"Lernen und es von Zeit zu Zeit wiederholen, ist das nicht auch eine Freude"?, meinte der chinesische Philosoph Konfuzius. Bild: The Granger Collection, www.britannica.com
Schweizer Pädagoge: "Die Reformitis ist eine globale Entzündung", Der Standard, 13.1. von Lisa Nimmervoll
STANDARD: "Nicht für die Schule, für das Leben lernen wir" ist ein
geflügeltes Wort. In Senecas Original heißt es aber umgekehrt: "Wie an der
unmäßigen Sucht nach allem anderen, so leiden wir an einer unmäßigen Sucht auch
nach Gelehrsamkeit: Nicht für das Leben, sondern für die Schule lernen
wir." Sie haben rund 2.000 Jahre später ein Buch geschrieben, das just das
fordert: "Für die Schule lernen wir – Plädoyer für eine gewöhnliche
Institution". Warum sollen wir denn für die Schule lernen?
Reichenbach: Die Sucht nach Gelehrsamkeit scheint mir kein
akutes Problem zu sein. Vielmehr die Frage, wie diese Sucht gefördert werden
könnte. Sowohl das Originalzitat als auch seine zweckgebundene Verkehrung gehen
von einer gerade heute stark ausgeprägten Entgegensetzung von
"Schule" und "Leben" aus – das allein scheint vor allem
problematisch zu sein. Das sogenannte Leben hat einen sehr guten Ruf, die
sogenannte Schule weniger. Die pädagogische Forderung nach
"Lebensnähe" der Schule bleibt unkritisch bejaht. Doch von welchem
Leben wird gesprochen? Von der Alkoholsucht meines Vaters, der Depression
meiner Mutter, der Nullbockstimmung meiner Freunde, dem Humbug der Medien, die
ich stundenlang konsumiere? Für nicht wenige Kinder und Jugendliche ist die
Schule nahezu der einzig wirklich verlässliche Ort in deren Leben – oder könnte
und sollte es sein. Wer für die Schule lernt, lernt jedenfalls etwas. Und in
der Regel wesentliche Bestandteile unserer Wissenskultur. Zweifellos ist
richtig, dass man mit sicherlich 90 Prozent der Wissensgegenstände, die in der
Schule gelernt werden, im sogenannten Leben – das offenbar nur außerhalb oder
nach der Schule stattfindet – konkret rein nichts "anfangen" kann.
Bildung, so meinte Hans Blumenberg, ist kein Arsenal, sondern ein Horizont. Mit
einem Horizont können Sie nichts anfangen. Es geht bei dieser Metapher um
Einsicht in die Dinge und die Welt. Und es ist immer gut, wenn Menschen einen
"weiten Horizont" haben, die Dinge aus unterschiedlichen Perspektiven
beurteilen können, nicht nur aus jener des unmittelbaren Nutzens.
STANDARD: Zentralfigur in der Schule
ist der Lehrer, die Lehrerin. Sie werden in Wien "neokonfuzianische
Bemerkungen zum Bild des Lehrers" machen. Was lehrt uns Konfuzius denn in
diesem Zusammenhang?
Reichenbach: Im Unterschied zu Europa scheint man in
Ostasien nicht ein so negatives Verhältnis zu Traditionsbeständen zu haben,
obwohl gerade diese Nationen, vor allem China, Korea und Japan, sehr innovativ
sind und an kulturellen Fortschritt auf eine Art zu glauben scheinen, von der
man in unseren Breitengraden leider weniger merkt. Der Lehrer und die Lehrerin
– in allen Schulstufen – genießen gerade in Südkorea, das sehr konfuzianisch
geprägt ist, eine hohe gesellschaftliche Anerkennung, gerade weil die Schule
eine hohe gesellschaftliche Anerkennung erfährt und nicht als notwendiges Übel
gegen das sogenannte Leben positioniert wird. Wenn man in Südkorea sagt:
"Er redet wie ein Lehrer", dann heißt das nicht, dass diese Person
sich oberlehrerhaft benimmt, obwohl sie eigentlich nur eine universelle
Dilettantin ist, sondern dass man von ihr etwas lernen kann. Wesentliche
Strömungen des Konfuzianismus und Neokonfuzianismus können als Philosophie des
Lernens und der Bildung gelesen werden. Nur ist mir bewusst, dass die
tatsächliche Praxis und die Theorien des Lernens auch etwa in Korea zwei Paar
Schuhe sind. Das sollte einen aber nicht davon abhalten, davon zu lernen. Ich
glaube, dass wir im Neokonfuzianismus interessante Einsichten finden über die
Bedeutung der "Bildsamkeit", der Bereitschaft, sich auf etwas
einzulassen, ohne zu fragen, was es "bringt".
STANDARD: Sie haben dem Thema
"Autorität" ein Buch gewidmet. Warum ist die eher schlecht
beleumundet in der Schule von heute, die aus Lehrern "Lernbegleiter"
und aus Schülern "Lernpartner" machen möchte?
Reichenbach: Päd-Agogik meint die
Führung von Kindern und Jugendlichen. Zur Führungsmetaphorik haben wir speziell
im deutschsprachigen Bereich sicher ein ambivalentes, teilweise gestörtes
Verhältnis. Das ist auch verständlich. Doch geführt werden muss sowieso, das
weiß jeder, der je einmal vor einer Klasse gestanden ist. Die genannten
Alternativmetaphern kaschieren den Führungsaspekt, im Grunde wird die
unumgängliche Verantwortung des Pädagogen kaschiert. "Führung" wie "Begleitung"
sind Wegmetaphern, bei der ersten ist klar, wer das Ziel des Weges kennt, bei
der zweiten offenbar nicht mehr. Wenn das Kind dann am falschen Ort ankommt,
ist der Lehrer auch nicht wirklich verantwortlich, denn er hat ja bloß
Lernprozesse "begleitet". Auch wenn jemand, der sich als
"Lernbegleiter" versteht, trotzdem sehr guten Unterricht gestalten
kann. Das ist klar.
