategien zu entwickeln», sagt Grunder. Oft wird Nachhilfe gezielt eingesetzt, um zum richtigen Zeitpunkt bereit zu sein: Die meisten Schüler büffeln Mathematik, wenn es um den Übertritt ins Gymnasium geht. Es geht vor allem darum, sich in Kantonen mit tiefer Maturitätsquote wie etwa Zürich oder Aargau einen der knappen Gymi-Plätze zu sichern.
Keine Erfolgsgarantie
Klappt es mit der Nachhilfe nicht und bleibt der erhoffte Erfolg aus, weichen ehrgeizige Eltern mit ihrem Nachwuchs auf Privatschulen aus. In der Schweiz besuchen derzeit rund 90 000 Schüler eine private Bildungseinrichtung; dort - so wird erhofft - finden die Schüler eine Umgebung vor, die den Erfolg beflügeln wird. «Das ist der Vorteil privater Institutionen», sagt Markus Fischer, Generalsekretär des Vereins Privatschulen Schweiz (VPS). «Es gibt hier die Möglichkeit, massgeschneiderte Ausbildungen auf das jeweilige Bildungsbedürfnis anzubieten oder sich den Lernenden individuell zuzuwenden.»
Und das führt zum ersehnten Erfolg? Tatsächlich hat eine Auswertung in Deutschland ergeben, dass Privatschüler in den Pisa-Tests besser abgeschnitten haben als Schüler in öffentlichen Schulen. Das habe aber nichts mit besserer Pädagogik zu tun, behauptete der Bildungsökonom Manfred Weiss in der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» (FAZ). «Die Schüler profitieren von ihrem Umfeld», erklärte der Forscher vom Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung.
Er hat den sozialen Hintergrund und die Zusammensetzung der Schülerschaft in privaten und öffentlichen Institutionen untersucht und ist überzeugt, dass Privatschüler nur deshalb bessere Leistungen erzielen, weil sie aus bildungsnahen Elternhäusern kommen. «In einem solchen Umfeld kann man einen anspruchsvolleren Unterricht machen.»
Ein Blick auf die Schweizer Maturitätsquote zeigt hingegen, dass es auch in Privatschulen keine Garantie für schulischen Erfolg gibt: «An den privaten Gymnasien ist die Durchfallquote im Gegensatz zur öffentlichen Schule eher hoch», sagt Markus Fischer vom Verband Schweizer Privatschulen. In der Deutschschweiz betrage sie etwa 35 Prozent, für die Romandie 28,5 Prozent und für das Tessin 20 Prozent.
Die hohen Quoten haben Gründe: «Einerseits halten sich viele Privatschüler nicht an die Empfehlungen ihrer Schulen und treten die externe Maturitätsprüfung trotzdem an», sagt Thomas Schwaller, wissenschaftlicher Berater für gymnasiale Bildung beim Eidgenössischen Departement für Wirtschaft, Bildung und Forschung (WBF). Zudem seien die Rahmenbedingungen bei der Maturitätsprüfung schwieriger als bei einer «Hausmatur», weil die Kandidierenden ohne Vornoten anträten. Was zeigt: Am Ende sind es wohl doch Fleiss und Intelligenz, die zum Erfolg führen. Und nicht nur die Finanzen.
Es gibt nicht nur einen Weg
Trotzdem hilft ein dickes Portemonnaie auf dem Weg zur gymnasialen Matura. So ist es eine Tatsache, dass nicht nur an den Privatschulen, sondern auch an den öffentlichen Gymnasien Kinder aus bildungsnahen Schichten dominieren. Die Tendenz zu einer Zweiklassengesellschaft im Bildungswesen beobachten Fachleute kritisch. «Für eine Gesellschaft ist es wichtig, dass alle Kinder und Jugendlichen gute und faire Startchancen haben», sagt Sandro Giuliani, Geschäftsführer der Jacobs Foundation, die sich dafür einsetzt, dass begabten Sekundarschülern aus benachteiligten Verhältnissen zu höherer Bildung verholfen wird. «Dann können sie zu sozial verantwortungsvollen und produktiven Mitgliedern der Gesellschaft werden, und davon profitieren am Ende alle.»
Ohnehin geht bei aller schulischen Förderung eines oft vergessen: Das Schweizer Bildungssystem ist in den letzten 20 Jahren durchlässiger geworden. Berufslehren, Berufsmaturität und Fachhochschulen ermöglichen praktisch allen Jugendlichen eine vielfältige Bildung, die ebenso zu einer akademischen Laufbahn führen kann - sofern das denn gewünscht wird. «Aber das ist offenbar immer noch nicht allen bekannt», sagt Beat Zemp, Präsident des Schweizerischen Lehrerverbands. Gerade Einwanderer aus Deutschland setzen fälschlicherweise eine Lehre mit dem gesellschaftlichen Abstieg gleich.
Hätte sich Tobias Weber damals für eine Lehre entscheiden müssen, hätte sein Vater nicht auf die Matura gepocht? «Bestimmt», meint er. «Wahrscheinlich hätte ich aber danach über den zweiten Bildungsweg studiert.» Denn die Liebe zu Büchern hätte ihn wohl auch sonst ergriffen, unabhängig vom beruflichen Werdegang. Davon ist er überzeugt.
*Namen geändert
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