Carl Bossard war Direktor der Kantonsschule Alpenquai Luzern und Gründungsrektor der Pädagogischen Hochschule PH Zug.
Die Sprache - das bin ich! Journal 21, 3.2. von Carl Bossard
Denken
vollzieht sich sprachlich. Jeder Gedanke braucht einen Körper: die Sprache. Der
menschliche Körper muss trainiert, ihm muss Sorge getragen werden. Genau gleich
geht es der Sprache. Sie muss entwickelt und gefördert werden. Im Elternhaus,
in der Schule. Das ist eigentlich grundlegend und darum selbstverständlich,
könnte man meinen.
Schönreden
hilft nicht – handeln tut not
Doch das
Fraglose ist nicht einfach selbstverständlich. „Ich stelle fest, dass die
Deutschkompetenzen der Studierenden teilweise katastrophal sind“, konstatiert
Matthias Aebischer, Präsident der nationalrätlichen Bildungskommission und
Dozent an der Universität Bern. Was Aebischer aus erster Hand erfährt, hat
ETHZ-Rektor Lino Guzzella schon vor drei Jahren klar signalisiert: „Die Leute
müssen richtig lesen, schreiben und sprechen können. Das gilt auch für
Naturwissenschafter und Ingenieure.“ Doch die Kenntnisse seien zum Teil
ungenügend, fügte er bei (NZZaS, 29.7.2012).
Nichts
von Guzzellas Kritik wissen wollte der Präsident der Konferenz Schweizerischer
Gymnasialrektorinnen und Gymnasialrektoren KSGR, Aldo Dalla Piazza. Solche
Klagen seien alt, meinte er und ergänzte: „Ich stelle keinen Kompetenzenschwund
bei Maturanden fest.“ Reaktion durch Negation. Fakt ist: Immer mehr Studierenden
fällt es immer schwerer, einen Sachverhalt klar und konzis auf den Punkt zu
bringen. Das bringt die Evaluation der Maturitätsreform zutage (Evamar II).
Doch genau darauf käme es an: aus dem Strom der Informationen einen
Gesichtspunkt stringent herauszuschälen und kohärent darzustellen, eine
Perspektive eigenständig zu skizzieren und einen Gedanken präzis zu
formulieren. Eben: einen verdichteten, kristallinen Text kreieren.
Die
fremde Welt der formalen Sprache
Sprachliches
Können ist weder geheimnisvoll, noch fällt es vom Himmel. Sprechen und
Schreiben sind ein Handwerk, und sie wollen wie jedes Handwerk gelernt sein.
Dazu gehören nebst Selbstverständlichkeiten wie Grammatik, Orthografie und
Interpunktion auch die Klarheit der Sprache – und die Angemessenheit ihres
Gebrauchs. Sie sind intensiv zu üben und zu fördern.
Das
geschieht aber in einem kontraproduktiven Umfeld. Gratisblätter wie „20
Minuten“ markieren die Tendenz in der heutigen Lesezeit. Fast-Food-Information,
in kleinen Häppchen präsentiert und schnell konsumiert. Dass vieles so leicht
zu haben ist, zeitigt Folgen. Wer kurze Wege gewohnt ist, reagiert unwirsch auf
längere, oder anders gesagt: Die Welt der nichtalltäglichen Sprache, des
Diskurses, ist für die meisten Schüler eine fremde Welt. Jugendliche
orientieren sich an ihrer gewohnten Alltagswelt; das ist die Populärkultur mit
WhatsApp, Facebook und Instagram.
Formale
Sprache und Diskursivität werden daher als ungewohnt erlebt; neue
Sprachbarrieren bauen sich auf. Das Lesen und Sinnverstehen nichtalltäglicher
Texte wird für manche zur anstrengenden Arbeit und der Appell an
differenziertere Versprachlichung zu einer subjektiven Zumutung. Für die
Lehrerinnen und Lehrer bedeutet dieses Unbehagen der Schüler einen erheblichen
Zuwachs an Arbeit und Engagement.
Jugendliche
lassen sich „nicht zutexten“
Der
kräftige Wandel der Lebensbedingungen bewirkt eine veränderte Jugendkultur.
Soziale Medien, Kauf, Kommerz und Konsum beeinflussen das Aufwachsen. Der
Auftrag der Schule trifft auf das postmoderne Lebensgefühl. In der
schnelllebigen Jugendkultur steht das „Feeling“ über dem Wort, das „Gefühl“
über der Abstraktion, die „Atmosphäre“ vor der Ratio. An die Stelle des
Bildungshungers ist Erlebnisdurst getreten. Das erhöht den Abstand zwischen
Schule und Jugend und damit den Anspruch an den Unterricht.
Der Film
"Crazy" nach dem Bestseller-Roman von Benjamin Lebert zeigt dazu eine
schöne Szene. Die Hauptfigur, der 16-jährige Benny, weilt im Internat und
erhält von einem freundlich-bemühten Mathematiklehrer Nachhilfeunterricht. Der
Lehrer kann nicht übersehen, dass Benny mental völlig abwesend wirkt; er weilt
in seiner „Eigenwelt“. So beginnt er einen lebenspädagogischen Diskurs: Benny
müsse lernen, in wenigen Jahren für sein Leben selber verantwortlich zu sein.