STANDARD: Was meint denn
"Autorität" in der Schule überhaupt?
Reichenbach: Der Begriff ist diffamiert.
Will man sachlich über Autorität sprechen, so ist es sinnvoll, zwischen
Autorität als Anerkennungsverhältnis, autoritärem Verhalten und der sogenannten
autoritären Persönlichkeit zu unterscheiden. Pädagogisch zu bejahen ist sicher
nur das erste Verständnis. Sich von jemanden etwas sagen zu lassen, erklären
und zeigen zu lassen, heißt, diese Person hinsichtlich dieser Sache als
Autorität anzuerkennen. Das geschieht immer wieder auch unfreiwillig, das ist
klar. Autoritäres Verhalten ist hingegen meist ein Zeichen dafür, dass diese
Anerkennung verweigert worden ist. Eine Lehrperson mag autoritäres Verhalten
zeigen, genau weil sie diese Anerkennung nicht erfährt, sei es vermeintlich
oder tatsächlich. Das ist problematisch. Nicht nur für die Schüler. Daher ist
es sträflich, Fragen der Führung und Autorität in der Lehrerbildung zu
vernachlässigen. Die "autoritäre Persönlichkeit" zeichnet sich durch
rigiden Konventionalismus und die Neigung, "Schwächere" zu
unterdrücken und sich "Stärkeren" zu unterwerfen, aus. Pädagogische Autorität
hat das Ziel, sich aufzulösen: Es gehört zur Bildung des Menschen, sich von
Autoritäten auch zu befreien. Diese Emanzipation ist konstitutiv für die
Fähigkeit, ein eigenes Leben zu führen.
STANDARD: Was lässt sich
wissenschaftlich über die "Lehrerpersönlichkeit" sagen? Oder kann es
jeder lernen?
Reichenbach: Es sollte sicher nicht
jeder und jede Lehrer oder Lehrerin werden können! Das Problem ist aber, dass
die Attraktivität des Berufes leider nicht allzu hoch ist – was sicher auch mit
der gesellschaftlichen Anerkennung zu tun hat. Wir wissen, dass die Person des
Lehrers oder der Lehrerin zentral ist, etwa für den Lernerfolg der Schüler,
aber das hat wenig oder nichts mit den "Persönlichkeitszügen" zu tun.
Es gibt sehr introvertierte und sehr extrovertierte Lehrpersonen, beide können
hervorragende oder auch weniger gute Arbeit leisten. Entscheidend ist eher,
dass sie sich als "Person" einbringen, als Lehrerin oder Lehrer. Ich
glaube, eine Lehrperson "taugt" dann pädagogisch, wenn sie vier Dinge
immer wieder zu zeigen und leisten vermag: dass sie das, was sie lehrt, für
wichtig hält; dass sie will, dass die Schüler diesen Gegenstand lernen; dass
sie auch zeigt, dass die Schüler das lernen können; und dass sie zeigt, dass
sie ihnen dabei hilft und tatsächlich hilft. Mehr kann sie nicht tun. Wenn der
Schüler merkt: Die findet wichtig, was sie sagt, sie will, dass ich es lerne,
und sie glaubt auch, dass ich es lernen kann und will mir dabei helfen, dann
ist dieser Schüler zu beneiden. Wenn er sich dann immer noch nicht auf die
Sache einlässt, dann ist das früher oder später tatsächlich allein sein
Problem. Nur, die Lehrerin darf ihn trotzdem nicht aufgeben. Darin besteht das
Ethos der Lehrperson.
STANDARD: Wo sehen Sie denn
Reformbedarf in der Schule?
Reichenbach: Zunächst müssen sich auch
Reformen kritisieren lassen. Die Kritik der Kritik ist heute notwendiger als je
zuvor. Dann glaube ich aber, dass es große Probleme gibt. Eines davon ist die
zunehmende "Verhochschulung" der Bildungs- und Ausbildungswege. So
viele junge, intelligente und motivierte Menschen sitzen über Jahre in den
Schulbänken und sehen den Sinn ihres Sitzens eigentlich wenig ein. Die
Intelligenz liegt brach, ungenutzt. Die Jungen werden nicht gebraucht. Niemand,
der ihnen sagt: "Komm, wir brauchen dich, für das Geschäft, den Hof, den
Sozialismus, die Demokratie, die Kirche, die Gerechtigkeit – wir haben Aufgaben
für dich." Alle sollen möglichst lange in ihre höchstpersönliche Zukunft
"investieren", von der zugleich gesagt wird, man wüsste nicht, wie
sie aussehen wird. Solche Sinnfreiheit ist eine echte Herausforderung. Die
Schule ist nicht der Grund für dieses Problem, und sie kann auch nicht jedes
gesellschaftliche Problem lösen. Bildungsreformen sind meist ein Ausdruck
davon, dass widersprüchliche Konstellationen der Gesamtgesellschaft
"behandelt" werden (müssen). Doch Problembehandlung heißt nicht
Problemlösung. Daher rufen Reformen, wie es Niklas Luhmann formuliert hat, vor
allem ein Bedürfnis ins Leben: den Ruf nach weiteren Reformen. Die Reformitis
ist eine globale Entzündung, die man nicht mit einfachen Therapien wegbringt.
Die Probleme wandeln sich, aber die Problemlagen werden bleiben, das ist
sicher.
Roland Reichenbach (52) ist Professor
für Erziehungswissenschaft an der Uni Zürich, davor in Basel und Münster. Seit
2012 Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Bildungsforschung.
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