5. Februar 2015

Zweifelhafte Erfahrungsnoten

Es ist die wundersame Zeit der Aufnahmeprüfungen ins Gymnasium. In Kantonen, die wie Zürich eine Aufnahmeprüfung kennen, zählt zur Gesamtnote auch die sogenannte Erfahrungsnote. Diese wird mit den Zeugnisnoten bestimmt. Was tut nun ein Lehrer, dessen Schüler ins Gymi wollen? Grosszügig werden Noten aufgerundet, damit sich die Chancen der Kandidaten erhöhen. Es handelt sich dabei um einen verbreiteten Trend, der die Notengebung wieder einmal ins Zwielicht bringt. (uk)




Dem System ausgeliefert: Notengebung, Bild: tradebit.de

Der wundersame Sprung der Noten vor der Gymiprüfung, Tages Anzeiger, 5.2. von Marius Huber



Auf den ersten Blick fragt man sich, warum die Mathenote im Zeugnis des 12-jährigen Luca* überhaupt Anlass zu Diskussionen geben sollte. Der Sechstklässler, der in einer Zürcher Agglomerationsgemeinde zur Schule geht, ist ein klarer Fall: Note 4,5 – das ist das Fazit der Gesamtbeurteilung seiner Lehrerin. Der Durchschnitt von Lucas Prüfungsnoten liegt zwar etwas höher, suggeriert aber nichts anderes. Trotzdem steht im Zeugnis, das die Lehrerin dieser Tage ausgestellt hat, bei Mathematik eine 5.
Mit übertriebenem Wohlwollen hat das nichts zu tun. Das wäre nicht ihre Art, sagt die Lehrerin. Sie sei auch nicht anfällig für Druckversuche von Eltern, die in diesen Tagen oft anrufen, um über die Zeugnisse zu diskutieren. Der Fall ist komplizierter, und er wirft ein Licht auf ungeschriebene Gesetze, die im Kanton Zürich an der Schwelle zum Gymnasium spielen – denn Lucas Eltern wollen, dass ihr sprachbegabter Sohn die Aufnahmeprüfung macht.
Ein Teufelskreis von Vermutungen
Hinter den Kulissen dreht sich ein Teufelskreis. Gymilehrer gehen davon aus, dass Primarlehrer zu gnädig benoten, und urteilen deshalb selber strenger. Primarlehrer gehen davon aus, dass Gymilehrer übermässig streng urteilen, und heben deshalb selbst die Noten an. Es ist ein System von selbsterfüllenden Prophezeiuungen, in denen das erwartete Verhalten der Gegenseite vom eigenen Verhalten erzwungen wird.
Der Hintergrund ist folgender: Wenn ein Kind im Kanton Zürich nach der 6. Klasse ans Gymnasium will, zählen seine Erfahrungsnoten in Deutsch und Mathematik gleich viel wie jene aus den Aufnahmeprüfungen. Am Schluss entscheidet der Durchschnitt, der über einer 4,5 liegen muss. Nun wissen die Eltern von Luca genau wie dessen Lehrerin, dass dieses Ziel mit einer Erfahrungsnote von 4,5 fast unerreichbar ist. Das bestätigt Harry Huwyler, der Präsident des Verbands der Zürcher Mittelstufenlehrkräfte (ZKM). Er könne sich an keinen Schüler erinnern, der den Sprung unter solchen Voraussetzungen geschafft habe. Eine 5 im Schnitt sei das Minimum.
Die einen runden auf, die anderen ab
Lucas Lehrerin fürchtet, dass sie unter Druck geriete, wenn sie hart bleiben und auf ihrer Einschätzung beharren würde. Denn die Eltern haben ein starkes Argument: Viele andere Lehrer verhalten sich in der gleichen Situation kulant und runden grosszügig auf, wenn sie einem Kind eine Gymikarriere zutrauen – auch das bestätigt Huwyler, der aber betont, dass keine reinen Fantasienoten verteilt würden.
Die Crux daran ist, dass sich die Verantwortlichen für die Aufnahmeprüfungen auf grosszügig aufgerundete Erfahrungsnoten eingestellt haben. Sie halten dagegen, indem sie die Prüfungen besonders streng bewerten und so den Notenschnitt drücken (siehe Infobox oben rechts).