Der Lehrer redet ihm zu. Als er fertig ist, schaut Benny ihn – ohne grössere
mimische Reaktion zu zeigen – an, nicht unfreundlich, nicht bewegt. Nach einer
kleinen, wortlosen Pause fragt er: „Kann ich heute eher gehen?“ Mit seinem
Lehrer lässt er sich auf keinen Gegen-Diskurs ein. Im Gegenteil: Er umgeht ihn.
Im Jugendjargon ausgedrückt: Er lässt sich "nicht zutexten".
Schule
als kulturelle Gegenwelt – Lehrer als Brückenbauer
Was viele
von der Schule darum zwingend fordern, nämlich Mut zum Antithetischen und
Gegenläufigen, nimmt Thomas Ziehe auf. Der Pädagogik-Professor aus Hannover
spricht von Überbrückungsarbeit zwischen den Schülerhorizonten und dem
Bildungsauftrag der Schule. Darin bestünde eine der wesentlichen Aufgaben
heutiger Lehrerinnen und Lehrer. Sich im Unterricht pädagogisch-didaktisch
dominant an den subjektiven Eigenwelten der Jugendlichen orientieren, das könne
nicht in die Zukunft führen – und darum dürfe die unmittelbare Relevanz des
Gelernten im Alltag nicht der alleinige Fokus sein. Im Gegenteil: Schule muss
kulturelle Gegenwelten aufzeigen und an anspruchsvollen Inhalten formale Lern-
und Denkgewohnheiten schulen. Ziehe spricht von wohldosierten Fremdheiten.
Das gilt
auch für die Sprache. Die Schule muss üben und einfordern, was manchen Schülern
äusserst schwerfällt: bei einer Textlektüre logische und argumentative
Strukturen herausarbeiten, Kernaussagen festhalten und Wichtigkeitshierarchien
rekonstruieren. Das sind Schlüsselschwierigkeiten. Gefragt ist darum
Überbrückungsarbeit zwischen der Eigenwelt der Schülerinnen und den Ansprüchen
einer kommunikativ verdichteten Gesellschaft. Der Sprache kommt ein zentraler
Rang zu – in Wort und Schrift. So ist Sprachfähigkeit nicht eine, sondern –
neben Mathematik – die Kernkompetenz schlechthin.
Diese
Primärkompetenz dürfte noch wichtiger werden; denn die Welt wird zunehmend
komplexer. Zunehmende Komplexität aber verlangt erhöhte Präzision und
Nuancierung. Wenn Berufsleute nicht mehr Deutsch können, entgleitet ihnen ein
Teil der Wirklichkeit. „Wie sollen sie die feinen Differenzen benennen, auf die
es in der Welt ankommt wie auf die feinen Gifte in den Heilmitteln, wenn ihnen
der Wortschatz fehlt, die Syntax verkümmert und schon ein Konjunktiv sie nervös
macht?“, wie der Literat Peter von Matt zu bedenken gab.
Wer in
Deutsch gut ist, lernt besser Englisch
Wie
wichtig Deutsch ist, zeigt auch eine neue Langzeitstudie der Universität Zürich
mit 200 Gymnasiastinnen und Gymnasiasten. Die Lese- und Schreibkompetenz in der
Erstsprache beeinflusst das Lernen einer Fremdsprache stark. Wer Deutsch gut
liest und schreibt, kann diesen Vorteil auf die Fremdsprachen übertragen –
unabhängig vom Zeitpunkt des Lernbeginns oder vom biologischen Alter, resümiert
die Studie. Salopp formuliert: Schlechtes Deutsch zieht imperfektes Englisch
nach sich. Wer in einer englisch dominierten Welt sprachlich mithalten will,
muss zuerst in seiner Muttersprache den Meister machen.
Und noch
etwas geht aus der Studie hervor: Der frühe Fremdsprachenunterricht zahlt sich
weniger aus, als bis anhin angenommen; kurzfristig kann er die Erstsprache auch
negativ beeinflussen.
Den
Zugang zur Muttersprache öffnen
Ein Ding
richtig können, ist mehr als Halbheiten im Hundertfachen. Der Satz geht auf
Goethe zurück; er gilt noch heute. Nicht vielerlei treiben, sondern eine Sache
intensiv und genau! – Non multa, sed multum!, heisst es bei Plinius. Darum muss
sich die Schule beschränken. Sie kann nicht alles und müsste vor allem eines
grundlegend: an Texten und Gegenständen Sprache schulen, Gelesenes in Worte und
Sätze fügen, Inhalte resümieren und sie in einen Kontext bringen, Wesentliches
artikulieren und Querbezüge formulieren.
Hier
lässt sich die Kraft zur Präzision, zur Nuance, zum Begriff trainieren; hier
lassen sich Gesichtspunkte unterscheiden, verbinden, einordnen. Je üppiger die
Datenmeere, desto wichtiger die Gesichtspunkte. Kriterien und Standpunkte sind
keinem Netzwerk zu entlocken; sie wollen im Unterricht geschult und logisch
verknüpft werden. Das ist der Zugang zur diskursiven Sprache.
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