«Sonst würde jeder bestehen»
«Täte man das nicht, würde jeder bestehen», sagte Hans Keller, der frühere Projektleiter für die zentralen Aufnahmeprüfungen, einmal gegenüber der NZZ. Sein Nachfolger Martin Zimmermann, Rektor an der Kantonsschule Wetzikon, sagt, dass man dabei zwei Ziele verfolge. Primär gehe es darum, aus den vielen guten Primarschülern jene herauszufiltern, die tatsächlich Chancen auf eine Hochschulkarriere haben.
Andererseits bestehe im Kanton Zürich ein politischer Wille, die Quote der Mittelschüler ungefähr konstant zu halten, die derzeit im Langgymnasium bei 13 Prozent und insgesamt bei knapp 20 Prozent liegt. Eine offizielle Weisung dazu existiert laut Zimmermann zwar nicht. Von einer Zulassungsbeschränkung will offensichtlich niemand sprechen, weil das politisch ein heisses Eisen wäre. Die bestehende Quote habe sich aber bewährt, sagt Zimmermann, die Kantonsschulen könnten ihre Maturanden mit gutem Gewissen an die Hochschulen schicken.
Das Dilemma mit den «korrekten» Noten
In diesem System geraten Lucas Lehrerin und alle anderen, die jene Noten verteilen möchten, die sie als korrekt erachten, in ein Dilemma. Sie müssen davon ausgehen, dass dieMittelschulen annehmen, ihre Zeugnisnoten seien grosszügig aufgerundet, und dass sie dies zu korrigieren versuchen. Bleibt ihnen dann etwas anderes übrig, als selbst genauso aufzurunden, wie man es von ihnen erwartet? Müssen sie das nicht tun, um zu gewährleisten, dass ihre Schüler in der Aufnahmeprüfung die gleichen Chancen haben wie jene von anderen Lehrern?
Martin Zimmermann gibt den Primarlehrerinnen und -lehrern einen Rat, der verschiedene Interpretationen zulässt: «Sie sollten jene Noten geben, die sie für korrekt halten.» Darüber hinaus verweist er genau wie Mittelschulamtschef Marc Kummer darauf, dass das System durchlässig ist – «auch wenn das für Eltern in dieser Situation nach einem schwachen Trost klingen mag». Will heissen: Schülerinnen und Schüler haben immer noch die Chance, aus der Sekundarschule ans Gymi aufzusteigen, wenn sie das Potenzial dazu haben, aber wegen einer strengen Erfahrungsnote die Prüfung nicht schafften.
Trotzdem sind Erfahrungsnoten verlässlich
Der Bildungsforscher Urs Moser weist darauf hin, dass die Erfahrungsnoten grundsätzlich besser seien als ihr Ruf. Er spricht von einer «erstaunlichen Standardisierung» der Noten am Ende der sechsten Klasse: Kinder mit guten Erfahrungsnoten schneiden meist auch in der Aufnahmeprüfung gut ab. Allerdings zeigen die Daten auch, dass jedes Vierte mit Erfahrungsnote 5 die Probezeit am Gymi nicht besteht. Wer gemäss Zeugnis gut ist, ist also oft nicht gut genug.
ZKM-Präsident Huwyler fände es hilfreich, wenn die Bildungsdirektion beide Seiten darauf hinweisen würde, dass sie faire Noten setzen sollten. Einen anderen Ausweg sieht er nicht. Zimmermann sagt, dass es das perfekte System nun mal nicht gebe. «Es gibt in der Schweiz verschiedene Aufnahmeverfahren, und jedes hat seine Graubereiche.»
Lucas Lehrerin hat ihre Konsequenzen gezogen: In Absprache mit der Schulleitung rundete sie die Note in Mathematik grosszügig auf. Sie tat es mit gemischten Gefühlen. Was soll sie antworten, wenn Lucas schulisch ebenbürtige Kollegen, die nicht an die Gymiprüfung gehen, ihre Zeugnisse vergleichen und fragen, weshalb sie anders als Luca nur eine 4,5 bekommen haben?


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